Es ist ein deutscher Volkssport, Grund und Schuld beim Misslingen einer Krise wie z.B. der Corona-Pandemie außerhalb sich selbst zu suchen. Doch kann es nicht sein, dass es einfach daran liegt, dass wir Bürger zu blöd, unmündig und träge sind, um Krisen eine positive Wendung zu geben?
Szenarien
A
Ein beschwingter Tag. Ich betrete frühmorgens die Klinik, in der ich arbeite und grüße freundlich in die Runde. Ein Patient schaut mich an, zeigt auf sein Gesicht und sagt kurz und knapp: Maske! Letztere hatte ich zwar umhängen, aber entgegen meiner sonstigen Gepflogenheiten nicht über Mund und Nase. Ich bedanke mich, der Patient lächelt mit den Augen und ich ärgere mich einen Moment ob meiner Gedankenlosigkeit. Insgesamt Alltag in unserer Klinik: Man achtet aufeinander, bleibt mit passendem Abstand stehen, wenn jemand vorbei möchte, sagt sich gegenseitig Hallo und selbst unsere kleinen und jungen Patienten verhalten sich vorbildlich. Regelmäßig gibt es Fortbildungen, es wird getestet, geimpft und Mitarbeiter und Patienten werden stets über neuste Entwicklungen informiert. Diejenigen, die wirklich Ahnung von Immunologie haben (das hier schwerpunktmäßig behandelte Rheuma ist eine Autoimmunerkrankung) geben in beruhigender Weise die Richtung vor und der Rest hält sich dran. Maskengegner und Verschwörungsfantasten sind mir bisher nicht begegnet. Fazit: Zwar gab es auch hier infizierte Patienten und Mitarbeiter, aber im Vergleich zum Rest des Landkreises haben wir erstaunlich gute Inzidenzwerte. Doch das Wichtigste: Man zeigt eine hohe Achtsamkeit für das Miteinander.
B
In den Zeiten der Corona-Pandemie musste ich häufig an ein sozialpsychologisches Experiment denken, das als Robbers Cave Experiment in die Geschichte der Psychologie und damit in die Konfliktforschung einging. Der Sozialpsychologe Muzafer Sherif, damals Professor für Psychologie an der Universität von Oklahoma, und seinem Team ging es um die Frage, wie gemeinsame Herausforderungen sowie übergeordnete Ziele auf Gruppen wirken. Dazu verbrachten zwei Jugendgruppen getrennt voneinander eine Zeit in einem Ferienlager, wo sie von den Versuchsleitern systematisch durch Aktivitäten wie Spiele oder Wettkämpfe in ein Gegeneinander versetzt wurden, woraus mehr und mehr ein feindseliger, aggressiv aufgeladener Intergruppenkonflikt, ja sogar eine Feindschaft entstand. Später wurden Aufgaben gestellt, bei denen die verfeindeten Gruppen zusammenarbeiten mussten, da nur durch Gemeinsamkeit eine Lösung erreicht werden konnte. Dies führte schlussendlich zumindest auf einigen Ebenen zu einer Art Zusammengehörigkeitsgefühl, so dass z.B. die beiden Gruppen gemeinsam den Heimweg antreten konnten, was während des Zeltlagers undenkbar gewesen wäre.
Beiden Beispielen ist gemein, dass sie in einem begrenzten sozialen Umfeld – in diesem Fall in einer Klinik bzw. einem Ferienlager – stattfanden. Eine Verallgemeinerung auf eine breite Gesellschaft oder eine Nation bietet sich daher nur eingeschränkt an. Seit über einem Jahr existiert die Möglichkeit, das soziale Miteinander einer ganzen Gesellschaft in einem unfreiwillig angelegten Experiment zu beobachten. Das Ergebnis ist erschütternd!
