Die Jünger vom Silicon Valley
Hat das technische Denken verborgene Hintergründe?

Welche Rolle spielt Technik in unserem Leben? Inklusive der Informatik sicher eine zentrale Rolle. Problematisch wird Technik erst, wenn sie zur dominanten Perspektive unseres Lebens wird. Ist sie mehr als unser Instrument?

Zig Anwendungsformen der alten Dampfmaschine. Eine davon im Eisenbahnmuseum Bochum. (Foto F.J. Illhardt)
Zig Anwendungsformen der alten Dampfmaschine. Eine davon im Eisenbahnmuseum Bochum. (Foto F.J. Illhardt)

„Stelle mer uns mal janz dumm, sagte Physiklehrer Bömmel (Spitzname) im Film „Die Feuerzangenbowle (gedreht 1944), wat is e ne Dampfmaschin?“ Heutzutage ein veraltetes Symbol für Technik. Ob alt oder neu – es kommt auf den entsprechenden Denkmodus an. Mein Physiklehrer war härter als Bömmel, er sagte zu mir: Illhardt, dumm geboren, nichts dazu gelernt! Mein Technikvorbehalt ist darum eine Art Rache gegen meinen Physiklehrer – oder?

Warum dieser ironische Titel? Ironie frei ist der zweite Begriff im Titel. Silicon Valley ist eine Region in Kalifornien (USA) voll von IT- und Hightech-Firmen, bekanntes Symbol für die hochtechnisierte Welt. Warum aber der Begriff „Jünger“? Drei Merkmale prägen diesen Begriff: 1. Fokussierung und Besetztsein von einer wichtigen Idee oder Person, 2. Sendungsbewusstsein und 3. Berufung (nicht nur Job). Wir erkennen das alles wieder in vielen Menschen, die von der Technik und ihrem Nutzen überzeugt und fasziniert sind. Kein politisches Problem ohne operationale Lösung. Oft wird bezweifelt oder für weniger wichtig gehalten, was das Nichttechnische im Leben und Zusammenleben der Menschen betrifft (Wehe dem Techniker, der sich verliebt!). Heißt das am Ende: Vinyl-Nostalgie contra Mars-Entdecker?

Hier beginnt das Problem. Unser Alltag ist voller technischer Errungenschaften. Sie imitieren, ersetzen oder optimieren natürliche Abläufe. Man denke an die Entwicklung von den Vögeln zu den „tollen Kisten“, die man Flugzeug nannte, etwa die Postflieger von Antoine de Saint-Exupéry (abgeschossen 1944 bei Marseille), weiter zu den großen Passagierflugzeugen, den Überschallflugzeugen und schließlich zu den Raketen und Drohnen von heute. Das begann schon bei Leonardo da Vincis Flugmaschinen Anfang des 16. Jahrhunderts. Aristoteles bezog sich ca. 2000 Jahre vorher nur auf handwerkliche Probleme und prägte dafür den Ausdruck des herstellenden Tuns (poiesis). Demgegenüber nannte er das, was Zusammenleben betrifft (etwa die Politik): Praxis. Haben wir heute den zweiten Pol ausgeblendet?

Zahnräder (Foto Arnold Illhardt)
Zahnräder (Foto Arnold Illhardt)

„Herstellendes Tun“ ist geprägt von einem Denkmuster, das Ziele setzt und überlegt, wie man was erreichen kann, wir nennen das heute „operationales Denken“. Nehmen wir wieder das Flugzeugbeispiel. Skorsese drehte den Film „Der Aviator“. Der bekannte Flugzeugingenieur Howard Hughes optimierte die Flugmaschinen des 1. Weltkriegs, bis er an der Konstruktion der Überschallmaschinen scheiterte. Er scheiterte auch – benutzen wir die Begriffe von Aristoteles – an seiner Lebenspraxis, voll von Partys, Drogen, Frauen und schließlich totaler sozialer Isolation. Warum? Hat er vor lauter Technik die Praxis übersehen?

Übrigens, der schwer verständliche Martin Heidegger (seine NS-Mentalität spielt hier keine Rolle) bezeichnete die Technik als „Gestell“. Der Mensch, so schrieb er, flieht vor dem Leben und stellt etwas, die Technik als Gerät und Denkmuster, zwischen sich und sein Leben,. Beides zu verbinden, ist schwer. Auf Technik setzen bedeutet das „Gestell“ auf den Thron erheben. Nutzen heißt die neue Weltanschauung, eine erhobene bzw. erhabene Bedeutung greift Raum. Wer sich davon bestimmen lässt, ist Jünger.

Herstellendes Tun und alltägliche Praxis klaffen weit auseinander. Herstellendes Tun ist ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten, Praxis ist mehr oder weniger vom Bildschirm verschwunden. Technik bekommt eine eigenartig verzerrte und lebensbeherrschende Bedeutung.

