Die Entdeckung der Ununterworfenheit
oder: Die Einsamkeit des Andersseins

Im März 2025 erschien im Agenda Verlag Münster der autofiktionale Roman „Die Entdeckung der Ununterworfenheit“ von Arnold Illhardt. Mit dem Autor habe ich ein Interview geführt. Es ist eine ungewöhnliche Konstellation, denn ich bin nicht nur Interviewerin, sondern auch die Ehefrau. Und auch mir stellte sich beim Lesen oft die Frage: Wer ist Arnold Illhardt und wer Martin Hausmann. Eine Annäherung mit kritischen Fragen.

Aus dem Klappentext:

Auf der Mittelmeerinsel Elba lässt der Psychologe Martin Hausmann sein Leben Revue passieren. Sein Dasein als Freiheitssuchender und Freigeist geriet in einem autoritär ausgerichteten Gesundheitssystem und einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft immer mehr aus dem Lot und führte zu schweren Existenzkrisen. Bei seinem Rückblick streift er die Zeit der Studentenrevolten, die er als Kind erlebte, den „Deutschen Herbst“ oder die Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten. Er reflektiert aber auch die vielen persönlichen Erlebnisse, Reisen, prägende Kontakte zu besonderen Menschen, sowie gescheiterte Beziehungen. Über allem steht für ihn die Frage: Wie wurde ich zu der Person, die ich heute bin?  Erst die außergewöhnliche und hochsinnliche Liebe zu der Künstlerin und Halb-Elbanerin Marie lässt ihn die Schönheit des Lebens als fantasievolles „Glasperlenspiel“ entdecken und den Traum von Ununterworfenheit in die Wirklichkeit umsetzen.

Die Entdeckung der Ununterworfenheit (Foto Agenda Verlag)

Einfach ist es nicht, das Buch nach der letzten gelesenen Seite aus der Hand zu legen und zur Tagesordnung überzugehen. Viele der geäußerten Gedanken erkenne ich auch als meine, obwohl sie erst sehr viel später bei mir aufgetaucht sind. Mein Mann (und somit der Autor) und ich haben bevor wir uns kannten ein komplett anderes Leben geführt. Somit haben mich früher auch ganz andere Gedanken beschäftigt als ihn. Doch fragt sich wohl jeder Mensch mit zunehmendem Alter: Wer bin ich und wie bin ich so geworden? Ich bin mir durchaus einiger Momente bewusst, in denen ich mein Schicksal hätte ändern können und dadurch mein Leben einen komplett anderen Lauf genommen hätte.

Den Untertitel dieses Interviews habe ich ganz bewusst gewählt, denn „Die Einsamkeit des Andersseins“ ist so etwas wie die Essenz des Lebens meines Mannes, die in dem kompletten Buch zu erkennen ist. Ich kenne nur wenige Menschen, die sich nicht dem Großteil im Denken und Handeln massentauglich angepasst haben und zufrieden und mit Scheuklappen versehen durchs Leben gehen. Jedoch bedeutet Anderssein leider oft für diese wenigen Unangepassten, unzufrieden und voller Bedenken zu sein, da sie sich ihrer Unterschiedlichkeit bewusst sind und an ihrem hehren Ziel oft zweifeln.

Die mir liebsten Bücher sind die, in denen ich sehr viel anmerken und unterstreichen kann. Schön ist es daher, dass der Autor mir gegenübersitzt und Rede und Antwort stehen kann. Und Fragen habe ich einige.

Marion (M): Arnold, dein Buch ist ja keine Autobiografie, sondern eher eine Autofiktion. Du bringst Elemente aus deinem Leben mit hinein, aber auch fiktionale Personen und Begebenheiten. Was war dein Beweggrund, diese Kombination zu wählen, denn einigen Leser:innen aus dem Bekanntenkreis war es offenbar wichtig, dich in dem Buch wieder zu finden. So wird es ungleich schwerer zu erkennen, ist es Martin Hausmann oder Arnold Illhardt.

