Wer nach Portugal reist, fährt an die Algarve oder nach Lissabon. Vielleicht auch in die zweitgrößte Stadt Porto. Wer aber kennt schon den Alentejo? Auf den Spuren des portugiesischen Schriftstellers José Saramago begibt sich die Autorin in die weiten Ebenen der größten Provinz Portugals mit ihren Olivenhainen, Korkeichen und weißen mittelalterlichen Städten, die weithin sichtbar auf einsamen Hügeln thronen.
„Der Reisende ist kein Tourist. Das ist ein großer Unterschied. Reisen heißt entdecken, alles andere ist nur vorfinden.“ So schrieb der portugiesische Literatur-Nobelpreisträger José Saramago in seinem Buch Die portugiesische Reise (Viagem a Portugal, 1994).
1922 als Sohn einer armen Landarbeiterfamilie in der Provinz Ribatejo geboren und in Lissabon aufgewachsen, beschäftigte sich José de Sousa Saramago schon früh mit Literatur. Zwar musste der exzellente Schüler das Gymnasium aus finanziellen Gründen abbrechen und eine Lehre als Mechaniker machen, aber dank seiner autodidaktischen Studien fand er später Arbeit als Journalist für Verlage und Zeitungen. Im Jahr 1969 trat er im Zuge des wachsenden Widerstandes gegen das faschistische Salazar-Regime in die verbotene Kommunistische Partei Portugals (PCP) ein. 1976 wurde er freier Schriftsteller. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Hoffnung im Alentejo (1980), Das Memorial (1982), mit dem er den internationalen Durchbruch erzielte und Die Stadt der Blinden (1995), seinem wohl berühmtesten Roman, in dem er in Parabelform eine düstere Welt der Unterdrückung beschreibt (2008 verfilmt). 1998 erhielt er als erster und bislang einziger Portugiese den Literaturnobelpreis. 2010 starb José Saramago im Alter von 87 Jahren auf der kanarischen Insel Lanzarote, wo er seit 1992 mit seiner zweiten Frau, der spanischen Journalistin Pilar del Río, lebte.
Der überzeugte Atheist, Kommunist und Querdenker war vor allem in späteren Jahren ein scharfer Kritiker des globalisierten Kapitalismus. In seinem Internetblog griff er neben Politikern wie Berlusconi und Sarkozy auch den Papst an und kritisierte die Besetzungspolitik Israels.
Die portugiesische Reise
Anfang der 1990er Jahre machte Saramago sich auf eine Reise durch sein Heimatland. Er bereiste Portugal von Norden nach Süden und erzählt in seinem Reisebericht Die portugiesische Reise von Land und Leuten, Beobachtungen und kuriosen Begebenheiten. Im Vorwort schreibt er: „Diese portugiesische Reise ist … die Geschichte einer Reise und eines Reisenden, vereint in einer bewussten Verschmelzung dessen, der sieht, und dessen, das gesehen wird, eine nicht immer friedliche Begegnung von Subjektivem und Objektivem. Also: Aufeinanderprallen und Übereinstimmung, Wiedererkennen und Entdeckung, Bestätigung und Überraschung.“ (1)
Während Saramago mit dem Auto von Spanien nach Portugal einreiste, kommen wir mit dem Flugzeug aus Deutschland an. Saramago blieb mitten auf der Grenze stehen: mit dem Motor bereits in Portugal, mit dem Heck noch in Spanien. Der verwirrte Grenzbeamte durfte sich dann eine Art Predigt zu den Fischen im Rio Douro (rechtes Ufer) und denjenigen im Rio Duero, wie derselbe Fluss in Spanien heißt (linkes Ufer), anhören, in der es vordergründig um Sprachen, Unterwassergrenzen, Pass und Stempel geht, eigentlich aber um die beiden „Brüder“ auf der iberischen Halbinsel, die einander in den vergangenen Jahrhunderten oft bekriegten.
Anhalten können wir nicht, denn wir sitzen angegurtet im metallenen Bauch eines Riesenvogels, der die Grenze ohne Unterbrechung überfliegt, aber immerhin sehen wir kurz vor der Landung den mächtigen Rio Tejo, der sich, ebenfalls aus Spanien kommend (wo er Rio Tajo heißt), durch die grün-braune Landschaft windet und bei Lissabon so groß ist, dass er hier Mar da Palha, Strohmeer, genannt wird.