Zwischenmenschlichkeit in modernen Zeiten
In der Psychologie (und nicht nur dort) spielen zwei Spielarten der Intelligenz eine wesentliche Rolle: die emotionale und soziale Intelligenz oder Kompetenz. Beide sind als Ergänzung oder Erweiterung des klassischen Begriffs der kognitiven Intelligenz zu sehen. Unter emotionaler Intelligenz versteht man die Gabe, eigene Emotionen zu kennen und wahrzunehmen, sie beeinflussen und seinem Verhalten anpassen zu können, aber auch Empathie = Einfühlungsvermögen im Umgang mit anderen zu zeigen und damit fremde Gefühle und Bedürfnisse deuten zu können. Unter sozialer Kompetenz bzw. sozialen Kompetenzen versteht man „einen Komplex von Fähigkeiten, die dazu dienen, dem Individuum die Möglichkeit zu geben, in Kommunikations- und Interaktionssituationen, entsprechend den Bedürfnissen der Beteiligten Realitätskontrolle zu übernehmen.“ (1) Zusammengeführt befähigen diese Intelligenzbereiche einen Menschen bzw. sollten ihn befähigen, sich selbst als Teil einer Gesellschaft wahrnehmen, sich in andere, vor allem benachteiligte Personen hineindenken und Rücksicht auf Schwächere nehmen zu können. Nach dem gestaltpsychologischen Prinzip, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, ist ein gesellschaftliches Miteinander schlussendlich das Gesamt aller individuell verschiedenen kognitiven, sozialen und emotionalen Begabungen.
Eine offene Gesellschaft könnte auftretende Krisen wie z.B. die aktuelle Corona-Pandemie meistern, indem es einen starken Zusammenhalt gibt, die verschiedenen Kompetenzen gebündelt werden und man für eine gewisse Zeit egoistische Motive zurückstellt, um sich auf ein Ergebnis = Überwindung der Krise zu einigen. Doch genau das ist komplett in die Hose gegangen. Der Grund: Statt einer offenen und sozialen Gesellschaft existiert in diesem Land ein riesengroßer eigensüchtiger, infantiler, unkooperativer und wenig zusammengehöriger Haufen von Menschen. Die Bemühungen weniger werden vor allem durch die Gegenaktivitäten von Ignoranten und Egozentriker zerstört. Dass es in der Szene der Coronaverleugner, Verschwörungsanhänger und Impfgegner so viel Rechtsnationale gibt, ist kein Wunder: Rechtes Denken geht immer auch mit einer gehörigen emotionalen und sozialen Inkompetenz einher, die man zum Teil auch – analysiert man Kommentare in den sozialen Netzwerken – als Emotions- und Sozialkretinismus bezeichnen muss.
Ein breit gefächerter Blick in gesellschaftliche Bereiche im Großen, wie Kleinen bringt zum Teil desaströse Ergebnisse zu Tage – auch unabhängig von einer Pandemie. Zwischenmenschlichkeit oder prosoziale Interaktionen waren und sind hier in Deutschland – so lange ich das mit über 60 Jahren beobachten konnte – immer eher in homöopathischer Dosis vorhanden gewesen. Die Realität erinnert oftmals an einen drittklassigen Horrorstreifen mit schlechtgedrehten Filmsequenzen, in denen es vor allem um schädigendes Verhalten geht. Die Langzeitbeobachtung erlaubt mir zudem die Aussage, dass sich diesbezüglich wenig geändert bzw. sich die Situation sogar verschlimmert hat. Die sozialen, aber auch sonstigen Medien befeuern den Negativcharakter menschlicher Wechselbeziehung. Es ist vielmehr eine aus dem Ruder gelaufene Schlammschlacht zwischen Kulturen, Geschlechtern, sexuellen Präferenzen, politischen Einstellungen oder allgemeinen Neigungen entstanden. Eine halbe Stunde Autobahnfahrt und man spürt das interaktionelle Desaster, dass die Bezeichnung Homo sapiens – zur Erinnerung: sapiens bedeutet einsichtig, vernünftig – mehr als in Frage stellt.