Arnold (A).: Wie du schon richtig beschrieben hast, handelt es sich bei meinem Roman nicht um eine reine Autobiografie. Wen sollte das auch interessieren, wie ich gelebt habe? Mir geht es vielmehr um die Beweg- und Hintergründe, die einerseits bei einem Menschen zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen, andererseits aber auch Hürden darstellen können, ein unbeschwertes Leben führen. Dennoch sind die Gedanken, Gefühle, die inneren Kämpfe, die Probleme, aber auch die politischen und gesellschaftlichen Einstellungen Teile von mir selbst. Ich habe nur Abläufe vertauscht, ein paar Geschichten hinzuerfunden und Personen „maskiert“. Mich fragte neulich auch ein alter Bekannter, warum ich den Protagonisten Martin Hausmann genannt und nicht meinen Namen gewählt habe. Hausmann hat eine Art doppelte Schutzfunktion: Der andere Vor- und Hausname soll mich schützen und damit auch die Personen, die in den Roman vorkommen.

In meiner eigenen Zeit in verschiedenen Kliniken hatte ich Kontakt mit Personen vor allem in Leitungspositionen, die sich wie Herrenmenschen aufgeführt, Personen aus ihrem Team wie Untermenschen behandelt oder Mitarbeiter*innen degradiert haben. Dennoch möchte ich diese Personen nicht vorführen oder späte Rache an ihnen nehmen, deshalb habe ich Charaktere oder Berufszuordnungen ausgetauscht. Mir geht es vor allem darum zu verdeutlichen, welchen Einfluss das Verhalten von anderen Menschen auf das eigene Selbstbild nehmen kann. Es ist sozusagen die Verarbeitungen von Aspekten aus der Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie. Ich denke, man liest den Psychologen, der ich ja bin bzw. bis zu meinem Ruhestand war, deutlich heraus.

Du sprachst vorhin von der Einsamkeit des Andersseins, worüber ich übrigens hier auf QUERZEIT mal einen Artikel geschrieben habe (https://querzeit.org/philosophie/die-einsamkeit-des-andersseins) In dem Text habe ich es so formuliert: „Der … Zustand einer Einsamkeit des Anderseins geschieht schleichend. Erst sind es einzelne Zeichen, die Rückmeldung darüber geben, dass das eigene Verhalten nicht kompatibel mit dem Rest der Gesellschaft zu sein scheint: Menschen wenden sich von einem ab, Besuche werden weniger und in Diskussionen spürt man möglicherweise sogar barsche Zurückweisung. Die Beschäftigung mit der eigenen inneren Welt nimmt zu und es stellen sich durchaus Fragen wie: Liege ich mit meiner Anschauung oder meinem Verhalten noch richtig? Sollte ich Kursänderungen vornehmen oder bleiben wie ich bin?“ Das sind Überlegungen, die auch Martin Hausmann beschäftigen. Schlussendlich bleibt zu bewerten, ob die Einsamkeit für mich akzeptabel und damit zu einem selbst gewählten Lebensmuster wird, oder ob man darunter leidet und in eine Depression abgleitet. Ich lebe mit dieser „relativen“ Einsamkeit inzwischen sehr gut.

M: Auf Seite 55 trifft sich Martin Hausmann mit seinem Freund Davide in einer kleinen Bar in Capoliveri. Davide ist ein sehr reflektierter Mensch, politisch schon sehr libertär ausgerichtet und lebt gemeinsam mit seiner Partnerin kompromisslos den anarchistischen Weg, also ein Leben der Ordnung ohne Macht. Doch auch ihm ist das Gefühl der Einsamkeit des Andersseins bewusst und das führt bei ihm oft dazu, seinen Idealismus zu hinterfragen. Er zweifelt viel an seinem Denken und Handeln, da er immer wieder durch seine politische Tätigkeit mit Menschen in Kontakt kommt, die ihm voller Aggression und Hass begegnen. Sicherlich gibt es auch Menschen, die so wie er denken und handeln, doch es sind die wenigsten und viele fallen zurück ins Leben der Masse. An diesem Abend mit Davide ging es wieder um diese zweifelnden und wankelmütigen Menschen und er meinte im Laufe des Gesprächs zu Martin: „Sie haben Angst vor der Freiheit, sie selbst zu sein.“

Diesen Satz musst du erklären! Ich frage mich auch oft: Wer bin ich? Wenn man nicht weißt wer man ist, wieso hat man dann Angst, man selbst zu sein?