Während Saramago sein Heimatland von den nördlichsten Provinzen Trás-os-Montes (dt.: „Hinter den Bergen“) und Minho bis hinunter an die Algarve bereiste, werden wir uns in diesen acht Tagen Auszeit vom Berufsstress nur der Hauptstadt Lissabon und dem Alentejo widmen, wobei wir mit letzterem anfangen wollen.
Fahrt von Lissabon in den Alentejo
Der Name Alentejo setzt sich zusammen aus „Além“ und „Tejo“= „jenseits des Tejo“. Um „jenseits des Tejo“ zu kommen, müssen wir ihn allerdings erst einmal überqueren, und das ist schwieriger als gedacht. Zwei Brücken gibt es: die über 17 km lange Vasco da Gama-Brücke im Norden, die nach dem Entdecker des Seewegs nach Indien benannt wurde, und die Brücke des 25. April (Ponte 25 de Abril) im Süden der Stadt, die ihren Namen dem Tag der Nelkenrevolution (25.4.1974) verdankt. Wir mieten am Flughafen ein Auto, das leider keinen Navigator zu seinem Inventar zählt. Macht nichts, denken wir, es wird ja wohl Hinweisschilder vom Flughafen aus geben, die uns zur nördlichen Brücke leiten werden. Ich bin mit einer Freundin unterwegs, die genauso wenig wie ich große Ambitionen verspürt, sich durch den Großstadtdschungel von Lissabon zu quälen. Schließlich opfert sie sich für die Hinfahrt in den Alentejo und ich verspreche, die Rückfahrt zu übernehmen. Wir verlassen die Tiefgarage des Flughafens und verpassen prompt die Ausfahrt Richtung Vasco da Gama-Brücke. Ich entfalte vorsichtshalber meine etwas antiquierte Straßenkarte, auf der die 1998 rechtzeitig zur Expo fertiggestellte Brücke noch gar nicht eingezeichnet ist, wie ich feststellen muss.
Wir fahren auf riesigen, mehrspurigen Straßen, in deren Mitte eine Betonabsperrung ein geschicktes Wendemanöver verhindert. Irgendwann tauchen Straßenschilder mit der Aufschrift „Sul“ (Süden) auf. Nun gut, denke ich, dann fahren wir eben über die andere Brücke, geht ja auch. Meine Freundin manövriert uns Blut und Wasser schwitzend durch den abendlichen Lissabonner Verkehr. Schließlich haben wir es geschafft und überqueren erleichtert den Tejo. Auf der anderen Seite sehen wir die Christusstatue, die es mit ihrem berühmten Vorbild in Rio de Janeiro bei weitem nicht aufnehmen kann, und einen endlosen Stau. Die 70 m über dem Wasser schwebende Hängebrücke ist nur stadteinwärts mautpflichtig, was den Verkehr natürlich verlangsamt. Vielleicht aber stauen sich die Fahrzeuge auch deshalb, weil viele den Samstagabend in den Kneipen und Nachtclubs Lissabons verbringen wollen? Wir hingegen sind froh, dass wir es hinaus geschafft haben und die Fahrt nun etwas entspannter angehen können. Der Rest des Weges auf der A2 und A6 in östlicher Richtung ist dann vergleichsweise gemütlich. Die Dämmerung setzt ein, am Straßenrand sehen wir die schattenhaften Umrisse seltsamer Bäume mit kugelrunden Kronen, die sich bei Tageslicht als eine Art Pinien entpuppen. Es ist bereits dunkel, als wir in Évora, der „Perle des Alentejo“, eintreffen. Wir kurven so lange hügelaufwärts durch die engen Gassen der Stadt, bis wir schließlich auf ein Hinweisschild zur Pousada dos Lóios, einem zur Luxusherberge umgewandelten ehemaligen Kloster stoßen, unserer Unterkunft für die nächsten vier Nächte.
Mit einem kräftigen Rotwein aus der Region feiern wir unsere glückliche Ankunft in einem winzigen, sehr portugiesischen Restaurant, dessen Namen ich leider vergessen habe. Es liegt in einer Seitengasse, die vom Praça do Giraldo, dem Hauptplatz der Stadt, abgeht. Die Wände sind mit den typischen portugiesischen Kacheln (Azulejos) geschmückt. Eine Gruppe Studenten hat ein paar Tische zusammengestellt und diskutiert angeregt. Évora ist nicht nur eine Stadt mit vielen historischen Sehenswürdigkeiten, sondern auch Universitätsstadt.
