Bücher haben mein Leben begleitet und ihm ein breites Fundament gegeben. Wer liest kennt mehr als das eigene Leben. Ein Leben ohne Bücher ist möglich, aber sinnlos!
Mein erstes Buch verfügte über 900 Seiten und einen kostbar wirkenden, goldenen Schnitt. Es eignete sich hervorragend zum Pressen von Spinnen und Pflanzen, sowie zum Erzeugen von Ganzkörpergänsehäuten. Innen befanden sich Kunstdrucke mit gruseligen Folterszenen von Heiligen, so z.B. das Martyrium des Heiligen Laurenzius, der bei lebendigem Leibe auf einem Feuer gemartert wurde. Zum Vergnügen der umherstehenden Gaffer; damals gab es noch kein Dschungelcamp. Lesen konnte ich das mächtige Buch nicht, da ich diese Fähigkeit erst in der Grundschule erwarb, zudem war der Schinken in altdeutscher Schrift verfasst. So manches Mal hockte ich beim spärlichen Licht meiner Nachttischlampe, schaute mit Fassungslosigkeit die grauenhaften Szenen an und bekam schon früh den Eindruck, dass viele Menschen trotz ihres Erwachsenseins einen exorbitanten Schaden haben mussten. An dem Eindruck hat sich nicht viel geändert und er wiederholt sich allabendlich bei der Lektüre der Tageszeitung. Der güldene Schinken heißt übrigens Legende oder „Der christliche Sternenhimmel“, womit weniger die leuchtenden Himmelskörper gemeint waren, sondern von der katholischen Kirche heiliggesprochene Leuchtkörper wie der Heilige Antonius oder der Heilige Thomas von Cantilup. Noch heute dient der Schmöker aufgrund seines Gewichts und seiner Größe als gelegentliche Buchstütze. Früher war es unschicklich, Bücher zu legen; sie standen in Reih und Glied wie Soldaten. Daher hatte die „Legende“ auch einen Extraplatz, um nicht aus der Reihe zu fallen. Auch das war unschicklich. Das Aufeinanderstapeln von Büchern lernte ich erst später bei Leuten kennen, die in Wohngemeinschaften wohnten und dort heiter und unbedarft der Unaufgeräumtheit frönten. Eigenartigerweise hatte meine Mutter nie ein Problem damit, dass ich in dem Horrorszenario blätterte.
Ich lernte lesen und das Lesen lieben – was von meinem Grundschullehrer mehr als honoriert wurde. Leider hatte es zur Folge, zu Beginn der ersten Schulstunde Gebete vorlesen zu dürfen, worin ich weniger Erbauung fand. Meine Eltern (vor allem meine Mutter war eine Vielleserin) hatten damals bei irgend so einem Bücherbund einen Knebelvertrag und bekamen ständig die Reader´s Digest Auswahlbücher zugeschickt. Das Zeug verstopft noch heute die Umsonstbücherregale meines Vertrauens; sie taugten schon damals nicht das Geld. Meine ersten Lesebücher lieh ich in der Gemeindebücherei aus; pro Woche verschlang ich zwei bis fünf – je nach Dicke, darunter die Kinderklassiker wie „Das kleine Gespenst“, Emil und die Detektive“ oder „Der Löwe ist los.“ Irgendwann lag mein erstes eigenes Buch „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgerson“ von Selma Lagerlöf unter dem Weihnachtsbaum; der Grundstock für eine sich stetig ausweitende Bibliothek. Es folgten „Der kleine Lord“, „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ oder „Die Schatzinsel“. Ich verschlang eins nach dem anderen und gehörte damit schon bald zu den Heimlich-Unter-Der-Bettdecke-Lesern. In meinem Steck-Regal, Typ Danish Teak Style, hütete ich meine stets eselohrfreien Bücher wie kostbare Schätze. Meine Mutter hatte mal gesagt: Wissen heißt, wissen wo´s steht. Das hatte mich schwer beeindruckt!