A: In meiner aktiven Zeit als Psychologe, wobei ich im Gegensatz zu Hausmann Jugendliche betreut habe, erlebte ich immer wieder junge Menschen, die an sich zweifelten und glaubten, nicht in die Welt zu passen. Nicht nur jungen Menschen wird in ihrer Erziehung, aber auch später durch gesellschaftliche Anforderungen und neuzeitlich durch Vorgaben über soziale Medien ein bestimmtes Persönlichkeitsbild vermittelt: Du musst so sein, um cool, stark, hipp und sonst wie rüberzukommen. Eine ganze Modeindustrie versucht uns so zu programmieren, dass wir in NIKE-Klamotten so und so wirken. Da nur wenige Menschen reflektiert genug sind, solche Einflüsse zu erkennen und mutig genug sind, eigene Wege zu gehen, werden „Ausreißer“ und „Unangepasste“ oder wie ich im Titel schreibe „Ununterworfene“ schnell als Verrückte oder komische Vögel gesehen. Genau das meine ich mit Angst vor der Freiheit, übrigens der Titel eines Buches von dem deutsch-US amerikanischen Psychoanalytiker, Philosophen und Sozialpsychologen Erich Fromm, den ich überaus schätze. Ja, natürlich besitzt jeder Mensch die Freiheit, er oder sie selbst zu sein, das zu tun, was man für richtig hält und vor allem so zu leben, wie es passend und richtig erscheint. Aber es schwingt stets die Angst mit, aufzufallen, anzuecken oder gar ausgegrenzt zu werden. Die Angst, anders zu sein und dieses Anderssein zu leben, durchzieht die Persönlichkeitsentwicklung unzähliger Menschen und mir zwängt sich manchmal der Eindruck auf, dass es sogar von vielen Institutionen so gewollt ist. Gewünscht ist der angepasste Mensch, nicht der Sonderling. In meiner therapeutischen Arbeit war es mir daher stets wichtig herauszustellen, welche Bereicherung die Freiheit ist, zu sein oder zu werden, was man möchte.

M.:  Auf Seite 89 schreibst du über drei existentielle Lebensstränge, die Martin entdeckt hat, die ihm aber nicht recht bewusst gewesen sind. Es muss in den 70er Jahren gewesen sein: 1. Erfahrungen und Erlerntes als erster Strang, alles was immer wieder hinterfragt und auf Richtigkeit überprüft werden musste. Das ist etwas, was jeder heranwachsende Mensch verinnerlichen sollte!

A.: Das stimmt, aber dafür ist es z. B. wichtig, eine solche Selbstreflexion zu erlernen, um die eigenen Erfahrungen und das Erlernte hinterfragen zu können. Sonst weiß ich es ja nicht.

M.:  Zweitens nennst du Träume und Visionen, von denen ich z.B. weiß, dass sie dich immer noch begleiten. Haben sich deine Träume und Visionen in ihrer Dimension verändert oder bist du diesbezüglich bescheidener geworden oder sind diese Visionen umso wichtiger geworden, wie die Menschheit sich verändert hat?

A.: Angeblich soll Helmut Schmidt gesagt haben, wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Ich habe lange nicht mehr so einen Unfug gehört, dabei war der Mann ja so dumm nicht. Hätten wir

Elba, Hafen Portoferraio (Foto A. Illhardt)
Elba, Hafen Portoferraio (Foto A. Illhardt)

Menschen keine Visionen, hätten wir keine Demokratie und Schmidt wäre nie Kanzler geworden.  Unsere Existenz und all die Dinge, die uns dabei helfen, beruhen schließlich auf Visionen. Ich finde eher, wer keine Visionen hat, sollte sein Leben mal hinterfragen, denn für mich steckt darin ein unglaublicher Wert. Und um auf deine Frage zu antworten: Ja, meine Visionen haben sich verändert, ich bin aber nicht bescheidener, sondern anspruchsvoller geworden. Nur wird der wahrgenommene Unterschied zwischen meinen Visionen und der erlebten Realität immer größer. Ich bin wahnsinnig enttäuscht von gesellschaftlichen, wie politischen Aspekten. Ich würde sogar sagen, sie machen mich krank und auf eine unvorteilhafte Weise aggressiv. Diesbezüglich ist von Altersmilde noch nicht viel zu spüren.

