Nietzsche meinte, es mache unmoralisch, die Leute warten zu lassen. Es sei ein sicheres Mittel, sie aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen. Blödsinn! Warten ist gelebter Existenzialismus.
Vier Brötchen, sage ich und lächele dabei. Vermutlich! Mir ist nicht immer ganz klar, ob ich tatsächlich lächele, oder ob meine altersbedingt faltige Physiognomie immer auch ein Lächeln hergibt, wenn ich es möchte. Sie müssen einen Moment warten, sagt die junge Verkäuferin mit dem Nasenpiercing und zeigt auf den Backautomat. Ich finde Backautomaten irgendwie immer desillusionierend. Wie viel vertrauter wäre mir jetzt ein dicker Bäcker mit Bäckermütze, der mit einer Ladung dampfender Brötchen auf seiner Holzschaufel um die Ecke biegen würde, um sie dann in die Auslage zu kippen. Aber dicke Bäcker scheinen Vergangenheit zu sein, so wie blasse Buchhändler oder ölverschmierte Tankwarte. Tempora mutantur und Bäcker in ihnen.
Die junge Frau mir gegenüber sagte, es dauere ein Moment. Ich schaue auf meine Armbanduhr, die ich gar nicht trage. Es ist ein altes Ritual, am Wochenende keine Uhr zu tragen. Den Glücklichen schlägt keine Zeit und am Wochenende bin ich immer glücklich. Fast immer! Keine Uhr zu tragen ist quasi eine kleine Demonstration meiner zeitlichen Unabhängigkeit. Ich schaue also auf mein linkes Handgelenk ohne Uhr. Was bedeutet bei dieser jungen Frau ein Moment? Fünf Minuten oder gar sechs? Mir wird in diesem Moment die Idiotie meines Denkens bewusst. Fünf oder sechs Minuten warten, was ist das schon? Und selbst wenn es sieben wären. Als wenn ich auf dem Sterbebett über diese beschissenen fünf bis sieben Minuten sinnieren würde, um mein Verweilen, mein in-der-Zeit-Sein in der Bäckerei zu bereuen.
Die Verkäuferin lugt durch die Glasscheibe in den Backautomat. Vermutlich braucht sie keine Uhr, um zu beurteilen, ob die Brötchen gut sind. Respekt! Ich bewundere Menschen, die sich von Uhren unabhängig machen können. Ich bemerke, dass unter ihrem weißen T-Shirt am Ärmelansatz ein Tattoo hervorschaut. Es scheint eines dieser kreativeren Tattoos zu sein, kein 08-15 Farbdesaster. Ich frage mich, wie groß oder körperflächendeckend dieses Tattoo wohl ist. Vielleicht überzieht es ja ihren ganzen Oberkörper, was ich – mit Verlaub – recht anregend finde. Sind solche Gedanken schon sexistisch? Eigenartig, dass man Tattoos immer mit Heavy Metal verbindet. Nein, es muss heißen, dass ich Tattoos mit Heavy Metal verbinde. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie die junge Verkäuferin nach Feierabend ihre Schürze abbindet, nach Hause fährt und sich dort mit grantigem Death-Metal beschallt, um all den erlebten Frust mit dämlichen Kunden von sich abzuschütteln. „Ich muss so lange auf die Brötchen warten? Ich habe es eilig! Zeit ist Geld!“ Da hilft abends sicherlich nur Death-Metal. Vielleicht hört sie aber auch Helene Fischer oder Andreas Bourani. Mich enttäuschte das etwas, allein schon beim Drübernachdenken.
Ich wende meine Blicke von ihrem Armtattoo ab und schaue zur Abwechslung auf die Auslage: Bienenstich, Nussecken, Marzipanschnecken und Plunderteilchen. Ich finde den Ausdruck Plunderteilchen übrigens faszinierend. Plunder heißt ja eigentlich Krempel oder Gerümpel. Warum man so Backwaren nennt, erschließt sich mir nicht vollständig. Apropos Backwaren: Ich muss bei dem Ausdruck Backwaren immer an Bhagwan denken, was ja ähnlich ausgesprochen wird. Ansonsten finde ich es beruhigend, dass Plunderteilchen noch Plunderteilchen heißen. Vielleicht komme ich in 10 Jahren noch einmal in diese Bäckerei und man schaut mich fragend an, weil man den Ausdruck nicht mehr kennt und Plunderteilchen inzwischen Chillschnitten oder Lounchhörnchen heißen. Als ich das erste Mal in Berlin war und dort den immer sehr forschen Bäckereifachverkäuferinnen sagte, ich hätte gerne Brötchen, erlebte ich genau diesen fragenden Blick. Brötchen? Meenste een kleenes Brot, oder wat? Meine Bekannte in Berlin hatte vergessen, mir zu sagen, dass Brötchen dort Schrippen heißen.
Vielleicht sollte ich die Verkäuferin mit dem Tattoo in ein Gespräch verwickeln. Ich könnte ja die Zeit nutzen, um ihr von ebendiesem Erlebnis in Berlin zu erzählen. Ich könnte sie aber auch fragen, was sie von Anarchie hält. Ich beschäftige mich gerade viel mit Anarchie, weil ich glaube, dass das eigentlich die einzig vernünftige Gesellschaftsform ist. Wenn die Menschen nicht so grottenblöde wären und Angst vor der Entscheidungsfreiheit und dem Selbstdenken hätten. So bleibt es eben nur eine Utopie. Aber ein Gespräch in der Bäckerei beim Warten auf die Brötchen über Utopie zu führen, erscheint mir eine gute Zeitüberbrückung. Dabei fällt mir eine kleine Geschichte von Erich Kästner ein: „Der Kunde zur Gemüsehändlerin: „Was lesen Sie denn da, meine Liebe? Ein Buch von Ernst Jünger?“ Die Gemüsefrau zu Kunden: „Nein, ein Buch von Gottfried Benn. Jüngers kristallinische Luzidität ist mir etwas zu prätentiös. Benns zerebrale Magie gibt mir mehr.“ Welch´ prätentiöser literarischer Schlagabtausch.
Über den Existenzialismus las ich neulich, dass es ihm stets um das konkrete und individuelle Leben gehe. Endlich mal eine angewandte Philosophie für den Alltag und nicht dieses trockene Geknödel. War das, was hier vor sich ging, nicht gelebter Existenzialismus? Das Denken beim Verweilen? Ihre Brötchen, reißt mich die Verkäuferin aus meinen Überlegungen. Beinah hätte ich schon gewünscht, der Backautomat brauche noch etwas, um mich zwischen all den Quarktaschen und Berlinern denkend in meinem Sein lebendig zu fühlen. Lassen sie die Tüte auf, solange die Brötchen heiß sind, setzt die junge Frau hinter der Theke nach. Ja, danke, erwidere ich. Ist ja im richtigen Leben nicht anders: Wenn etwas heiß ist, sollte man es offen lassen. Das letzte sage ich nicht, denke es aber.