Hat uns der deutsche Föderalismus, das Handeln der Bundesländer, bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie in Deutschland Vorteile gebracht? Ich denke nicht. Die Bundesländer als föderales Korrektiv haben das Versagen der Berliner Regierung angesichts der Pandemie nicht verhindert oder zumindest abgemildert. Im Gegenteil, sie sind Teil des Versagens und aktiv daran beteiligt. Genug Anlass, über Sinn und Unsinn von Bundesländern nachzudenken und eine neue Politik.
Die Bundesländer sind in der Pandemiebekämpfung Teil des Problems
Wie steht es in einer Pandemie um spezifische Interessen von Menschen, die in verschiedenen Bundesländern leben?
Sind die Interessen der Menschen in Nord-, Süd-, Ost- und Westdeutschland verschieden, wenn es darum geht, Leben und Gesundheit, bürgerliche Freiheiten, stabiles Einkommen zu schützen?
Man wird sicher zugestehen, dass es – vor allem zu Beginn der Pandemie vor über einem Jahr – für Politiker schwer war zu entscheiden, welche Maßnahmen zur Eindämmung der Virusinfektionen erforderlich, geeignet und angemessen waren, ob man z. B. Methoden der Pandemiebekämpfung in Schweden, den Niederlanden, Taiwan oder Südkorea folgen soll oder nicht.
Inzwischen jedoch wissen wir, dass es unentschuldbar war, die Zeit des letzten Sommers vor der sog. zweiten Welle durch weitgehendes Nichtstun zu vergeuden, dass es die vielen Toten in den Alten- und Pflegeheimen nicht gegeben hätte,
wenn man frühzeitig jeden und jede Eintretende getestet hätte, dass es vor allem an Personal, aber auch an Schutzartikeln fehlt und fehlte, dass die Bedingungen sowohl für einen Präsenz- wie für einen Distanzunterricht an den Schulen immer noch fehlen, dass die Kumpanei mit ‘der Wirtschaft’ seit Beginn der Pandemie dazu führte, dass Unternehmer weder zur Einführung des sog. Home Office verpflichtet wurden, noch zu Corona-Tests am Arbeitsplatz, usw., usf.
Auch wenn die Bundesregierung für viele dieser schweren Fehler Verantwortung trägt, hätten die Bundesländer in ihrem Bereich gegensteuern und anders handeln können. Sie haben es nicht getan. Nun ist es aber nicht so, dass die Bundesländer gar nicht gehandelt hätten. Unter weitestgehender Ausschaltung öffentlicher Debatten und der Bundes- und Länderparlamente einigen sich die Ministerpräsident*innen seit über einem Jahr in Konferenzen hinter verschlossenen Türen mit der Bundesregierung darüber,
welche Maßnahmen zu treffen seien – aber gleich nach Ende der Absprachen führen sie oft andere Regeln ein als sie es den gemeinsamen Beschlüssen gemäß zu tun versprachen. Deshalb wissen heute viele Menschen nicht einmal mehr, welche Regel gerade gilt, warum diese und keine andere, warum geändert wurde was bisher galt, und warum hier und nicht jenseits der benachbarten Landesgrenze. Haben die sog. „Landesväter und -mütter“ noch nicht davon gehört, dass die Menschen Regeln verstehen und unterstützen müssen, wenn man die Zahl der Virusinfektionen unter Kontrolle bringen will? Ich will mich hier nicht noch mit vielen, teils widersprüchlichen, teils absurden Regeln aufhalten, die von Landesregierungen eingeführt wurden. Beispiele dafür waren und sind in den Medien zuhauf zu finden.
Natürlich, wissenschaftliche Erkenntnisse über den Charakter des Virus und den Umgang mit ihm können immer wieder neue, angepasste Maßnahmen erfordern. Änderungen wären dann – gut kommuniziert – notwendig und nachvollziehbar. Es ist aber nicht zu erkennen, dass die sich ständig ändernden und von Land zu Land unterschiedlichen Regeln in erster Linie wissenschaftliche Gründe haben. Stattdessen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Entscheidungen der Bundesländer nicht immer davon bestimmt werden, wie die Bevölkerung auf beste Weise vor dem Virus geschützt werden kann, sondern auch von persönlichen und parteitaktischen Interessen im Hinblick auf kommende Landtagswahlen oder von der ehrgeizigen Selbstdarstellung von Männern, die unbedingt Kanzlerkandidat ihrer Partei werden wollen. Zu diesem Zweck sprechen sie gerne auch mal von der Notwenigkeit eines strengen Lockdowns, auch wenn sie gestern noch Lockerungen für richtig hielten.