Auch Saramago näherte sich dem Alentejo von Lissabon aus. Er fuhr jedoch nicht direkt nach Évora, sondern näherte sich der Stadt in einem großen Bogen von Nordosten über diverse andere Städte, von denen wir in den nächsten Tagen auch die eine oder andere besichtigen wollen.
Seine Schilderungen über Évora beginnen mit eben jenem Praça do Giraldo, an dem wir auf der Suche nach einem Restaurant auch gelandet sind. Saramago erzählt von dem Raubritter Giraldo, nach dem der Platz benannt wurde und der Évora im Jahre 1165 von den Mauren befreien wollte, damit König Afonso Henriques ihm seine Verbrechen vergab. Mit List und Tücke gelang dies dem „Furchtlosen“, so lautete sein Beiname, auch, wobei er nicht davor zurückschreckte, der armen Tochter des maurischen Torhüters die Kehle durchzuschneiden.
Überhaupt machen Legenden und historische Anekdoten wie diese Saramagos Reisebericht so lesenswert. Er besitzt einen scheinbar unendlichen Schatz an Wissen über die Geschichte seines Landes und teilt dies dem Leser auf anschauliche und unterhaltsame Weise mit – manchmal auch mit einem Augenzwinkern. Etwas gewöhnungsbedürftig, aber durchaus passend, ist, dass er nie aus der Ich-Perspektive berichtet, sondern stets die Formulierung „der Reisende“ verwendet.
Terena
Am nächsten Tag, einem Sonntag, brechen wir nach einem wunderbar üppigen Frühstück, welches wir im Kreuzgang des ehemaligen Klosters mit Blick auf vier Orangenbäume eingenommen haben, in östliche Richtung auf. Ich möchte unbedingt zur Festungskirche Nossa Senhora da Boa Nova, von der ich durch Saramagos Reisebericht erfahren habe und die ich in mein geplantes Romanprojekt einbauen will (für mich ist diese Reise auch eine Recherchereise). Wie soll man aber über etwas schreiben, das man nicht selbst gesehen, gerochen und gespürt hat? Ein Sonntag scheint mir dafür der richtige Tag zu sein, denn die Kirche liegt etwas abseits, etwa 1 km von der kleinen Ortschaft Terena entfernt, und ich möchte nicht, dass mir das passiert, was Saramago auf seiner Reise mehrfach erlebte, dass nämlich ein Gotteshaus verschlossen war und die „Schlüsselfrau“ unauffindbar, er somit ohne Besichtigung des Inneren seines Weges ziehen musste.
Ich hätte mir keine Sorgen machen brauchen, denn direkt gegenüber der Kirche wohnt in einem der typischen langgestreckten alentejanischen Häuser mit riesigem Schornstein die Familie, die quasi die „Schlüsselgewalt“ über die Kirche hat. Kommt ein „Reisender“ oder auch nur ein gewöhnlicher Tourist, dann ist gleich jemand zur Stelle und schließt die Kirche auf. In der portugiesischen Ausgabe von Saramagos Reiseschilderungen befindet sich ein Foto dieser für deutsche Augen recht ungewöhnlichen Festungskirche. Wäre der Glockenturm nicht, könnte man sie wirklich für eine Burg im Miniaturformat halten, wie auch Saramago schreibt. Als ich nun vor ihr stehe, bin ich zunächst etwas enttäuscht. Sie ist kleiner und gedrungener, als ich dachte.
Innen riecht es etwas muffig. Da das Fotografieren verboten ist, mache ich mir Notizen und Skizzen von der Deckenmalerei und den vielen Heiligendarstellungen, die die Wände der Kirche schmücken. Einige sind bereits so verblasst, dass sie kaum noch zu erkennen sind. Die „Schlüsselverwalter“ wechseln sich bei der Aufsicht ab und wundern sich vermutlich, warum ich so lange in dieser Kirche, die von innen höher wirkt, als von außen zu vermuten wäre, verweile. Im Altarraum thront hinter einer Glaswand die weißgekleidete Madonna „Nossa Senhora da Boa Nova“. Jedes Jahr an den Osterfeiertagen findet eine große Prozession statt: Die Madonna wird am Ostersonntag im Morgengrauen bei Kerzenschein bis zur Pfarrkirche in Terena getragen; am Ostermontag geht es dann zurück.
Ich frage die alte Frau mit den kurzen, weißgelockten Haaren, die ich zunächst für einen Mann gehalten habe und die den Eingang bewacht, nach den Heiligenstatuen in den Seitenaltären. Sie klärt mich auf: Rechts befindet sich der Heilige Blasius (São Brás), dessen rote Hände mich faszinieren (soll dies Blut darstellen?), links die Heilige Katharina (Santa Catarina), die ein Schwert in der rechten Hand trägt.