M.: Und drittens. Das war für Martin Hausmann der bedeutsamste Lebensstrang: Erscheinungen und Erkenntnisse. Die Erkenntnisse kann ich aus deinen Ausführungen nachvollziehen, aber was meinst du mit Erscheinungen? Und überhaupt: Kann ein junger Mann, ungefähr zwischen 14 und 16 Jahren, diese Überlegungen anstellen?

A.:  Neulich bei einem Wiedersehen mit ehemaligen Klassenkameraden meinte ein Mitschüler, er habe mich als stillen Jungen in Erinnerung. Stimmt, ich habe früher nicht viel gesagt, aber viel nachgedacht. Sicherlich habe ich keine Einteilungen, wie du sie zitierst vorgenommen (die stelle ich ja eher zurückblickend an), aber ich habe z. B. früh kritische Gedichte geschrieben, in denen ich mich mit Erkenntnissen als Jugendlicher auseinandergesetzt habe.

Was die Erscheinungen anbetrifft, so ist das kein Wunder (Wortspiel!), da ich in einem sehr frommen und katholischen Ort lebe, in dem eine Marienverehrung existiert. Da gehören Erscheinungen zum Alltag. Kleiner Spaß! Nein, ich gebrauche gerne alte Begriffe und spiele mit ihnen. Erscheinung ist so ein Wort, dass heute kaum mehr Bedeutung hat. Ich denke bei Erscheinung eher an das Auftauchen oder Sichzeigen von Aspekten, die vorher nicht sichtbar waren. Sie sind plötzlich da. Es ist also nichts Übersinnliches damit gemeint, sondern die Fähigkeit schon als junger Mensch mitzubekommen, dass etwas passiert ist, sich etwas verändert hat oder etwas Überraschendes oder bislang Unbewusstes eingetreten ist. Vielleicht sind unsere Erotik und Sexualität eine solche Erscheinung. Irgendwas rumort in einem, was man noch nicht zuordnen kann und dann haut es einen wahlweise vom Hocker oder verwirrt einen.

M.: Martin trifft als junger Mann Gundi (Seite 99), eine junge Frau, die er zusammen mit Maik ebenfalls in den 70er Jahren besucht hat: „Und was lebst du hier?“ Sie antwortet: „Ich bin Lehrerin. Kunstlehrerin… Ich brauche Zeit für mich.“ Im Weiteren formuliert sie den Satz:“ Dieses ganze Regelmäßige ist nichts für mich. Das klaut dir Energie, die dann für das Eigentliche verloren geht“. Sie meint wohl mit „das Regelmäßige“ zerstörerische Kräfte wie z.B. …Verpflichtungen, Stress, Behördenkram, Arbeit und all der ganze Mist, den sich Menschen ausgedacht haben, die zur Unlebendigkeit geboren wurden und uns zur Unfreiheit verdammen wollen.“

Hört sich erstmal für einen jungen Menschen aufregend an und so war Martin auch sehr beeindruckt von dieser Frau, die ihm sehr authentisch erschien. Auch wenn Gundi eine Bewunderin von Emma Goldmann (amerikanische Anarchistin, Friedensaktivistin und Feministin 27.06.1869 – 14.05.1940) war und ich übrigens auch, heißt es aber nicht, dass man nur als Anarchist:in frei und unabhängig sein kann! Ich kann mir vorstellen, dass sie mit „das Eigentliche“ das „gelebte Leben“ meint, jedoch bedarf es um das Leben zu organisieren, auch ein Maß an Behördenkram. Sieht man das als älterer Mensch anders?