Das alles hat mit Sinn und Zweck bundestaatlicher Organisation eines Staatswesens nichts zu tun.
Nun liest man gelegentlich davon, dass es doch von Nutzen sei, in verschiedenen Bundesländern unterschiedliche Coronaregeln zu testen, wenn es bisher keine wissenschaftliche Sicherheit geben könne, welche Maßnahme die tauglichste sei. Schön, aber erstens gibt es einige sichere Erkenntnisse, z. B. dass enge Kontakte zwischen Menschen die Virusübertragung fördern, dass die Personalausstattung in Krankenhäusern, Altenheimen, Gesundheitsämtern von allergrößter Bedeutung ist, dass schnelles, allgemeines Testen die Verbreitung des Virus aufhält, usw. Die Unterschiedlichkeit der Regeln in den Bundesländern scheinen sich aber nicht unbedingt an diesem Wissen zu orientieren. Zweitens, dort wo es Sinn macht, unterschiedliche Regeln auf ihre Tauglichkeit zu testen, spricht alles dafür, dies nicht in der Fläche von Bayern oder Nordrhein-Westfalen zu tun, sondern vielmehr in Kommunen und kleinen Regionen.
Mit einem Wort, die deutsche Bundesstaatlichkeit hat sich für die Bevölkerung, die die Show schließlich bezahlt, auf dem Hintergrund der Pandemie jedenfalls bisher alles andere als nützlich erwiesen. Im Gegenteil, Zweifel sind angebracht.
Die Bundesländer stehen einem sinnvollen deutschen Schulsystem im Weg
Und wenn wir schon beim Zweifeln sind: Der unsägliche Flickenteppich der deutschen Bildungslandschaft, die sich immer wieder ändernde, geradezu undurchschaubare Organisation des Schulwesens in den Bundesländern ließe sich als weiteres Argument gegen den Föderalismus anführen. Ich kenne niemanden, der davon überzeugt ist, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland unbedingt Ausbildungsgänge und -abschlüsse brauchen, die von Land zu Land verschieden sind. Ich kenne aber manche, die meinen, dass die deutsche Schullandschaft eine Spielwiese ist, auf der 16 Kultusministerien zum Schaden von Kindern, Eltern und Lehrer*innen ihre teure Daseinsberechtigung beweisen wollen.
Wozu dient Föderalismus
Nun sollte ich aber, um Missverständnisse zu vermeiden, vielleicht endlich betonen, dass ich ein überzeugter Anhänger föderaler staatlicher Strukturen bin. Und zwar aus zwei Gründen:
Erstens gilt es um der Freiheitsrechte der Bürger*innen willen zu verhindern, dass sich allzu viel Macht bei staatlichen Zentralregierungen ballt.
Dies gilt besonders für die Macht bewaffneter Staatsorgane, von Polizei, Geheimdiensten, Justiz und einer kaum zu kontrollierenden Administration. Denn Staaten treten ihren jeweiligen Gesellschaften und Staatsangehörigen potentiell immer als Gegner gegenüber. Deutsche Kaiserzeiten, Nazi-Diktatur und DDR-Staatssozialismus sollten uns Erinnerung genug sein. Wenn wir uns im Heute umschauen, lässt sich für die Mehrheit der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen das Wort „potentiell“ getrost streichen. In weiten Teilen der Welt sitzt der Staat wie eine Zecke auf der Gesellschaft und saugt ihr das Blut aus, auch in formalen Demokratien, die in Wahrheit korrupte Kleptokratien sind. Mit einem Wort, beim Thema Föderalismus geht es (auch) um Teilung und Kontrolle von Macht.
Zweitens ist nur ein föderaler Staat geeignet, ethnische Unterschiede von Bevölkerungsgruppen angemessen zu repräsentieren, verschiedene Kulturen, Sprachen, Religionen innerhalb eines Staates abzubilden und so zu schützen, dass Identitäten, das „Wir-Gefühl“ seiner Bürger*innen, nicht kollidieren mit einem friedlichen und fruchtbaren Zusammenleben mit anderen Gemeinschaften in einem Staat mit gemeinsamen Außengrenzen.
Erfüllt die föderale Struktur Deutschlands ihren Zweck?
