Bei den vielen Spielarten der Einsamkeit gibt es einen Zustand, in den man aufgrund der eigenen Andersartigkeit gelangen kann. Der Eindruck, nicht kompatibel mit dem Rest der Gesellschaft zu sein, kann zunächst zum Rückzug führen, später zu einem schmerzlichen Gefühl: Einsam in einer Welt von anderen zu sein.
Alleinsein und Einsamkeit
Die deutsche Sprache, die zwar meistenteils recht wortgewaltig, aber hin und wieder auch ein wenig einfallslos daher dümpelt, wenn es darum geht, verschiedene Schattierungen einer Angelegenheit darzustellen, hat ausnahmsweise mal eine ganze Palette von Begriffen parat, wenn es um das Alleinsein geht: Allein, solo, abgeschieden, selbst, sich selbst überlassen, eigenständig, mutterseelenallein, zurückgezogen, verlassen, isoliert, kontaktlos, einsam oder vereinsamt. Während es durchaus von Vorteil und sogar effektiv sein kann, gelegentlich allein zu sein, weil man sich selbst genug ist, ist die Einsamkeit kein erstrebenswerter Zustand. Der Aphoristiker Alfred Polgar fand dafür den treffenden Satz:
“Wenn dich alles verlassen hat, kommt das Alleinsein. Wenn du alles verlassen hast, kommt die Einsamkeit.”
Das Thema Einsamkeit, das eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlich vorhandenen sozialen Beziehungen eines Menschen umschreibt, spielt vor allem in der Psychotherapie eine große Rolle. In der Hochphase der Corona-Pandemie gehörte dieses existentielle Mischgefühl, dass sich aus Färbungen u.a. wie Traurigkeit, Angst, Hilflosigkeit, Schmerz und Enttäuschung speist, zu den negativen Auswirkungen der Quarantäne und den zeitweise stattgefundenen Ausgangsverboten. Plötzlich brachen wichtige Kontakte weg und es wurde vielen Menschen bewusst, welche Bedeutung die Familienmitglieder, Freunde, Mitschüler, Kollegen oder auch nur die zufälligen Begegnungen beim Einkaufen im Supermarkt haben. Einsamkeit lässt sich somit als Verlustempfinden umschreiben. Jürgen Margraf, den ich selbst in meiner Studentenzeit als Professor für Psychologie erlebte, beschreibt die Wichtigkeit von Kontakten folgendermaßen:
„Wir sind soziale Wesen. Als Menschen haben wir uns historisch in kleinen Verbänden entwickelt mit einigen Dutzend Individuen. Dieses Umfeld ist für uns überlebensrelevant gewesen, evolutionär sind wir keine Einzelgänger. Wir brauchen diese Kontakte. Menschen, die isoliert sind, fühlen sich schnell abgeschnitten und einsam und damit auch ängstlich und depressiv.“ (1)
Der Zustand der Einsamkeit befindet sich oftmals am Ende eines zumeist nicht willentlich gewählten Vorgangs und kann z.B. das Ergebnis einer depressiven Phase oder Angststörung sein. Das bedeutet, in der Regel entscheidet man sich nicht für die Einsamkeit, wie das bei dem Alleinsein der Fall sein kann, sondern ein Mensch schliddert in diese soziale Leere hinein. Dabei scheint es eine altersspezifische Auffälligkeit zu geben:
„Keine Altersgruppe fühlt sich so einsam wie die 18- bis 29-Jährigen. Und während seit den 1970er-Jahren das Einsamkeitsgefühl in den meisten Altersgruppen leicht abnimmt, steigt es hier langsam, aber kontinuierlich an.“ (2)
Vom leisen und lauten Sonderling
Doch nicht immer ist eine psychische Störung dafür verantwortlich, sondern Einsamkeit kann auch das Ergebnis eines sozial, allmählich zersetzenden Vorgangs sein. In meiner Funktion als klinischer Psychologe im Jugendbereich stoße ich immer wieder auf einen sehr speziellen Prozess, den ich die Einsamkeit des Andersseins nenne. Ganz oft findet man diesen seelischen Zustand bei jungen Menschen, die sich aufgrund ihrer Art, ihrer Lebensführung, ihrer Interessen, ihres speziellen Aussehens oder gesellschaftskritischen Denkens deutlich von der breiten Masse unterscheiden. Zumeist fällt diese Andersartigkeit schon den Eltern auf, die ihre Kinder immer wieder auffordern, doch wie die andern zu sein und sich anzupassen. Früher gab es dafür den Begriff des Sonderlings, worunter ein seltsamer, weltfremder, menschenscheuer, eigen- oder starrsinniger Mensch verstanden wurde. In einer Definition für Sonderlinge findet man die interessante Umschreibung: Ein Sonderling ist ein „…Mensch, der durch sein von der Norm abweichendes, sonderbares, merkwürdiges Wesen und Verhalten auffällt und sich oft von der Gesellschaft isoliert.“ (3)
Das Interessante in dieser Definition, die – wie ich finde – ein dysfunktionales Denkmuster wiedergibt, ist die Tatsache, dass dem „komischen Kauz“ oder der „Eigenbrötlerin“ negative Attribute (sonderbar, merkwürdig, auffällig) zugeschrieben werden, die schlussendlich nur dadurch entstanden sind, das große Teile der Gesellschaft nicht bereit oder in der Lage sind, eine derartige Andersartigkeit zu akzeptieren. Wer ist also hier andersartig? Und oft genug begegnete mir, dass Menschen der andersartigen Person auch das Attribut „abartig“ zuschrieben.