A.: Ich brauchte mal als junger Mann – so mit 18 – einen neuen Personalausweis und ließ dafür ein Passbild anfertigen, auf dem ich nur ein Unterhemd anhatte. Ich denke, es hat später so manches Mal dazu geführt, dass ich bei Kontrollen durch die Polizei Schwierigkeiten bekam und rausgewunken wurde. Man vermutete bei mir wohl immer Rauschgift oder Waffen – wobei ich mit beidem keinen Vertrag hatte; mit Waffen schon mal gar nicht. Was ich sagen will, ich fand schon früher all dieses Behördliche und Formelle, aber auch das „Gehört-sich-so“ und „das-geht-doch-nicht“ entsetzlich blöd. Ich war ein Wildpferd und bin es geblieben. Deshalb kann ich bis heute mit Institutionen, aber auch Religionen oder einem politischen Überbau wenig bis gar nichts anfangen. Mir geht es in diesem Kapitel mit Gundi darum klarzumachen, dass es wichtig ist, sich von Zwängen, Bevormundungen, Reglementierungen oder Ideologien freizumachen. Und da wären wir wieder bei dem Thema Freiheit und der Angst davor. Als ich im Dezember letzten Jahres in den Ruhestand gegangen bin, freute ich mich auf die große Freiheit und ich fühlte mich wie ein Kind, dass aus unendlichen vielen Spielen aussuchen kann. Ich sprach aber auch mit Gleichaltrigen, die Angst vor ihrem Ruhestand hatten, weil sie damit ihr Fremdgesteuertsein aufgeben mussten.

Noch etwas zu „Gundi“. Die bereits erwachsene, junge Frau hat das Wissen nicht mit Löffeln gefressen. Das was sie sagt, ist ihre Meinung, muss aber zwangsläufig nicht verallgemeinerbar sein. Natürlich muss auch eine Anarchistin/ein Anarchist schlussendlich Behördenkram erledigen, nur setzt so eine Person vielleicht andere Prioritäten.

Im kleinen Cafe (Foto A. Illhardt)

M.:  Ich selber habe „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett nie gelesen, wahrscheinlich hätte ich das Buch als junge Frau bzw. Schülerin auch gar nicht verstanden. Martin Hausmann war als Schüler jedoch recht angetan von dem Buch und dem Gedanken des sinnlosen Wartens. Womöglich hatte er einen sehr engagierten und motivierten Deutschlehrer, denn „Warten auf Godot“ und das Thema des Wartens, auf was auch immer, war auch im privaten Bereich ein Thema, was Martin mit seinen Schulfreunden diskutiert hatte. Worauf wollen wir warten und wie lange wollen wir darauf warten, um es zu leben, etwas umzusetzen oder zu verteidigen. Martin war in dem Alter davon überzeugt, dass er, was auch immer der Inhalt seines Lebens werden sollte, nicht darauf warten wollte. Nein, es sollte hier und jetzt geschehen. Dafür hat er aber schon ziemlich lange gewartet, oder? Aber ist man nicht immer wieder von neuem davon überzeugt, dass das, was jetzt an Positivem passiert, das ist, worauf man gewartet hat?

A.: In deiner Frage stecken viele Aspekte und Gedankenstränge, aber auch zeitliche Phänomene. Zunächst mal: Ja, ich bin meinem Deutschlehrer sehr dankbar für sein unermüdliches Credo, möglichst viel zu lesen. „Warten auf Godot“ war ein typisches Deutschunterrichtsbuch, das ich vermutlich freiwillig auch nicht lesen würde. Aber damals haben wir uns gefragt und dies auch außerhalb der Schule diskutiert, für wen oder auch was Godot steht. Ich habe mich schon recht früh mit einer Vorstellung von Gesellschaft befasst, für die ich damals keinen Namen hatte. Damals las ich ein Buch über den Freistaat Christiania in Kopenhagen und war völlig angetan von der dort ganz anderen Lebensweise. Als junger Mensch war ich ungeduldig und so naiv zu glauben, dass irgendwie alles geht, wenn man es nur will. Das mag vielleicht für einen selbst gelten, aber vermutlich wird Preußen Münster eher Europameister als dass ich erleben werde, dass es in Deutschland ein anarchistisches Modell von Zusammenleben gibt. Früher habe ich im Großen gedacht, heute weiß ich, dass ich mit solchen Vorstellungen politischer oder gesellschaftlicher Art bei mir selbst anfangen muss. Einfach losleben und schauen, was passiert. An unserem Briefkasten hängt ein Schild „Botschaft von Utopia“. Das Schild ist im Grund als nette Provokation gemeint, aber es führt immer wieder zu Diskussionen vor dem Haus. Plötzlich spricht man mit Menschen – jungen, wie alten – über Utopien, über Visionen oder die Macht der Träume. Heute würde ich sagen, Godot kann mich mal, denn ich brauche für meine Ideen keinen Menschen, der mich anführt oder reglementiert. Im Rahmen von sogenannten Satzzeichen, kurze Gedanken, die ich immer mal in den sozialen Medien verbreite, habe ich mal folgenden Satz verfasst: „Ich weigere mich, Gefolgschaft zu leisten. Mir sind bisher keine Menschen begegnet, denen ich zu folgen bereit gewesen wäre. Und die wenigen, deren Größe ich anerkannte, wollten nicht, dass ich ihnen folge, sondern dass ich neben ihnen gehe.“ Da wären wir auch wieder bei der Ununterworfenheit, um die es in dem Roman vor allem geht.