Wie steht es nun in Deutschland mit der Anwendung dieser beiden Kriterien? Trotz gewisser Mentalitätsunterschiede zwischen Brandenburgern, Bayern, Sachsen oder Westfalen würde wohl heute niemand mehr von ausgeprägten, geschweige denn von ethnischen Identitätsunterschieden, verschiedenen Kulturen und Sprachen sprechen, für die Bundesländer gebraucht würden, um sie zu schützen. Im Gegenteil, im Falle Bayerns z. B. kann man durchaus auf die Idee kommen, dass irgendwann eine Werbeagentur beauftragt wurde, das ehemalige „Mia san mia“ der österreichischen k.-u.-k. Armee wieder auszugraben, weil die gezielte Betonung von Anders-Sein den Partikularinteressen regionaler Politiker dient und eine bestimmte Partei beatmet. Deutschland ist ein vorwiegend urban geprägtes Land und nicht nur in München, Hamburg und Berlin, sondern in den Städten und Städtchen aller Bundesländer mischen sich seit Jahrzehnten Einheimische mit Zugezogenen aus allen deutschen Regionen und fremden Ländern. Nur noch unter kleinen Minderheiten prägt die Religion den Alltag und die Lebensweise, und die Zahl derjenigen, die keiner Konfession angehören, ist deutlich höher als die von Katholiken, Protestanten, Muslimen, Juden oder Andersgläubigen. Braucht es also 16 „Kultusminister“, um 16 nicht mehr vorhandene, verschiedene Kulturen in Deutschland zu schützen und zu bewahren? Von einer solchen Funktion werden die Bürger der Bundesländer vermutlich noch nichts bemerkt haben. Bei den Kultusministerien der Länder geht es eigentlich um etwas anderes, nämlich darum, Unterschiede in der Bildungspolitik zu kultivieren (siehe oben).
Wie steht es aber um die große Bedeutung des Föderalismus bei der Verhinderung gefährlicher Konzentration von Macht (die in Staaten mit unterschiedlichen ethnischen, kulturellen, religiösen Gemeinschaften doppelt wichtig ist)? Aus der Erfahrung der Nazi-Diktatur resultierte nach dem Zweiten Weltkrieg die Notwendigkeit, die Macht des Staates zu beschneiden und zu kontrollieren, die den Staatsbürger*innen gefährlich werden kann. In den drei westlichen Besatzungszonen führte dies zur Planung von Bundesländern, deren Existenz nach wie vor durch das Grundgesetz der BRD gesichert ist.
Heute allerdings reden Politiker eigentlich nicht mehr über die Gefahr von staatlicher Machtkonzentration, sondern sie verlangen im Gegenteil, dass – natürlich „um der Sicherheit der Bürger willen“ – die Rechte von Polizei und Geheimdiensten und ihre Datenbanken unbedingt weiter ausgebaut und vernetzt werden müssen. Neben den Polizeien, Landeskriminal- und Verfassungsschutzämtern der Länder wurde bereits 1950 der Bundesverfassungsschutz und 1951 das Bundeskriminalamt gegründet.
Dem Innenminister in Berlin untersteht neben diesen beiden Machtorganen seit 2005 auch eine Bundespolizei (ehem. Bundesgrenzschutz).
Immerhin, der Bund kann viele Gesetze nicht einseitig beschließen. Der Bundesrat als eine Art zweiter Kammer des Parlaments, in dem zwar nicht direkt gewählte Abgeordnete aus den Landesparlamenten sitzen, sondern nur Vertreter der Landesregierungen, hat bei vielen Gesetzesvorhaben ein Mitspracherecht, was eine direkte Machtausübung durch den Bund zumindest begrenzt und erschwert. Diese Wirkung wird aber dadurch gemindert, dass die parteipolitischen Interessen derselben, die im Bundestag und den Landtagen den Ton angeben, sich oft als das eigentlich durchsetzungsmächtige Motiv für Entscheidungen der Länderkammer erweisen.
Es gibt Alternativen
Die gewaltigen Kosten, die wir uns mit 16 Bundesländern, Regierungen, Parlamenten, Verwaltungen, Strukturen und Prozessen leisten, sollten keine Rolle spielen, wenn sie denn den grundlegenden Bedürfnissen demokratischer Sicherheit und ihren Staatsbürger*innen dienen. In der gegenwärtigen Corona-Pandemie allerdings hat sich die deutsche Verfasstheit als Bundesstaat – im Ganzen betrachtet – weder als notwendig noch als hilfreich erwiesen. Prägende ethnische, kulturelle, sprachliche, religiöse Besonderheiten innerhalb der deutschen Bevölkerung der Gegenwart erfordern keine Abbildung durch verschiedene Bundesländer. Die Unterschiedlichkeit der deutschen Bildungssysteme, die ihren Grund haben in der ‘Kleinstaaterei’ der Bundesländer und dem Geltungsdrang von Kultusministerien, schaden den Interessen des Landes und seiner jungen Generation. Die Einhegung zentraler Machtpotentiale durch föderale Dezentralisierung mag manchen Menschen als unnötig erscheinen, da uns durch die Garantie grundlegender Bürgerrechte, freier Presse und unabhängiger Justiz in Deutschland von dieser Seite keine Gefahr zu drohen scheint.