Dabei gibt es den – ich nenne ihn mal – lauten und leisen Sonderling. Der „laute“ Sonderling ist im Kultur- und Kunstbereich häufig anzutreffen. Bei diesen Personen handelt es sich um bunte oder schrille Erscheinungen, die aber aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer spezifischen Kunst- oder Musikszene in ihrer Andersartigkeit akzeptiert werden. So wurde ich mal Zeuge einer Unterhaltung in einer Kneipe, als man beim Betreten eines ortsbekannten Künstlers sich zuraunte: Das ist ein bunter Vogel, aber ein netter!“ Im Gegensatz dazu gelten die leisen Sonderlinge als verschroben und Außenseiter. Das Erleben dieser Andersartigkeit verursacht bei dem Empfänger zunächst einmal Unsicherheit oder gar Angst, da man keine inneren Landkarten (Konstrukte) besitzt, die dieses nicht bekannte Verhalten oder Aussehen erklären. Denkt man diesen Gedanken weiter, so ist vielleicht nicht der Sonderling merkwürdig, sondern die Menschen, die sich willentlich oder auch unwillentlich dem eindimensionalen Denken unterworfen haben oder durch geschickte Beeinflussung dorthin geraten sind: Normal ist nur das, was bekannt ist oder offiziell als ok deklariert wurde. Die Akzeptanz des Andersseins ist Teil einer offenen Gesellschaft und diese wiederum kein automatisch funktionierendes Gebilde.
Eine abträgliche Lösung für ein drohendes Vereinsamen als Andersartiger ist das Aufgeben. Betrachte ich die Entwicklung von mir nahestehenden Menschen bzw. solchen, die mir bewusst begegnet sind, über einen – sagen wir – jahrzehntelangen Verlauf, so beobachte ich häufig eine Verkrümmung lang gehegter Eigenschaften als Sonderling in Richtung Anpassung und Unterwerfung. Spätestens beim Klassentreffen wird vielfach bewusst: Was ist aus all den Spontis nur geworden? Eine drohende Einsamkeit oder Ohnmacht wurde dadurch überwunden, dass man in der Außenwelt aufgeht. (4) Ich bin dann zwar nicht mehr Ich selbst, aber dafür gesellschaftlich akzeptiert. Doch – wie fühlt sich das an und vor allem: wie authentisch?
Akzeptanz des Anderseins
Ein Beispiel von zahlreichen: Vor einigen Monaten lernte ich eine jugendliche Patientin kennen, die mir durch ihre ausgeprägte Intelligenz auffiel und sich in ihrer Freizeit mit der Lektüre von philosophischer Literatur beschäftigte. Deswegen war sie überwiegend zuhause oder im Freien lesend anzutreffen. Zudem mischte sie bei Friday-For-Future mit und setzte sich für feministische Fragen ein. Außerdem nähte sie sich ihre Klamotten selbst oder kaufte sie im Second-Hand-Laden. Sie wurde von ihren Eltern bei jeder Gelegenheit darauf hingewiesen, dass dies kein altersadäquates Verhalten sei. Allerdings hinterfragten die Eltern nie, ob ihre Tochter damit glücklich war, was sie mir versicherte. So kämpfte sie ständig gegen das Gefühl, nicht richtig zu sein und ihren Eltern Sorgen zu bereiten. In der Schule wandten sich Freunde von ihr ab und im Klassenverband wurde abwertend über sie gelästert, weil sie sich weder für Jungs, noch für angesagte Klamotten interessierte und ohne Trinkgelage oder exzessive Partys auskam. An diesem Beispiel wird das Phänomen der Einsamkeit des Anderssein recht gut deutlich. Da der Rest der Klasse so wie alle lebten und auch aussahen, wurde die Klassenkameradin, die diesen Mustern nicht entsprach und als nichtkonform erlebt wurde, als verschroben oder seltsam, jedenfalls als nicht der vermeintlichen Normalität entsprechend, ausgegrenzt. Die von mir betreute Patientin beschrieb diesen Zustand mit den Worten „ich fühle mich im Klassenverband einsam und wünschte mir Menschen, die mich so akzeptieren, wie ich bin.“ Betrachtet man die Häufigkeit dieser ausgeschlossenen Sonderlinge, so scheint es sich dabei nicht um ein Problem der Andersartigen zu handeln, sondern um ein gewaltiges gesellschaftliches Problem: Alles was anders und damit nicht erklärbar oder nicht nachvollziehbar ist, wird an den Rand gedrängt.