Als Nachkömmling wanderten aber auch ausgelesene Schmöker meiner wesentlich älteren Geschwister in mein Besitztum oder wurden entsprechend sozialistisch umgelagert. So lernte ich z.B. die Abenteuer von Karl May kennen, wobei ich mich zwar in Winnetous Schwester Nscho-tschi unsterblich verliebte, trotzdem einen größeren Fable für den Orientzyklus („Durchs Wilde Kurdistan“ oder „Der Schut“) hegte. In mir keimte ein Schimmer von Verdacht auf, dass das Lesen von Büchern mehr als nur ein Zeitvertreib darstellen könnte. War es vielleicht der Schlüssel zur Welt? Könnte ich über das Lesen möglicherweise das erfahren, was man mir in den mit Werten des christlichen Abendlandes tapezierten Wohnzimmerwänden vorenthielt? Als meine Mutter entdeckte, dass ich „Und Jimmy ging zum Regenbogen“ von Simmel in ungewöhnlich schneller Zeit verschlang, setzte sie die Schere an und schnitt die anrüchigen Seiten raus. Mir deuchte, dass Liebe, Lust und Leidenschaft in verschriftlichter Form sittenwidriger sein musste, als die Splatter-Bilder der hingerichteten Heiligen. Ich würde sagen, ein gewaltiger pädagogischer Fehler, denn genau so entwickelte ich eine große Neugierde für erotische und pornografische Bücher aus Schweden, die mein etwas älterer Freund Michael aus unbekannten Quellen vorrätig hielt. Warum mit tranigen Knutschszenen aufhalten, wenn sich so die Anatomie des weiblichen Körpers bis in vaginale Tiefen studieren ließ?
Ich hatte mir derweil eine Gymnasialempfehlung erwirtschaftet. Unser Gemeindepastor hielt mich für zu sensibel, um an einer großstädtischen Lernanstalt zu reifen und vermittelte mir den Einstieg in ein bischöfliches Gymnasium auf dem Lande. So blieben meine erzkatholischen Eltern lange Zeit in dem Glauben, ich sei hier talarumweht und kreuzverbunden auf der sicheren Seite. Sie machten aber die Rechnung ohne a) meinen Deutschlehrer und b) meine linksorientieren, philosophisch interessierten und anarchieumhauchten Mitschüler. „Ernest“, unser Deutschlehrer, lehrte nicht nur Deutsch, sondern versuchte uns Jungs ans Leben heranzuführen. Er war ein hoffnungsloser Idealist und Romantiker; jedenfalls kam es damals so rüber. Ihr müsst lesen, lesen, lesen, war sein unumstößlicher Lehrsatz und so rasselte es deutschsprachige Literatur, das es nur so im gebundenen Blätterwald rauschte: Brecht, Frisch, Böll, Dürrenmatt, Kafka, Lenz oder Walser, die bis heute typischen Verdächtigen der Deutschunterrichte. Ich fand sie allesamt zwar irgendwie langatmig, aber es deutete sich mir an, dass sich in dem Geschriebenen große Tiefe verbarg. Mich rührte die bildreiche Wortwahl; sie vermittelte mir Kopfbilder, die es außerhalb der Literaturwelt bisher nicht gab.
Das elterliche Bücherregal gab nicht viel her, was meinen Lesedurst hätte weiter stillen können. Selbst die roten Agatha Christie-Krimis aus dem Scherz-Verlag waren abgearbeitet. In seinem Buch „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ erzählt der Philosoph und Publizist Richard David Precht von seiner Kindheit in einem linken Elternhaus, wo er mit gesellschaftskritischer und kommunistisch durchtränkter Literatur versorgt wurde. Diesbezüglich herrschte zuhause leider literarisches Lambaréné, allerdings wundere ich mich bis heute, wie Camus „Die Pest“ zwischen Pater Pio und die römischen Götter- und Heldensagen gelangte. Beim heimlichen Rauchen hinter der Schulturnhalle erfuhr ich von den Internatsschülern, die literarisch, philosophisch und politisch uns „Externen“ immer ein paar Gedankenmeter voraus waren, dass es neben dem deutschen Geschreibsel a la Gruppe 47 spannendere Publikationen gibt, mit denen man für eine bevorstehende Weltrevolution wesentlich besser gerüstet war. Ich stattete erste Besuche in Buchläden ab und entdeckte für mich die wunderbare Welt zwischen den mit Folianten vollgepfropften Regalen. Der Rosta Buchladen in Münster ist für mich noch heute eine Oase der geistigen Erquickung, fand und findet man hier stets absolut kitschfreies und kritisches Material, mit dem sich jeglicher Establishmentmuff und Katholikenstaub schon nach den ersten Seiten wegblasen lässt. Und so gelangte eine bunte Autorenmischung in meinen Besitz: Sartre, De Beauvoir, Dostojewski, Gide, Camus, H. Miller, Nin oder Vian usw. Darüber hinaus gab es auch einen unvermeidlichen Abstecher in die versoffene und krakeelende Welt des Charles Bukoswki. Über den noch heute existierenden Verlag Zweitausendeins erwarb ich immer wieder neue Schriftwerke, die zwar kein Schwein kannte, die aber an meiner Lese- und damit Weltbildprägung Anteil hatten.