M.: Bei seinem Aufenthalt in Kopenhagen fand sich Martin Hausmann zufällig in der Einkaufsmeile Strøget wieder, ihn stieß dieser hier geballte Kommerz ab. Und er versuchte sein Heil in der Flucht und bog in die nächste Seitenstraße ab. Klar, wir beide lehnen auch große Verkaufsketten ab und bevorzugen kleine individuelle inhabergeführte Läden. Aber im Grunde gibt man dem Kind damit nur einen anderen Namen. Auch wenn Martin sich fragt, ob er nicht mit seinem „Eigensinn“ zu weit gegangen ist und sich vielleicht als einen „besseren“ Menschen sieht, wird ihm klar, dass auch in ihm das Konventionelle, das Konservative steckt. Er fragt sich: „Wie verstehe ich mich selbst“ und „Wie habe ich mich konstruiert. Und genau hier wird doch eigentlich klar, dass es einem nicht immer bewusst ist, wie man sein „Selbst“ gebastelt oder konstruiert hat! Aber werden wir nicht vielleicht vielmehr von außen geformt?

A.: Bei der Auseinandersetzung mit uns selbst, taucht schnell die Annahme auf, man werde ausschließlich geformt und habe keinen eigenen Einfluss auf sein Ich. Deshalb benutzte ich in dem Roman den Ausdruck „Konstruktion“, denn unsere Persönlichkeit setzt sich wie ein Puzzle aus verschiedenen Aspekten zusammen, die ich zum Teil selbst zu verantworten habe, weil ich mich willentlich dafür entschieden habe. Aber es gibt eben auch andere Puzzlestücke, die mir von außen aufgepfropft wurden und solche, die ich ungeprüft übernommen habe. Geht man durch Einkaufspassagen – nicht nur in Kopenhagen – so werden geballtes Feuerwerk an Persönlichkeitsprothesen abgefeuert: Sei cool, sei du selbst, sei ein Teil von … . Sind wir nur noch ein ferngesteuertes Produkt, das seine Persönlichkeit aufgegeben hat, dann sind wir sicherlich nicht mehr identisch. Und deshalb halte ich es für enorm wichtig, manchmal innezuhalten, um über mich selbst nachzudenken.

Aber Konstruktion kann auch bedeuten, mir Persönlichkeitseigenschaften auszuleihen oder vielleicht sogar einzuverleiben. Ich denke, jede/r von uns hat solche Leih-Ichs, mit denen wir experimentieren. Ich hatte damals in meinem Psychologiestudium einen sehr geschätzten Professor. Oft habe ich später in meinen ersten Arbeitsjahren überlegt, wie hätte Manfred das jetzt gemacht und habe mir dann seine Art auf Leute zuzugehen ausgeliehen. Trotzdem bin ich nicht er, sondern habe mit seiner Art gespielt. Ob wir am Ende des Tages mehr von außen geformt werden, vielleicht von den Eltern, von der Schule oder unserer Umgebung, ist schwierig zu beantworten. Ich habe in meinen Therapiestunden oft das Beispiel vom Kleiderschrank genutzt. Auch hier ist es hin und wieder vonnöten, aufzuräumen und Klamotten, die einem aufgeschwätzt wurden, die man aber nie mochte, in den Rote-Kreuz-Container zu geben. Leider passiert dieses Bewusstwerden viel zu selten. Ich würde sogar so weit gehen und sagen: Wüssten die Menschen mehr über sich und ihre Beeinflussbarkeit oder auch Unterworfenheit, dann sähe die Welt besser aus.