Ich unterhalte mich mit ihr über José Saramago, den sie damals, vor mehr als 20 Jahren, persönlich erlebte, als er die Kirche besichtigte. So erfahre ich auch, dass er gar nicht allein reiste, wie sein Bericht vermuten lässt, sondern mit einem ganzen Tross weiterer Personen. Ich bin ein bisschen enttäuscht, denn irgendwie hatte ich mir vorgestellt, dass er wie ein Dichter der Romantik auf den verschlungenen Pfaden seines Heimatlandes wandelte, Bekanntes und Unbekanntes entdeckend und über Vergangenes und Gegenwärtiges sinnierend (was er ja auch tat, nur nicht oder zumindest nicht immer allein). Zum Abschied kaufe ich noch ein paar Postkarten und einen Rosenkranz mit dem Miniaturbildnis der Madonna, den mir die Hüterin der Kirche aufschwatzt.
Auf dem Rückweg nach Terena kommen wir an einem ummauerten Friedhof vorbei. Wir halten an und bestaunen die weiße Pracht der eleganten Marmorgräber. Terena selbst ist ein sehr hübsches, typisch alentejanisches Städtchen mit gepflasterten Gassen, Geranien in Tontöpfen vor den Häusern und einer Burgruine, von deren Mauer man einen herrlichen Blick auf die von Olivenbäumen und Korkeichen geprägte Landschaft hat. Noch immer ist Kork ein wichtiger Faktor für die portugiesische Wirtschaft. Die Korkeichen werden alle 9 Jahre geschält. So lange braucht die Rinde, um wieder nachzuwachsen. Die Bäume werden mit einer Zahl markiert, die auf das Jahr der Schälung verweist; eine 3 steht beispielsweise für das Jahr 2013.
Capelins
In Terena frage ich zwei alte, ganz in Schwarz gekleidete Frauen, die auf einer kleinen Mauer wie Krähen in der Sonne hocken, nach dem Weg nach Capelins, unserer nächsten Station. Ich kann sie nur schwer verstehen, was daran liegt, dass sie kaum noch Zähne haben. Saramago war nicht in Capelins, und es ist eigentlich auch kein besonders sehenswerter Ort, aber ich hatte mich im Vorfeld aufgrund von Recherchen im Internet für dieses Städtchen (oder Dorf?) als Handlungsort meines Romans entschieden. Saramago schreibt im Vorwort der Portugiesischen Reise: „Sicherlich, der Autor war dort, wo man immer hinfährt, aber er war auch dort, wo eigentlich niemand hinfährt“; und: „Reise nach deinem eigenen Plan und lass dich nicht von der Bequemlichkeit der üblichen Routen und ausgetretenen Pfade locken, auch auf die Gefahr hin, dich zu verirren und umkehren zu müssen …“. (2)
Wir überqueren hinter Terena einen Bach, biegen an einer Gabelung links ab und genießen die Fahrt durch eine Olivenbaumallee. Während es in Deutschland noch kalt, grau und regnerisch ist, hat der Frühling hier bereits Einzug gehalten. Überall blühen weiße, gelbe und violette Blumen. Es gibt auffällig viele Schwalben, deren unverkennbare Silhouette nicht nur in den Lüften zu sehen ist, sondern auch in Keramikform in den Geschäften.
Capelins liegt nahe an der spanischen Grenze, die vom Rio Guadiana markiert wird. An diesem Sonntag wirkt der Ort wie ausgestorben, es ist kaum jemand zu sehen. Die schmalen Straßen sind von Olivenbäumen gesäumt und in den Gärten sehen wir Orangenbäume, deren Früchte verlockend zwischen dem dunklen Grün der Blätter hervorblitzen. Die weißgekalkten Häuser sind zumeist einstöckig und wie überall im Alentejo haben sie eine blaue oder ockergelbe Fenster- und Türumrandung. Während die gelbe Farbe früher den Wohlhabenden vorbehalten war, malt heute jeder sein Haus so an, wie er möchte. Die Schornsteine der Häuser sind zum Teil genauso wuchtig wie diejenigen in anderen Regionen des Alentejo, aber es gibt auch Häuser mit vergleichsweise zierlichen, hübsch verzierten Schornsteinen von zylindrischer oder prismenförmiger Gestalt, die an die maurische Bauweise in der weiter südlich gelegenen Algarve erinnern. Ein verfallenes Haus mitten im Ort interessiert mich besonders und ich schaue es mir auch von innen an, um die Bauweise zu untersuchen (den Gedanken, dass das Dach über mir zusammenbrechen könnte, verscheuche ich).