Meine Negativsicht auf das Thema Menschsein oder vielmehr Menschlichsein im 21. Jahrhundert wird oftmals als überzogen kritisiert. Doch neben all den öffentlich bekannten und eigentlich nicht übersehbaren Schlagzeilen des Weltgeschehens im Großen, in denen das Sozialmassaker in Form von psychischer und/oder physischer Gewalt, Rücksichtslosigkeit, kriegerischen Auseinandersetzungen mehr als deutlich wird, werde ich täglich mit den kleinen, aber für den einzelnen Menschen existentiellen Problemen mit seinen sozialen Interaktionspartnern konfrontiert. Als Kinder- und Jugendpsychotherapeut erlebe ich unentwegt junge Menschen, deren seelisches Leiden aus einer gewaltbereiten, asozialen, gleichgültigen oder feindseligen Beziehung zu Gleichaltrigen oder Erwachsenen resultiert. So drängt sich immer mehr und ausdruckstärker der Verdacht auf, dass diese moderne Gesellschaft (die damalige war vermutlich auch nicht besser) nicht in der Lage ist, in einer verantwortungsbewussten Weise miteinander umzugehen. Im Zusammenhang mit der Klimaproblematik fand ich die passende Überschrift „Sind wir einfach zu doof, um die Erde zu retten?“ Dieser Satz ließe sich prima auf das Gesellschaftliche ummünzen, wobei ich die Frage gleich in eine Antwort ummünzen würde: Ja, wir sind zu doof, ein verantwortungsbewusstes gesellschaftliches Miteinander zu entwickeln.
Würde man die seit über einem Jahr grassierende Corona-Pandemie als ein großes Gesellschaftsexperiment betrachten, so ließe sich zusammenfassen, dass wir ebenfalls zu doof sind, diese zugegeben riesige Aufgabe zusammen zu meistern. Da gibt es auf der einen Seite den zum Glück überwiegenden Teil der Menschen, die durch Zurückhaltung, Kommunikationseinschränkungen und Einhaltung von Hygieneregeln versuchen, eine Ausbreitung einzudämmen, sowie den nicht unerheblichen Teil der Nicht-MITbürger, der die Erkrankung negiert, die politischen Vorgaben durch haarsträubende und zum Teil psychopathologisch anmutende Argumentationsstränge als autoritative Versuche (Einführung einer Diktatur, Übernahme von Macht durch übermenschliche Strukturen etc.) brandmarkt oder schlicht und ergreifend Vorgaben ignoriert. Eine Studie im Rahmen der Querdenker-Demonstration im vergangenen Herbst erbrachte ein erschütterndes und zugleich erzürnendes Ergebnis: „Der Studie zufolge hätten zwischen 16.000 und 21.000 Corona-Infektionen verhindert werden können, wenn die Kundgebungen abgesagt worden wären. „Eine mobile Minderheit, die sich nicht an geltende Hygieneregeln hält, kann so ein erhebliches Risiko für andere Personen darstellen“, sagte ZEW-Wissenschaftler und Studienverfasser Martin Lange.“ (1)
Kritik an dem politischen Pandemie-Management ist durchaus berechtigt, denn mal abgesehen von den Korruptionsvorwürfen (auch abgeschwächt als Masken-Affäre benannt) und monetären Bereicherungen auch im pharmazeutischen Bereich, sind die Ergebnisse parteipolitischer Empfehlungen widersprüchlich, wenig lösungsorientiert und intransparent. Also – könnte man sagen – wie immer! Dass sich zudem Vertreter der unterschiedlichen Parteien vor die Mikrofone stellen, um die jeweiligen Entscheidungen der anderen schlechtzureden, erscheint mir – ebenfalls wie immer – lediglich der eigenen Profilneurose bzw. Parteiwerbung dienlich zu sein. Es dient aber vor allem einem Aspekt nicht: Der Eindämmung der Pandemie und somit der „Sache“, um die es dabei geht.
Für ein Scheitern des Sozialexperiments Corona sehe ich zwei Gründe und damit bei beiden nicht die „große Politik“ als Hauptschuldigen, was nicht bedeutet, dass ihr keine Beteiligung am Versagen zukommt. Es ist zum einen die asoziale und durchaus zunehmende Gesellschaftstendenz zu benennen, aber auch eine politische Verantwortungslosigkeit und Nicht-Teilhabe des einzelnen.