Ich würde zwei Formen der Einsamkeit unterscheiden. Die erste Form ist ein Zustand, der – wie oben beschrieben – sukzessive auftritt und eher mit Isolation zu beschreiben ist. Eine solche Isolation erfolgt aktiv und häufig schleichend durch das soziale Umfeld. Es handelt sich dabei also nicht um ein Gefühl, sondern um einen beobachtbaren Vorgang. Die zweite Form ist eine selbst konstruierte und später gefühlte Einsamkeit. Weil ich immer wieder erlebe, dass ich mit der Welt um mich herum nicht konform bin, andere Interessen, Einstellungen oder auch ein Aussehen habe, fühle ich mich einsam oder nicht-passend. Hier lässt sich oftmals das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung (self-fulfilling prophecy) erkennen, womit eine Vorhersage gemeint ist, die z.B. erlebte Konsequenzen meines Verhaltens als real wahrnimmt, obschon sich ein Irrtum dahinter verbirgt. Wenn ich also davon ausgehen, dass mich keiner mag, weil ich anders bin, so ist es gut möglich, dass dies irgendwann der Fall sein wird, weil ich mich nicht nur anders verhalte, sondern auch jede Reaktion der Außenwelt als abweisend oder ausgrenzend interpretiere.
Die Einsamkeit des Andersseins
Der hier beschriebene Zustand einer Einsamkeit des Anderseins geschieht schleichend. Erst sind es einzelne Zeichen, die Rückmeldung darüber geben, dass das eigene Verhalten nicht kompatibel mit dem Rest der Gesellschaft zu sein scheint: Menschen wenden sich von einem ab, Besuche werden weniger und in Diskussionen spürt man möglicherweise sogar barsche Zurückweisung. Die Beschäftigung mit der eigenen inneren Welt nimmt zu und es stellen sich durchaus Fragen wie: Liege ich mit meiner Anschauung oder meinem Verhalten noch richtig? Sollte ich Kursänderungen vornehmen oder bleiben wie ich bin? Bleibt man in der selbst gewählten Spur des Andersseins kündigt sich alsbald Rückzug als Selbstantwort an. Um unangenehme Interaktionsreaktionen zu vermeiden, kommt es zu einer Art „inneren Emigration“ (H.M. Enzenberger) – das Leben in einer eigenen Welt, die immer weniger Berührungspunkte zum äußeren Drumherum aufweist. Vielleicht entdeckt man per Zufall, dass Kneipentreffs plötzlich ohne einen stattfinden, weil man ausgeschlossen wurde. Vor allem bei Jugendlichen findet oftmals ein Auswandern in eine fiktive Welt (z.B. Mangas, Cosplay usw.) statt, da diese eine komfortableren Aufenthalt für die eigene Andersartigkeit bietet. Erst viel später kann dieser Weg in dem Gefühl einer Einsamkeit enden, was Erich Fromm als das Allerschmerzlichste bezeichnet. Begleitet wird dieser Zustand durch ständige (Selbst-)Zweifel, z.T. unbegründete Traurigkeit, somatische Beschwerden und Ängste. Doch sollte stets die Frage gestellt werden: Wie einsam ist man wirklich als Andersartiger?