Alandroal
Ein plötzlicher Regenschauer überrascht uns und wir beschließen, den Heimweg anzutreten. Außerhalb des Ortes mache ich noch ein paar Bilder von einigen alentejanischen Bauernhäusern, die an einem Schotterweg liegen, der sich einen Hügel hinaufwindet. Man nennt sie „Monte“ (dt.: „Berg“ oder „Hügel“), eine passende Bezeichnung für die stets erhöht liegenden kleinen Gehöfte.
Zwischendurch machen wir noch Rast in Alandroal (wie über 20 Jahre zuvor Saramago auch). Der Ort liegt, wie fast alle Städte im Alentejo, hoch oben auf einem Berg. Die steilen, engen Gassen sind für Flachlandbewohner wie uns durchaus eine Herausforderung. Ich bin froh, dass ich gerade nicht hinter dem Steuer sitze, als wir hinauffahren. In einem Café genießen wir einen Kaffee und die köstlichen portugiesischen Pasteis de Nata (Sahnecremetörtchen). Wir besichtigen noch eine Kirche aus dem 16.Jahrhundert und die Reste der ehemaligen Burg. Bevor wir das reizvolle Städtchen wieder mit dem Auto verlassen können, müssen wir eine Prozession abwarten, die gerade stattfindet: Eine Muttergottes-Statue mit himmelblauem Schleier und eine Jesusfigur, die gebeugt ein schweres Kreuz schleppt, werden durch den Ort getragen, gefolgt von einer eher kleinen Menschenmenge, was mich etwas wundert, denn Portugal ist doch ein sehr katholisches Land, denke ich, und hier auf dem Lande hätte ich mehr Teilnehmer an einer solchen Prozession vermutet. Aber Karfreitag, der eigentliche Feiertag, an dem an Jesus‘ Kreuzigungstod erinnert wird, ist noch 5 Tage entfernt, vielleicht liegt es daran. Später erinnere ich mich, dass die Alentejanos längst nicht so religiös sind wie die Bewohner des streng katholischen Nordens von Portugal.
Auf dem Rückweg nach Évora sehen wir einen Storch (wann habe ich das letzte Mal in meiner Heimat einen gesehen?) und passieren wieder wie auf der Hinfahrt jede Menge knorrige, silbrig in der Sonne glänzende Olivenbäume sowie Korkeichen, deren Stämme, wenn sie frisch geschält sind, rotbraun leuchten und unter denen manchmal Schafe weiden. Die berühmten schwarzen iberischen Schweine, die sich vornehmlich von Eicheln ernähren, habe ich auf unserer Reise nie gesehen; vielleicht gibt es sie eher im südlichen Teil des Alentejo, um die Stadt Beja herum. Der nördliche Teil, den wir besuchen, ist vorwiegend von den erwähnten Olivenbäumen und Korkeichenhainen geprägt sowie von Marmorsteinbrüchen rund um die Stadt Estremoz, die wir am folgenden Tag besichtigen.
Estremoz
Zu Estremoz schreibt der Reisende José Saramago: „Die strahlend weiß gekalkten Häuser der Altstadt, gebaut aus Marmor, als wäre es gewöhnlicher Stein, sind schon allein für sich ein Grund, Estremoz zu besuchen. Doch hoch droben steht auch der Turm mit seinen dekorativen, zinnenverzierten Balkonen, und die Überreste des Königspalastes von Dom Dinis … Da steht die Kapelle der Königin Santa Isabel aus dem 18. Jahrhundert mit ihrem theatralischen Chor und den überreich verzierten Azulejos, darauf Episoden aus dem Leben der wundertätigen Dame, die Brot zu Rosen verwandelte, wenn sie schon nicht Rosen zu Brot verwandeln konnte.“ (3)
Die genaue Geschichte der in Estremoz verehrten Heiligen Königin Isabel (1271-1336) lasse ich mir von der Inhaberin eines kleinen Ladens, in dem die für die Stadt typischen Tonfiguren hergestellt und verkauft werden, erzählen: Isabel kümmerte sich um die Leprakranken der Stadt und brachte ihnen regelmäßig Brot zum Essen. Ihrem Gatten, König Dinis, war dies ein Dorn im Auge. Als er sie eines Tages erwischte, schürzte sie ihr Kleid, um das Brot, das sie trug, zu verstecken. Er verlangte, dass sie ihm zeigte, was sie verborgen hielt. Sie gehorchte, und – siehe da – das Brot hatte sich in Rosen verwandelt.