Eine asoziale Gesellschaftstendenz
Stellvertretend für die Anti-Gemeinsam-Fraktion steht für mich ein Satz, der ausgerechnet von einem Arzt geäußert wurde, der an einer der Quer- bzw. Nichtdenker-Demonstrationen teilnahm und von einem Fernsehsender interviewt wurde. Für ihn gäbe es keine Pandemie, denn er habe schließlich ein Immunsystem. Ein guter Beweis, dass ein Studium der Medizin nicht zwingend auch mit Intelligenz zu tun haben muss. Wenigstens hatte er aus dem Medizinstudium behalten, dass es ein Abwehrsystem gibt, jedoch offensichtlich blendete er willentlich aus, dass ein nicht zu unterschätzender Teil der Bevölkerung dies eben nicht im ausreichenden Maße besitzt. Allerdings haben Verlaufsbeobachtungen von mit Corona infizierten Patienten ergeben, dass die Erkrankung auch komplett gesunde Menschen auf schwerste Weise mit eklatanten Nachwirkungen befallen kann. Solche Informationen werden übrigens von Leugnern als Panikmache und als unwahr verunglimpft. Asoziales Verhalten kann somit auch das willentliche Ausblenden von Tatsachen sein, womit sich die jeweilige Person trotz mangelnden Wissens über z.B. wissenschaftlich fundierte Fakten stellt.
So wie dieser Arzt haben sich Zehntausende Menschen verhalten und es sind nicht nur die Jungen, denen jegliche Achtsamkeit für den Nächsten und Schwachen abhandengekommen ist. Mir berichten jedoch immer wieder Jugendliche, dass sich große Gruppen von Gleichaltrigen in ihren jeweiligen Wohnorten gegen jegliche Verordnungen im Geheimen treffen und dieses Handeln offenbar als eine Art verbotenes Spiel mit großem Einfallsreichtum betreiben.
Ich denke und stimme diesbezüglich mit vielen ernstzunehmenden Virologen überein, dass eine Pandemie frühzeitig um ein Wesentliches hätte eingedämmt werden können, wenn die breite Gesellschaft für kurze Zeit zur Selbstbeherrschung, Verantwortungsübernahme und umfassende Sozialkompetenz bereit gewesen wäre. Doch große Massen eines infantilisierten Erwachsenensystems waren eben nicht in der Lage, über den Schatten ihres Scheiß-egal-Denkens zu springen. Und das ist nicht nur ein Corona-Phänomen, sondern ein schon seit vielen Jahrzehnten zu beobachtendes Verhalten größtmöglicher Asozialität. Wäre es nicht schade um das kleine und wichtige Körperteil, könnte man diese Tendenz auch als Arschloch-Syndrom bezeichnen. Man muss sich nicht über eine in großen Teilen gleichgültige Gesellschaft wundern, so lange Fernsehsendungen mit hoher Einschaltquote geschaut werden, in denen es ausschließlich um Aspekte wie Public-Mobbing oder das Rausekeln von Personen geht (z.B. DSDS). Mir sind leider selbst Personen bekannt, die großen Spaß daran empfinden, wenn komplett untalentierte Sänger oder Sängerinnen vor laufender Kamera als Idioten dargestellt werden. O-Ton von Dieter Bohlen: „Du siehst aus, als wäre in deinem Gesicht ein Tier verendet!” Man muss sich auch nicht wundern, dass es solchen Sozialanalphabeten völlig egal ist, wenn Alte, chronische kranke Menschen oder auch vermeintlich Gesunde an den Folgen einer schweren Corona-Erkrankung sterben. Allerdings wundere ich mich auch, dass es nicht längst Live-Übertragungen von sterbenden Covid-Patienten aus den Intensivstationen gibt; solche Sendungen ständen in der Beliebtheitsskala sicher ganz oben und Millionen würden sabbernd bei Chips und Cola zuschauen, wie Menschen verenden. Zudem wäre es um Längen realistischer als das dämliche Rumgeballere bei menschenverachtenden, digitalen Kriegsspielen
Und über allem schwebt der Klagegesang der Wirtschaft und ihrer politischen Speichellecker, dass für den Schutz von ein paar Wenigen Lockdowns eingesetzt werden, die den Kapitalismus und das Wachstum ausbremsen. Entsprechend interessant ist auch die Reaktion der Politik, die starke Wirtschaftsflügel subventioniert, während es bei den eigentlichen Machern wie z.B. Mitarbeitern in Pflege und Medizin bei effekthascherischen Unterstützungsankündigungen bleibt. Auch von den Verantwortlichen in der Wirtschaft wünschte man sich Solidarität, doch was will man von einem entmenschlichten System erwarten: Der Mensch ist hier nichts weiter als austauschbares Humankapital und die vermeintlich durch Corona Gefährdeten sind eh wirtschaftlich nicht verwertbar.