Wie schnell sich dies jedoch ändern kann, demonstrieren uns formal demokratische Länder wie Ungarn unter Orban, Polen unter der PIS-Regierung, die USA unter der Präsidentschaft eines Trump, Brasilien unter Bolsonaro oder die Türkei unter Erdogan.
Die föderale Struktur Deutschlands, wie sich sich seit ihrer Gründung entwickelt hat und wie sie heute funktioniert, scheint mir jedenfalls in keiner Weise Sicherheit zu gewähren angesichts der Rechtsradikalen innerhalb und außerhalb unserer Parlamente, die heute bereits wieder mit den Füßen scharren.
Die in erheblichen Teilen uneffektiven und in anderen Teilen nutzlosen Bundesländer lassen sich aber ersetzen durch bessere und demokratischere Strukturen.
Weder bin ich Verfassungsrechtler, noch habe ich die Absicht zu versuchen, hier so etwas wie einen kompletten Gesellschaftsentwurf zu präsentieren. Aber ein paar m. E. unverzichtbare Bestandteile eines besseren und demokratischeren Zusammenlebens lassen sich doch benennen.
Entscheidungsprozesse jeder Art müssen soweit wie irgend möglich dezentralisiert werden, einerseits um Machtkonzentrationen entgegenzuwirken, andererseits um Transparenz und Information sicherzustellen, und schließlich um so vielen Menschen wie möglich die praktische Mitwirkung zu erlauben. Für Entscheidungen, die größere räumliche Gebiete betreffen, seien es Regionen oder der Staat, wird es nötig sein, Vertreter*innen zu wählen. Damit muss das unverzichtbare Recht der Bürger*innen verbunden sein, diese wieder abzuwählen, wenn sie nicht tun, wozu sie gewählt wurden. Es ist unerträglich, dass wir Bürger*innen dem Treiben z. B. eines Andreas Scheuer, korrupter Abgeordneter, dem Lobby-Einfluss auf Gesetze oder der Verschwendung in Ministerien machtlos zusehen müssen.
Zunächst spielt sich das Leben der Menschen dort ab, wo sie leben und arbeiten, wo ihre Kinder zur Schule gehen, in den Städten, Kommunen und Kreisen. Dort haben sie die Chance, Wahlkandidat*innen persönlich zu kennen und sich an sie wenden. Vor allem aber sind die Kommunen die Orte, wo sich die Bürger*innen das Recht erstreiten müssen, nicht nur alle paar Jahre zu wählen, sondern über ihre Belange selbst zu entscheiden und diese selbst zu organisieren. Es muss der Grundsatz gelten, dass nur die entscheiden, die es betrifft. Dazu muss der unsägliche Zustand der chronischen Unterfinanzierung der Kommunen beendet werden (für die die heutigen Bundesländer große Verantwortung tragen). Sie müssen das Recht auf hinreichende Finanzmittel haben, um Schulen, Krankenhäuser, öffentlichen Nahverkehr, hochwertige Pflegeeinrichtungen und vieles mehr zu finanzieren und nicht länger gezwungen sein, aus Finanznot öffentliches Eigentum zu privatisieren, verkommen zu lassen oder ersatzlos zu beseitigen.
Arnold Illhardt weist auf das Experiment eines Bürgerrates hin (‘Corona. Ein gescheitertes Gesellschaftsexperiment’ https://querzeit.org/gesellschaft/corona), in dem 154 durch Los ausgewählte Menschen die Bundesregierung beraten haben, und er fragt zu Recht: „Warum nur beraten und nicht entscheiden?“. In Frankreich hat ein solcher durch Los bestimmter Bürgerrat Empfehlungen für die Umweltpolitik des Landes formuliert, in anderen Ländern gibt es weitere Initiativen dieser Art.
Dort wo gewählte Volksvertreter*innen in Parlamenten sitzen, müssen ihnen Bürger*innenräte beigeordnet sein, die aus unabhängigen Fachleuten verschiedenster Gebiete und durch Los bestimmte Bürger bestehen. Bürgerräte dieser Art können für eine bestimmte Amtsperiode oder für besondere Herausforderungen, z. B. die gegenwärtige Corona-Pandemie, gebildet werden. In bestimmten Fällen sollten Bürgerräte Vetorechte gegenüber dem Parlament haben sowie das Recht einen Volksentscheid einzuleiten. Dies gilt insbesondere, wenn Bürgerräte den Bundes- und Landtagen in ihrem heutigen Zustand beigeordnet werden.
Kommentare bitte an juergen.buxbaum@querzeit.org