Auch wenn ich zugegebenermaßen nicht alles verstand, was da intellektuell in Sätze gegossen und in Abschnitte gequetscht wurde, so verstand ich doch eins: Das wahre Leben bestand vor allem darin, ausgestattet mit einer Flasche Rotwein (wahlweise Bier), einem einfachen Baguette und einem guten Buch an einem schönen Fleckchen Erde zu sitzen und zu lesen; der Rest war kapitalistischer Fliegendreck! Später kam als Steigerung noch die Cafehausvariante hinzu. Nicht vergessen werden ich, wie meine Frau und ich in der Pariser U-Bahn aneinander gelehnt standen und in Anaïs Nins „Die neue Empfindsamkeit“ (meine Frau) und Erich Fromms „Haben oder sein“ (ich) vertieft waren. Wir fühlten uns wahnsinnig existentialistisch und verpassten auch prompt und völlig existentialistisch die Haltestelle.
Schon zu Pennälerzeiten schlich sich durch die Hintertür Hermann Hesse in mein Leben ein. Auf dem Pausenhof und im Raucherbereich diskutierte man darüber, ob man eher der Goldmund- oder Narziß-Typ sei; Narziß, der eine geistige Annäherung an die Idee des vollkommenen Lebens und Gott präferierte und Goldmund, der seine Erfüllung als Wanderer und freier Künstler suchte. Ich stand diesem Schlagabtausch ratlos gegenüber und fand trotz einer Lektüre keine Lösung für mich. Überhaupt Hesse: War das nicht einfach nur opportunistischer und romantisierender Kitsch für sinnsuchende Wirrköpfe mit Akne? Während meines Psychologiestudiums las ich bei einem Urlaub im Süden „das Glasperlenspiel“ von Hesse und spürte, dass die Verknüpfung eines großen Ganzen für mich ein Lebensthema darstellte. Das man hier schon einmal dem Irrsinn verfallen konnte, machte mir Canetti´s „die Blendung“ deutlich, ein Buch was mich sehr faszinierte und bis heute zu meiner ganz privaten Bestenliste gehört. Und dann gab es da immer auch Zeiten, in denen das Lesen nur ein gewisser Verdrängungsprozess war; die Krimis (Mankell, Nesser, Sjöwall und Wahlöö) oder erotischen Romane (Groult, Miller oder Bourgeade) ließen mich eine Parallelwelt erträumen, von der ich damals kilometerweit entfernt schien.
Genauso, wie mich stets die düstere, schwermütige und zum Teil brachiale Musik begeisterte und eine Art Hintergrundsound für ein intensives Leben darstellte, tauchte ich auch beim Lesen gerne in eine Welt ein, die mich an die Grenzen meiner Gefühle und Gedanken bringen sollte. Ich wollte nicht unterhalten werden, sondern mich in diesen Welten spüren. Ich wollte Ideen für eine Bauanleitung, die mir ein bewusst gelebtes, unabhängiges, ja individualanarchistisches Leben ermöglichten. Ich wollte beim Zuklappen des Buches die Ungeduld erfahren, mit der Umsetzung nicht warten zu können. Es gibt kaum einen trostloseren Ausdruck als Zeitvertreib: Warum sollte ich etwas vertreiben, was mir als das kostbarste erscheint? Nicht allein das Lesen hat eine Bedeutung, sondern das Nachdenken darüber. Was gibt es anregenderes, als wenn das Gelesene in einem gehrt und keimt, wenn es innere Mauern einreißt und Konstrukte entlarvt, wenn es Horizonte erweitert und neue Richtungen vorgibt, wenn es Pfade verlässt und neue entstehen lässt?