Wenn die vereinigte Rechte in Deutschland von „einig Vaterland“ schwadroniert und das Urdeutsche als oberstes Prinzip preist, dann scheint sie auszublenden, dass es ein „einig“ nicht gibt und das Urdeutsche offenbar eher Egoismus, Ellenbogendenken und Engstirnigkeit beinhaltet. Damit lässt sich kein Sozialstaat machen!
Politische Verantwortungslosigkeit des einzelnen
„Politik ist die Gesamtheit aller Aktivitäten zur Vorbereitung und Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher und/oder am Gemeinwohl orientierter und der ganzen Gesellschaft zugutekommender Entscheidungen.“ (3) Diese Definition des Politikwissenschaftlers Thomas Meyer trifft eine Annäherung an den Begriff Politik am ehesten. Ein Nachsinnen über bestimmte Elemente dieses Satzes lassen einen mehr als nachdenklich werden: Wo spielen „Gesamtheit“, „gesamtgesellschaftlich“, „verbindlich“ oder „Gemeinwohl“ in der gängigen Parteipolitik noch eine Rolle? Es ist für fast alle Beteiligten des Systems Deutschlands zur unantastbaren Normalität geworden, dass wir uns in einer repräsentativen Demokratie befinden, was bedeutet: Alle Entscheidungen werden von Vertretern, die eben unterschiedlichen Parteien angehören, getroffen, die von den Bürgern gewählt worden sind. So weit, so schlecht, denn was selten bis nie bedacht wird, ist die Frage, warum das so ist. Die Demokratie ist neben der modernen Anarchie ein politisches Gesellschaftssystem, das von den Beteiligten ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein, Beteiligung und Handlungsbewusstsein fordert. Doch genau diese Bausteine einer basisdemokratischen Denkweise haben wir geopfert, um uns tagtäglich über die gewählten Vertreter zu ärgern, die eben nicht mehr am Gemeinwohl orientiert sind und der ganzen Gesellschaft zugutekommende Entscheidungen fällen, sondern ihre Beschlüsse und ihr Handeln eher mit wirtschaftlichen Interessen, eigenen Profilneurosen und Machtansprüchen, sowie Beliebtheitsquoten abgleichen. In Deutschland und anderswo werden schwerwiegende Entscheidungen zum Teil durch einzelne oder wenige Politiker gefällt, die sich zwar durchaus beraten lassen, aber selbst von der Materie herzlich wenig verstehen. Ein Gesundheitsminister hat nicht automatisch und auch nicht langfristig Ahnung von medizinischen Vorgängen einer Virus-Pandemie und die Ministerpräsidenten der Bundesländer haben – wie es die Realität zeigt – kaum bis keine Kenntnis von Krisenmanagement. Wozu auch: Sie sind es gewohnt, Probleme zu verwalten und nicht zu lösen.
Als Bewohner dieses Landes habe ich allerdings den Anspruch, dass die Corona-Pandemie nicht von einer parteipolitischen Laienspielschar bewältigt wird, sondern ausschließlich von einer Expertenkommission bestehend aus Wissenschaftlern der unterschiedlichen Disziplinen. Von der profilierten Virologin Isabella Eckerle wurde harrsche Kritik an politische Mandatsträger gerichtet. Ihr scheine es, dass die Eindämmung der Pandemie nie das Ziel war. Manche Politiker wollten nur die Verantwortung vermeiden. (4) Aus der Trump-Ära wissen wir, dass er Wissenschaftler entließ, die zu sehr von seiner desaströsen Meinung zum Pandemie-Management abwichen. Dieser Trumpismus existiert auch in Deutschland!