Eine schöne Legende! Ich kaufe eine purpurrot gewandete Tonfigur der Hl. Isabel und wir verlassen die sehenswerte Stadt, um nach Elvas zu fahren, das nah an der spanischen Grenze hoch oben auf einem Berg liegt.
Elvas
Elvas ist ein beeindruckender Ort. Die historische Altstadt ist noch ganz von einer Mauer umgeben, wie es in einigen Städten im Alentejo der Fall ist (so auch in Évora). Bevor wir durch eines der Burgtore in die Altstadt fahren, mache ich noch schnell ein Foto von dem imposanten Aquädukt (Aqueduto da Amoreira), der zum Teil vierstöckig ist und insgesamt 843 Bögen besitzt. Sein Bau dauerte 124 Jahre, wie Saramago erwähnt. Wir fahren die steile, gewundene Straße hoch, parken das Auto und gehen den Rest des Weges zu Fuß hinauf zum Kastell, von wo aus man einen atemberaubenden Blick auf die umliegende weite Ebene hat, sogar bis zum Nachbarn Spanien hinüber. Wir besichtigen die über und über mit Kacheln versehene Dominikanerinnenkirche (Igreja das Domínicas) und die Pfarrkirche Nossa Senhora da Assunção, die von außen wie eine Burg wirkt und von innen üppig mit Marmor aus der Umgebung ausgestattet ist.
Auf dem Rückweg nach Évora passieren wir das Städtchen Borba, das umgeben von Weinbergen ist, sowie das hoch auf einem Berg gelegene Dorf Évoramonte. Wir hätten gerne noch den prächtigen Palast der Herzöge von Bragança (Paço Ducal) in Vila Viçosa besichtigt, der aber montags leider geschlossen ist. Auch Arraiolos, die Stadt der Teppiche, hätte ich gerne gesehen, doch da es bereits später Nachmittag ist, beschließen wir, in die Pousada zurückzukehren. Am Abend essen wir gemütlich in dem empfehlenswerten Restaurant „Café Alentejo“ (Rua do Raimundo 5) und trinken wieder einen Wein der Region. Früher wenig wertgeschätzt, haben sich die Weine des Alentejo qualitativ beachtlich entwickelt und gehören mittlerweile zu den besten des Landes. Ein typisches Gericht der Region ist Carne de Porco à Alentejana (Schweinefleisch mit Muscheln). Da ich Vegetarierin bin, probiert es nur meine Freundin aus. Sie lobt den würzigen, herzhaften Geschmack des Ibero-Schweins.
Évora
Unser letzter Tag ist der früheren Hauptstadt des nördlichen Alentejo (jetztige Hauptstadt des gleichnamigen Distrikts) gewidmet, die 1986 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde.
Direkt gegenüber unserer Unterkunft liegt der römische Tempel, der auf das 2. oder 3. Jahrhundert datiert wird. Früher einmal wurde er der Göttin Diana zugeschrieben, was aber wohl nicht stimmt. Laut Saramago ist der falsche Name einem erfinderischen Pater namens Fialho zu verdanken. Nachdem der Tempel im Mittelalter als Schatzkammer für eine sich angeblich dahinter befindende Burg, später als Arsenal und dann als städtisches Schlachthaus genutzt wurde (mit Mauern zwischen den Säulen), bietet er sich jetzt dem Auge des Betrachters wieder so dar wie dereinst, wenn man mal davon absieht, dass ein paar Säulen fehlen. Dennoch ist er bemerkenswert gut erhalten.