Ein „Selbstversuch“
Erfahrungen und Einsichten haben mich zu einem Zeitgenossen werden lassen, der überaus kritisch bis ablehnend so mancher gesellschaftlichen (begreift man dies als eine übergeordnete Einheit) Entwicklung gegenübersteht. Da gibt es bei mir durchaus profanen Nonkonformismus, mit dem ich mich von vorherrschenden Ansichten, Etiketten oder Lebensstilen abgesetzt habe. Allein dass ich keinen Fernseher besitze, Vegetarier bin und die Haare als älterer Mann lang trage, scheint für viele Grund genug zu sein, mich merkwürdig zu finden. Mir blieben das Augenverdrehen bei meinen Interaktionspartnern, sowie dumme Bemerkungen natürlich nicht verborgen. Weit über solche nonkonformistischen Attitüden hinaus scheinen jedoch politische oder gesellschaftskritische Denk- und Verhaltensweisen, die ich mir mit der Zeit angeeignet habe, bei meiner sozialen Umwelt für Kopfschütteln zu sorgen. Da wären beispielsweise zu nennen: Die Ablehnung von irrationaler Autorität, ja Machtbestrebungen ganz allgemein, eine antikapitalistische Einstellung, vor allem dann, wenn sich das geldvermehrende Bestreben über den Menschen als zentrales Wesen erhebt, das Hinterfragen von politischen, religiösen und gesellschaftlichen „Unstrukturen“, die Gleichschaltung und Infantilisierung der Kultur, eine halbwegs nachhaltige Lebensweise oder die Verweigerung von Beeinflussung oder gar ideologischem Eindringen durch Medien oder allgemeine Modeströmungen. Diese Denkstrukturen, Vorstellungen und Visionen führten bei mir dauerhaft dazu, mich immer weiter vom Mainstream zu entfernen. Irgendwann konnte ich die fröhliche Unreflektiertheit, die stoische Gedankenlosigkeit, die impertinente Ichbezogenheit, die allseits verbreitete Scheiß-egal-Haltung und das grassierende Konsum- und Habgierverhalten meiner Umgebung nicht mehr ertragen. Sie führten mich immer weiter weg von aller gesellschaftlicher Einhelligkeit und dem allgemeingültigem Einvernehmen. Ich machte mir keine Freunde unter all den Ja-Sagern, Konformisten und Drüberwegsehern. Erste Personen grüßten mich nicht mehr, andere reduzierten den Kontakt oder brachen ihn ab. Dann setzt sie ein, klammheimlich und unangemeldet: Die Einsamkeit des Unabhängigen, Nonkonformisten und Selbstdenkers. Manchmal dachte ich ans Aufgeben oder Anpassen, ans Mitmachen und Zustimmen. Warum bemühe ich mich eigentlich um ein Anders, ein Besser oder ein Humaner? Doch dann musste ich ans Joggen denken: als unsportlicher Anfänger hängt einem die Zunge aus dem Hals und die Beine sind weich wie Pudding. Also: Durchhalten oder wie Günther Anders es sagt: Moralische Streckübungen tun gut – denn Haltung fällt nicht vom Himmel!
Die Bewusstseinsindustrie lässt grüßen
Dass eine solche Ausgrenzungskultur von Sonderlingen bzw. Andersartigen en vogue ist, lässt sich allerorts beobachten. Eine ganze Modeindustrie gibt Millionen dafür aus, die Menschen zu NIKE-isieren; wer nicht NIKE trägt, ist uncool. Und uncool steht vor allem in der jungen Generation interessanterweise für langweilig, nicht in der Zeit und lächerlich – also anders. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger spricht von einer Bewusstseins-Industrie. Darunter versteht er die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen in demokratischen Gesellschaften, um unsere Meinungen, unseren Geschmack, unsere Gedanken zu beeinflussen und zu formen.
Eine mir schon seit vielen Jahren bekannte 13jährige Patientin berichtete mir in einem Gespräch, dass sie keine Markenklamotten mehr tragen würde. Auf meine Frage, warum das so erzählenswert sei, erhielt ich die Antwort, sie wolle nicht NIKE sein, sondern sie selbst. Doch seitdem sie sich anders kleide, würde sie Spott und Hohn ernten. Man grenze sie aus und bezeichne sie als Lumpenmädchen. Neulich sah ich ein wie auch immer gemeintes Kurzvideo, in dem sich der Fahrer eines Sportwagens über einen Mann im Anzug öffentlich amüsierte, der in einen Kleinstwagen stieg. Die Anzahl der belustigten Links zeigte: Die Botschaft ist angekommen; äußere und damit oberflächliche Attribute sind wichtig.