Doch sehe ich die Schuld für Versäumnisse und damit für einen unzufrieden stellenden Infektionsverlauf nicht bei den Politikern allein, sondern bei uns allen. Da der überwiegende Teil der Bundesbürger unmündig ist oder – wie es auch Erich Fromm ausdrückte – Furcht vor der Freiheit und damit auch vor der Verantwortungsübernahme hat, lässt er sich komplett alles aus der Hand nehmen und ist letztendlich zu tumb, das politische Leben mitzugestalten. Ein von mir recht geschätzter Grünen-Politiker, mit dem ich mich über meinen Wunsch von ausschließlich basisdemokratischen Prozessen unterhielt, setzte meinem Ansinnen entgegen, dass dies zu aufwendig sei und aufgrund der Halbbildung und Unerfahrenheit des „normalen“ Bürgers keine guten Ergebnisse bringen würde. Dass aber einer Gesellschaft diese Fähigkeit fehlt, weil sie vornherein nicht mitbedacht wurde, blendete er beflissentlich aus.
Politik braucht mehr Experimentiergeist, befanden fortschrittliche Politiker und riefen einen Bürgerrat ins Leben, eine kleine Gruppe von 154 Deutschen per Los ausgewählt, die die die große Politik beraten sollte. (5) Ein guter Anfang, doch warum ist nur die Rede von „beraten“ und nicht „entscheiden“? Warum gibt es nicht lauter Bürgerräte oder Expertenräte? Warum wird die schulische Bildungspolitik nicht ausschließlich von Lehrern, Eltern, Schülern, Pädagogen, Lernpsychologen etc. bestimmt? Und warum – wie bereits oben erwähnt – wird das Pandemiemanagement nicht AUSSCHLIESSLICH durch einen Krisenstab organisiert, in dem Experten aus z.B. Medizin, Krisenmanagement, Forschung, Pharmazie, Ethik und Soziologie, nebst Bürgern und Vertretern aus Kultur und Wirtschaft sitzen? Weil wir unsere komplette Kompetenz abgegeben haben und uns schalten, walten und reglementieren lassen, anstatt selbst Verantwortung zu übernehmen. Als vermeintlicher Querdenker auf der Straße rumzumäkeln, psychiatrisch bedenklichen Verschwörungsunfug zu verbreiten und sich von rechten Denkvermeidern vor den Karren spannen zu lassen, stellt für mich keine politische und schon gar nicht konstruktive Leistung dar. Ich denke, die Pandemie mit all ihrem politischen Missmanagement hat gezeigt: Es geht hier nicht um CDU, GRÜNE, AFD oder sonstige Schattierungen, denn was hat die Parteipolitik mit dem Virus zu tun?. Vielmehr geht es darum, dass Bürger endlich wieder lernen, politische Verantwortung zu übernehmen. Ich erlebe in den unterschiedlichen politischen Systemen, dass es selten um die Sache, sondern meistens bis immer um parteiaffine Interessen geht. Das Modell Parteipolitik hat sich bisher wenig bewährt, warum gibt man nicht Räten und Foren eine größere Chance?
„Wir müssen also neue Beteiligungsprozesse schaffen und uns die Macht wieder zurückholen….Das Parlament ist einfach nicht mehr der Ort, wo der Wille des Volkes bestimmt wird…Die Parteien sind zu Firmen geworden, die ihre Slogans nur noch auf Plakaten ankündigen, aber nicht mehr mit dem Volk reden.“ (Juan Carlos Monedero)(6)
Lernen wir also aus der Pandemie!
Quellen
(1) https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/soziale-kompetenzen
(2) Studie zur Virus-Ausbreitung: Mehr Infektionen durch „Querdenken“-Demos | tagesschau.de
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Politik
(4) https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/id_89778822/virologin-eckerle-rechnet-mit-politikern-ab-eindaemmung-war-nie-ziel-.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
(5) Bürgerrat: Die Losbürger | ZEIT ONLINE
(6) „Wir brauchen eine Revolution des Gemeinsinns“ in Philosophisches Magazin Juni/Juli 2015