Nach der Besichtigung des Tempels begab Saramago sich seinerzeit in das Museum von Évora, allerdings nicht mit der größten Begeisterung, wie er ehrlich zugibt: „Ein Museum ist die unredlichste Einrichtung, die der Reisende kennt. Es verlangt, dass man es besucht, setzt in Umlauf, man sei ein Kulturbanause, wenn man es überginge, und hat es uns erst einmal in seinen Fängen, wie ein Lehrer seine Schüler, dann unterweist es uns nicht etwa maßvoll und mit kluger Auswahl, sondern überhäuft uns mit zweihundert Meisterwerken, zweitausend verdienstvollen Werken und etlichen anderen von mittlerem Wert.“ (4)
Wir bekennen uns zur Gattung „Kulturbanause“ und sehen uns als nächstes die romanisch-gotische Granitkathedrale von Évora an, die im Übrigen von Saramago sehr gelobt wird. Mir gefällt sie auch, weniger von außen (da erinnert sie wie so viele andere sakrale Bauten hier eher an eine Burg oder Festung, obwohl die steinernen Apostelstatuen am Hauptportal recht beeindruckend sind), als vielmehr von innen. Vor allem der angrenzende Kreuzgang ist sehenswert, und oben vom Dach, welches man besteigen kann, hat man eine phantastische Aussicht auf die Stadt und das Umland.
Danach gehen wir die Rua 5 de Outubro hinunter, in der sich Souvenirläden mit immer dem gleichen Angebot (handbemaltes Geschirr aus Steingut, Kacheln und alles Mögliche aus Kork) mit Restaurants abwechseln. Die schmale Straße endet am Praça do Giraldo mit seinen maurischen Arkaden auf der Ostseite, wo wir uns auf eine Bank setzen und die Sonne genießen. Am nördlichen Ende des Platzes befindet sich die Kirche Santo Antão (16. Jh.), davor ein 1571 erbauter Marmorbrunnen.
Als Nächstes wollen wir zur São Francisco-Kirche, deren Hauptattraktion die makabre Knochenkapelle (Capela dos Ossos) ist. Auf dem Weg dorthin schauen wir uns noch die Fassade der Kirche Igreja da Graça an: Hoch oben thronen vier Figuren, deren Spitzname „Os Meninos“ (die Kinder) ist und die jeweils zu zweit einen Globus tragen. Die „Kinder“, von denen Saramago sagt, dass sie von Michelangelo entworfen sein könnten, sehen mit ihren athletisch-muskulösen Figuren und bärtigen Gesichtern so gar nicht kindlich aus …
Saramago schreibt: „Für den Reisenden strahlt diese Kirche, weil sie so anders ist als die meisten religiösen Bauwerke ihrer Epoche, etwas Rätselhaftes aus, so als hätten die Messen, die in ihr zelebriert wurden, mehr mit heidnischen Abwegen zu tun gehabt als mit dem orthodoxen Glauben.“ (5) Ich kann ihm nur zustimmen!
Die Igreja São Francisco hat über Mittag geschlossen, also setzen wir uns in ein Café am Platz und gönnen uns zwei Pasteis de Nata, von denen wir auf dieser Reise fast täglich mindestens eins verzehren. Diese süßen Blätterteig-Pasteten, die mit einer cremigen Mischung aus Milch, Eiern und Zucker gefüllt sind und mit Zimt bestreut werden, schmecken einfach göttlich!
Um 14 Uhr öffnet die Kirche, die dem Hl. Franziskus geweiht ist, wieder und wir überqueren den Platz, um sie von innen zu besichtigen. Saramago stöhnte damals am selben Ort unter der großen Hitze: „Als der Reisende die Kirche São Francisco erreicht ist er nahezu erschöpft. Die Straßen von Évora gleichen einer Wüste, nur wenn man gezwungen ist, wechselt man auf die andere Seite. Die Sonne brennt erbarmungslos, als würde die Hitze aus dem Schlund eines Riesenofens geblasen.“ (6) Vielleicht hätte er sich zwischendurch auch ausruhen und ein Pastel de Nata munden lassen sollen? Oder den Alentejo lieber im Frühjahr bereisen, so wie wir, statt im heißen Sommer? Selbst Ende März wird es hier tagsüber schon ziemlich warm. Im Sommer muss es wirklich unerträglich sein (dafür sind die Winter im Alentejo sehr kalt). Passenderweise gab Saramago seinem Kapitel über den Alentejo den Titel „ Das weite, glühend heiße Land des Alentejo“.