Einsamkeit als Chance
Der Einsamkeit des Andersseins etwas Positives abgewinnen zu wollen, klingt nach einem lösungsorientierten Ansatz, wie er in der Psychotherapie gerne zum Einsatz kommt. Wenn alles schlecht ist, gibt es vielleicht doch ein Schimmer Positives? Mir fallen zwei mögliche Chancen ein, diese Form der Einsamkeit in einen anderen Rahmen zu setzen. Oder wie es im Psychojargon heißt: zu reframen. Zum einen birgt dieser Zustand die Möglichkeit, die Abgeschiedenheit von der Gesellschaft als bewusstseinserweiternde Einsiedelei zu begreifen. So befand Friedrich Nietzsche:
„Der höchste Grad von Individualität wird erreicht, wenn jemand in der höchsten Anarchie sein Reich gründet als Einsiedler.“
Durch eine Zurückgezogenheit vom gesellschaftlichen Trubel ist es mir möglich, zum einen den Blick für und auf mich selbst zu schärfen, zum anderen nehme ich eine Beobachterposition ein, die ich z.B. als Künstler, Schriftsteller, Philosoph oder einfach als wahrnehmender Mensch nutzen kann. Das Außenvorsein schafft eine gewisse Neutralität; vielleicht ist man als Außenseiter mehr mittendrin als diejenigen, die sich als solches wähnen.
Eine weitere Chance liegt in dem Prozess der Resilienz, worunter man u.a. versteht, dass man aus einer veränderten oder gar problematischen Situation gestärkt hervorgehen kann. So wie ein chronisch kranker Mensch die Stärke entwickeln kann, durch seine gesundheitlichen Einbußen mehr auf die Kleinigkeiten des Lebens zu achten und das Glück nicht im Großen zu suchen, kann auch der einsame Andersartige aus seiner Situation lernen. Dabei geht es nicht darum, dass Anpassung und damit das Ablegen der Andersartigkeit das Resultat darstellt, sondern vielmehr der Versuch, vom leisen zum lauten Sonderling zu werden. Es ist allerdings ein mühseliger Lernprozess: Ihr müsst mich so nehmen wie ich bin, denn anders bekommt ihr mich nicht. Hier geht es um das Selbstverständnis, die Andersartigkeit als gesellschaftlich notwendiges Puzzlestück zu präsentieren. Und es ist die Selbstüberzeugung: Ohne Andersartige würde die Gesellschaft traurig überm Zaun hängen, denn einfaches Dazugehören ist auf Dauer weder kreativ, noch produktiv.
Eine Gemeinschaft von Andersartigen – eine Gesellschaftsutopie
Die Einsamkeit des Anderseins ist ein vielschichtiges Thema und zugegeben ein Nischenthema, aber von enormer gesellschaftlicher Bedeutung. Es kann nicht sein, dass Menschen, die nicht der Norm entsprechen, ausgegrenzt, verlacht oder zum Spielball von öffentlichem Amüsement (Facebook, Instagram und YouTube leben davon!) werden. Und jeder sollte sich vielleicht einmal selbst die Frage stellen – und das gilt natürlich auch für mich: Warum fällt es offenbar so schwer, Andersartigkeit zu akzeptieren? Habe ich mich so eindimensional entwickelt, dass ich sie ablehne oder habe ich mich von NIKE und den Medien so infiltrieren lassen, dass ich zum kleinkarierten Schmalspurdenker geworden bin? Und vielleicht ist dieser Gedankengang auch für diejenigen, die sich einsam in einer Welt von Angepassten, Klonen und Gleichgeschalteten wähnen, interessant: Ist die Einsamkeit nicht vielleicht ein guter Weg, um mit anderen Einsamen eine Welt der Andersartigkeit zu schaffen? Vor unserem Haus hängt ein Schild mit der Aufschrift „Botschaft von Utopia“, was tagtäglich kritisch, amüsiert, aber auch nachdenklich beäugt wird. Genau das ist mit der Botschaft von Utopia gemeint: Es gilt eine Welt zu schaffen, in der Eintönigkeit, Uniformität, Verschlossenheit und Ausgrenzung überwunden werden. Eine Welt, in der Andersartigkeit Grundlage für GEMEINschaft ist, das wäre eine schöne Utopie!
- Soziale Isolation durch Corona: „Wir sind keine Einzelgänger.“ Interview mit Jürgen Margraf. tagesschau.de. 19. März 202
- https://www.deutschlandfunkkultur.de/einsamkeit-bei-jungen-menschen-100.html
- https://www.dwds.de/wb/Sonderling
- In Anlehnung an Erich Fromm in „Furcht vor der Freiheit“