M.: Auf der letzten Seite des Romans gibt es einen von dir geschriebenen Brief an dich selbst aus der Vergangenheit. Als ich dies las, kam mir der Gedanke: Wäre es nicht eine wichtige Aufgabe für jeden Heranwachsenden, praktisch als Lebensaufgabe, einen solchen Brief an sein „altes Ich“ zu konstruieren? Ich denke, dieser Brief ist ein Teil der Autofiktion in diesem Buch. Aber schade, ich finde diese Idee gerade sehr überzeugend!

A.: Nein, diese Passage ist keine Autofiktion. Ich habe wirklich mal eine Art Brief an mich selbst geschrieben. In früheren Tagebüchern habe ich viel von solchen Texten, die an mich gerichtet sind, Gebrauch gemacht. So habe ich mir selbst Fragen oder auch Aufgaben gestellt. In der Psychotherapie nutzt man häufig solche Techniken, mit denen man z. B. einen Brief an sein zukünftiges Ich schreibt. Tatsächlich wäre das für jeden Menschen eine spannende und möglicherweise lehrreiche Aufgabe.

Mir geht es allerdings bei dieser abschließenden Passage noch um etwas ganz anderes. Ich erlebe häufig, dass sich erwachsene Menschen über ihr früheres Ich lustig machen und bestimmte Dinge als unreif oder albern bezeichnen. Das finde ich nicht o.k., denn das, was wir früher gedacht oder gemacht haben, hat uns doch zu der Person werden lassen, die wir heute sind. Ich finde, man sollte solche Überlegungen, die man z. B. in der Jugend angestellt hat, durchaus wertschätzen. Vielmehr sollte man hier und da überlegen, was einen so weit von früheren Visionen weggeführt hat. Ursprünglich sollte der Roman mal Re:Org heißen, was ein alter Computerbegriff für das Zurückstellen auf die Grundeinstellung bedeutet. Auch bei einem PC macht es bisweilen Sinn, sich von Apps oder speicherfüllenden Programmen zu trennen. Ich denke, das kann man auch auf das Leben übertragen: Weg mit dem Schrott, den man sich mit den Jahren aufgeladen hat, der aber mehr belastet, als das er hilft.

M.: Wie du bereits vorhin erwähntest, hast du in deinen frühen Jahren viele Tagebücher geschrieben. Vor ein paar Tagen erzähltest du mir, dass du kurz überlegt hast, sie zu lesen, bevor du das Buch in Angriff genommen hast, aber dann doch davon abgesehen hast. Erst viel später hast du sie wieder hinten aus dem Schrank geholt und durchgeblättert. Du warst überrascht, wieviel du von deinem „alten“ Leben vergessen hattest. Jetzt, mit den alten/neuen Informationen im Kopf:  Würdest du eventuell an deinem Buch an der ein oder anderen Stelle etwas ändern wollen?

A.: Nein, es ist gut so wie es jetzt ist. Da wären wir ja auch wieder bei den Begriffen Autobiografie und Autofiktion. „Die Entdeckung der Ununterworfenheit“ ist eine Mischung aus beiden und so kommt es nicht auf Vollständigkeit an, sondern eher auf Stimmigkeit für die Person Hausmann im Text. Im Großen und Ganzen stimmt das, was ich in meinen Tagebüchern aufgezeichnet habe, durchaus mit dem überein, was auch in dem Roman vorkommt. Die Überraschungen, wie du es ausgedrückt hast, lagen eher im Detail. Habe ich das wirklich gemacht, gesagt oder gedacht? Übrigens fielen mir beim Lesen der Tagebücher, wobei ich gerade mal am Anfang bin, auch „Legenden“ auf, denen ich aufgesessen bin, da ich bestimmte Abläufe in meinem Leben ganz anders in Erinnerung hatte und sie im Grund völlig falsch abgespeichert habe. Ich kann nur jedem Menschen empfehlen, Tagebücher zu schreiben. Kleiner Hinweis: Gemeint ist damit nicht, jeden Tag Notizen zu machen, sondern sich dann und wann hinzusetzen und Gedanken, Erlebnisse, Gefühle usw. aufzuschreiben.