Zum Teil stieß ich per Zufall auf ein Buch, das mich in seinen Bann zog. Auf einer Party in einer Bochumer WG stand die Gästetoilette inmitten üppig ausgestatteter Bücherregale. Dass ich hier Harry Mulisch aufspürte und später der „…Entdeckung des Himmels“ beiwohnte, ist ein amüsantes Begebnis. Bei einer Wanderung in den Alpen entdeckte ich in einer Wanderhütte ein abgelegtes Buch über Jim Morrison. Ich las darin von Morrisons Vorliebe für französische Schriftsteller und folgte zuhause seiner Spur. So scheint kognitive Plastizität zu funktionieren.
Doch Lesen war und ist für mich nicht nur ein optischer und in seiner zerebralen Umsetzung kognitiver Prozess, Lesen bedeutete auch das Papier zu tasten oder vor allem in alten Büchern den Geruch von alten Zeiten zu schnuppern. Ich habe mich auf eine Menge technischer Neuerungen bis hin zum Internetradio oder Navigationsgerät eingelassen, ein E-Book kommt mir erst ins Haus, wenn es aufgrund eines verschlechterten Augenlichts notwendig erscheint. Und dann nur unter Protest! Mir würde das haptische Erlebnis fehlen, das Unterstreichen von wichtigen Zeilen mit dem Bleistift. Was ist ein weißlich schimmernder Desktop gegen die vergilbten und verlebten Seiten eines Buches?
Immer weniger fand ich in dem rein erzählenden Schreibstil meiner gewählten Bücher Erfüllung. „Es ist ein großer Unterschied, ob ich lese zum Genuss und Belebung oder zur Erkenntnis und Belehrung“, soll Goethe gesagt haben. Das Lesen von Büchern, in denen ich nichts unterstreichen konnte, erschien mir immer mehr als vergeudete Zeit. Wie spannend, anregend und durchbringend war es dagegen, auf Autoren zu treffen, denen es gelang, hinter menschliche und gesellschaftliche Prozesse zu schauen und diese in Worte zu fassen. Zu den Autoren, die mich beeinflussten gehörten Mitscherlich, Jungk, Fromm, Illich, Foucault, Adorno, Stowasser, Marcuse, Freud, Richter oder später auch Ziegler. Ich muss gestehen, dass ich einige Geistesergüsse nicht immer auf Anhieb verstand. So manches Mal quälte ich mich durch die Philosophen und Psychoanalytiker, die mir vor allem bei der Bettlektüre kurz vor dem Schlafen zu entgleiten drohten. Und dann und wann waren es oft nur Sequenzen oder Sätze, deren Inhalt mich beeindruckte und nachhaltige Spuren hinterließ. Man kann sich über Fernsehen oder Zeitungen etwas vormachen und damit auch vorleben lassen, aber ein Fundament, gebildet aus unzähligen Mosaiksteinen, die man sich in unterschiedlichsten Büchern erlesen hat, scheint mir das standfestere und witterungsbeständigere zu sein.
In meiner Lieblingsvorlesung über die Geschichte der Psychologie riet der Professor uns Studenten: „Wenn Sie etwas über die Menschen erfahren wollen, so finden sie dies weniger in Lehrbüchern, sondern vielmehr in den Romanen großer Schriftsteller.“ Und als Aufmacher einer Literaturbeilage in der ZEIT las ich aktuell die Zeile: Wer liest, kennt mehr als das eigene Leben. Ich denke, dass Lesen in Zeiten wie diesen umso wichtiger ist, um eindimensionales Denken, wie es derzeit tonangebend ist, zu verlassen und die Vielfalt des Lebens kennen und vor allem schätzen zu lernen. Ein Leben ohne Lesen ist möglich, aber sinnlos!