Ich bin begierig darauf, die berüchtigte Knochenkapelle zu sehen. Bevor der Besucher diese zu Gesicht bekommt, muss er allerdings eine Ausstellung von unzähligen traditionellen und modern anmutenden, uralten und neuen Krippen erdulden, die entlang der Gänge und in angrenzenden Räumen aufgebaut ist. Ich habe gar nichts gegen Krippen, aber hier empfinde ich sie als störendes Hindernis auf dem Weg zur eigentlichen Attraktion, der im 17. Jh. mit den Gebeinen von 5000 Menschen ausgestatteten Capela dos Ossos. Schon der marmoreingefasste Eingang in die Kapelle lässt einem einen Schauer über den Rücken laufen. Dort steht nämlich geschrieben: „Nos ossos que aqui estamos pelos vossos esperamos“ (Unsere hier versammelten Knochen warten auf die eurigen). Drinnen werden wir von zahllosen Schädeln mit leeren Augenhöhlen angestarrt. Schienbeinknochen, Schädel und Rückenwirbel bilden Säulen, die das Rippengewölbe der Kapelle tragen. Auf der gegenüberliegenden Seite vom Eingang befindet sich ein goldener Altar mit einem Kruzifix. Ich würde mich gerne gruseln, kann es aber nicht. Die Knochen sind mittlerweile hinter einer hohen Glaswand vor den Berührungen der noch Lebenden geschützt, und die Menge der Besucher verhindert eine wirklich schaurige Atmosphäre. Und wo sind die mumifizierten Körper, die an einer Kette baumeln, wie es in meinem Reiseführer steht? Ich umrunde die Kapelle zweimal, kann sie aber nirgends entdecken. Ob sie vor dem Besucherstrom das Weite gesucht haben? Oder hat jemand sie als gespenstisches Souvenir mitgehen lassen?
Saramago wirft den franziskanischen Mönchen, die die Kapelle mit den Gebeinen bestückt haben, vor, dass sie nur Knochen aus anonymen Massengräbern verwendet haben, während die ewige Ruhe der Reichen nicht gestört wurde. Er stellt sich vor, wie die Mönche damals mit hochgekrempelten Ärmeln hier nach einem Schienbein suchten, dort nach einer passenden Rippe oder einem Schädel, der die Wirkung abrundete und ruft emphatisch aus: „Ihr Knochen, die ihr dort liegt, warum habt ihr nicht rebelliert?“ (7)
Unsere Reise im Alentejo geht dem Ende zu und ich frage mich: War ich nun Touristin oder im Sinne Saramagos eine „Reisende“?
Vermutlich beides. Vor allem in Évora habe ich mich als Touristin gefühlt, was wohl daran lag, dass von allen Orten, die wir im Alentejo besucht haben, hier die meisten Sehenswürdigkeiten an einem Fleck versammelt sind und somit auch viele andere Touristen außer uns in dieser Stadt unterwegs waren. Aber auch hier gab es „Entdeckungen“, wie die Kirche Igreja da Graça, auf die wir eher zufällig stießen, oder das kleine portugiesische Restaurant, in dem wir am ersten Abend aßen. Je weiter wir uns von Évora entfernten, umso eher fühlte ich mich als „Reisende“. Die Touristin in mir hat vieles Sehenswerte vorgefunden, bewundert, bestaunt, fotografiert. Die Reisende ist auf den Pfaden ihrer monatelangen Recherchen gewandelt und hat versucht, nicht nur auf dem Papier Gelesenes in natura „vorzufinden“, sondern offen zu bleiben für Unerwartetes, Neues und Fremdes. Wichtig war mir auch, die spezielle Atmosphäre dieses Landstrichs zu „erfühlen“.
Es ist mir nicht immer gelungen, dazu war die Zeit einfach zu knapp. Aber, wie schreibt Saramago auf der letzten Seite seiner Portugiesischen Reise:
„Das Ende einer Reise ist nur der Anfang einer neuen. Man muss ansehen, was man noch nicht gesehen hat, noch einmal sehen, was man schon gesehen hat, im Frühling sehen, was man im Sommer gesehen hat, tagsüber sehen, was man im Dunkeln gesehen hat, bei Sonne, wenn es beim ersten Mal geregnet hat … Man muss die Wege gehen, die man gegangen ist, sie wiederholen und neue Wege neben ihnen bahnen. Man muss noch einmal zur Reise aufbrechen. Immer wieder. Der Reisende kommt bald zurück.“ (8)
Anmerkungen:
(1) Saramago, José: Die portugiesische Reise, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 4. Aufl. Juni 2010 [2005], S. 10.
(2) Ders., S. 9f.
(3) Ders., S. 506f.
(4) Ders., S. 524.
(5) Ders., S. 528.
(6) Ders., S. 528.
(7) Ders., S. 529.
(8) Ders., S. 594.
Literatur:
Saramago, José: Die portugiesische Reise, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 4. Aufl. Juni 2010 [2005].
Saramago, José: Viagem a Portugal, mit Fotografien von Maurício Abreu, Caminho Verlag, 1995.