M.: Mittlerweise haben wir von einigen Freunden, Bekannten und auch aus der Familie erfahren, dass sie das Buch gelesen haben. So gab es viele Rückmeldungen zum Inhalt des Buches, aber auch zu deinem Leben bzw. zu dem von Hausmann. Hinter jedem Buch steht auch eine Absicht oder eine Message (wie man neuerdings sagt), wenn es nicht gerade ein Krimi oder ein Liebesroman ist. Hast du das Gefühl, dass die  Message angekommen ist?

A.: Kürzlich hielt ein Mann, den ich flüchtig kenne, mit seinem Rad neben mir an und bedankte sich für das Buch. Er habe sich darin total wiedergefunden und jede Menge Anregungen auf Fragen bekommen, die er sich schon lange gestellt hat. Ich empfand das als tolles Lob. Genau das war ja meine Absicht: Die Menschen nicht nur durch den Prozess des Lesens zu unterhalten, sondern sie nachdenklich zu machen. Ich persönlich kann mit Krimis und Thriller überhaupt nichts anfangen – sie langweilen mich entsetzlich. Zudem gibt es Krimis und Thriller schon genug in der Tagesschau. So wie du vorhin von Dir erzählt hast, brauche ich Bücher, in denen ich etwas unterstreichen kann. Von einer anderen Person – etwa in meinem Alter bekam ich die Rückmeldung, dass er viele Parallelen bei Hausmann wiedergefunden habe, die auch seine Persönlichkeitsentwicklung betrafen. Ich selbst empfinde es ganz oft als wohltuend in Büchern Parallelen zu meinem Leben zu finden. Noch einmal zu dem Untertitel dieses Interviews „die Einsamkeit des Andersseins“: Dieses Gefühl, anders und deswegen einsam zu sein, spielt zeit meines Lebens eine große Rolle. Aber manchmal muss man sich auch eingestehen, dass es vielleicht auch nur eine Einbildung ist. Lese ich dann in einem Buch, dass es auch andere Sonderlinge gibt, die dem Mainstream nicht entsprechen oder auch nicht entsprechen wollen, kann das eine sehr unterstützende Wirkung haben.

M.: Noch eine letzte Frage: Wie kamst du auf den ziemlich sonderbaren Titel deines Romans?

Autor Arnold Illhardt (Foto Marion Illhardt)
Autor Arnold Illhardt (Foto Marion Illhardt)

A.: Als ich mein Buch in den sozialen Medien angekündigt habe, schrieb ein Bekannter, dass er den Titel sperrig fände, während ein anderer kommentierte, dass ihn das Wort „Ununterworfenheit“ neugierig gemacht habe. Vor Jahren waren wir Zwei auf dem wunderschönen Nordfriedhof in München. Dort entdeckte ich ein Graffiti mit dem alten Spontispruch „Die Schönheit des Lebens liegt im Grad der eigenen Ununterworfenheit“. Der Satz hat mich sofort fasziniert, da er mit 10 Worten mein Lebenskonzept wiedergab. Ununterworfenheit ist ein Begriff, den kein Mensch gebraucht und ich bezweifle, dass er überhaupt mal größere Bedeutung hatte. Gib das Wort mal bei google ein, da kommt keine Erklärung. Ok, aufgrund meiner Algorithmen bekomme ich jetzt mein eigenes Buch angezeigt. Ich liebe solche Begriffe. Die deutsche Sprache ist leider manchmal auch etwas einfallslos. Es gibt Menschen, die lieben ihren Fußballverein, das gleiche Wort soll aber auch die Beziehung zur Frau oder zum Mann umschreiben. Wir bräuchten viel mehr Begriffe für Liebe.

Obschon ja aktuell lange Büchertitel in sind (z. B. „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster sprang und verschwand“), fand der Agenda Verlag meine Idee, den kompletten Graffitisatz als Titel zu nehmen, etwas ungünstig. Bei einem Gassigang mit dem Hund fiel mir der aktuelle Titel ein und du und ich haben dann ja später etwas damit rumexperimentiert. Ich würde mich natürlich freuen, wenn ich damit die Neugierde möglichst vieler potentieller Leser wecken könnte.