Das herstellende Tun fragt zuallererst, wie man die Dinge für die eigenen Zwecke passend machen könnte. Dafür muss man das, was man sieht, in viele kleine Denkschritte zerlegen und dann zielführend neu organisieren und zusammensetzen. Praxis fragt dann eher, was die Dinge mit mir machen. Zum Alltag gehört nicht nur das, was man sieht, sondern auch das hinter der Oberfläche. Wenn man so fragt, versteht man sich und die Dinge besser. Man muss mit den Dingen leben, um sie zu verstehen. Welche Rolle also spielt Technik in unserem Leben? Ich fürchte, eine viel zu große. Dazu einige Beobachtungen:

  • Pädagogik der Technik
Technikschrott (Foto Arnold Illhardt)
Technikschrott (Foto Arnold Illhardt)

Seit Jahren führt die OECD statistische Studien über die schulische Kompetenz der Schüler in den verschiedenen Staaten durch. Im PISA-Programm wurde 1995 erstmals und von da ab regelmäßig eine Untersuchung mit dem Namen „Trends in International Mathematics and Science Study“ durchgeführt. Deutschland kam niemals unter die ersten Zehn, aber die Norweger waren immer an erster Stelle. Sie vereinten allgemeine Bildung und mathematisch-technische Kompetenz. Schließlich ist Norwegen Primus der digitalen Industrie. Scharen deutscher Bildungsexperten pilgerten dahin, um das Geheimnis zu lüften. Die Bildzeitung würde schreiben: Knacken wir das Geheimnis der Norweger. Denen werden wir zeigen, was eine deutsche Harke ist. Wenn einer erster ist, dann wir Deutschen. Schließlich waren wir ja auch mal Papst.

Die Norweger waren so gut, weil sie operatives und verstehendes Denken verbunden haben. Die Reaktion der deutschen Bildungspolitiker war typisch für die Enthusiasten der Technik – nach dem Motto: mehr Mathematik und Physik, weniger künstlerischer Kram. Ist das wirklich Kram? Es geht nicht um ein Geheimrezept, sondern um die Art und Weise des Denkens, also um die Begegnung mit der Welt des Alltags. Apropos Welt des Alltags. Die Norweger haben – wie lächerlich – das Schreiben per Hand aus dem frühen Schulcurriculum gestrichen (laut NZZ vom 12./13. 11. 2016). Sieht so Verstehen und Erobern der Alltagswelt aus? Oder geht es eher um die Amputation traditioneller Verarbeitungs- und Wissensformen? Kein Alltag ohne digitalisierte Technik. – Das Pilgerprogramm könnte durcheinandergeraten. 2016 war Estland der Sieger, Deutschland auf Platz 16. Pilgert man jetzt nach Estland? Man ist fasziniert vom Mysterium des Nichtdurchschbaren. Theologen nannten es das „mysterium fascinosum“. Technik auf Theologenspur?

  • Pilgern als Spur der Technik?

    Pilgermuschel im Stadttor der marokkanischen Königsstadt Fes. (Foto F.J. Illhardt)
    Pilgermuschel im Stadttor der marokkanischen Königsstadt Fes. (Foto F.J. Illhardt)

Die Neue Zürcher Zeitung benutzte diesbezüglich den Begriff „pilgern“. Ich bekam Sodbrennen, weil ich vorgeschädigt war. Ein Vergleich: Viele Verwaltungsfachleute aus deutschen Kliniken „pilgerten“ nach Australien, um deren Konzept einer fairen Verteilung der Gesundheitsmittel (Diagnosis related Groups – bekannt als DRG) kennenzulernen. Dabei kommt es nicht auf die Technik des Controlling an, sondern auf die Fairness, und die hat das deutsche Medizinsystem nicht. – „Pilgern“ passt nicht zu PISA, es konzentriert sich auf das Motto: Der Weg ist das Ziel. PISA will genau das nicht.

Man „pilgert“, wenn man von der Bedeutung von etwas überzeugt ist oder danach sucht. Dabei ist Pilgern ein Begriff, der in allen Religionen vorkommt. Wer pilgert, ahnt das Geheimnisvolle, ist eine Art „Jünger“. In allen Religionen gibt es die sog. Pilgermuschel, bei den mohammedanisch Pilgern nach Mekka so gut wie bei den christlichen Pilgern nach Santiago de Compostella. Schlimm. Technik wird verdreht. Hat Technik ihren Fokus nicht außerhalb der Person? Was soll dann Pilgern?

  • Applaus für was?

Wenn der Start einer Rakete gelungen ist, sieht man wie einst in Cape Canaveral, umbenannt in Cape Kennedy, und anderen Weltraumstationen wie Baikonur Techniker ganz menschlich werden. Man umarmt sich, gibt sich Bruderküsse, wie weiland die Mönche und später die Kommunisten, und klopft sich auf die Schulter. Und man applaudiert – sich selbst oder wem?

Für was applaudiert wird? Für das geglückte Resultat der Aktion. Jeder versteht die Wichtigkeit des Augenblicks. Jedoch: wer applaudiert, ist überzeugt, dass die Bedenken, ob die Aktion wirklich Nutzen gebracht hat oder nur unnütz Millionen verbrannt wurden, gegenstandslos sind. Bedenken nehmen zu, aber Aktionen, die mit Technik verbunden sind und Beleg für die technisch-operationale Weltanschauung sind, werden weiterhin durchgeführt. Sie sind alternativlos, würde die Kanzlerin Merkel sagen.

  • Technik, eine „halbe“ Wahrheit
Wozu? Demonstration der Macht? Bewundern des Geheimnisses? Oder Warten auf den Unfall? … (Foto F.J. Illhardt)
Wozu? Demonstration der Macht? Bewundern des Geheimnisses? Oder Warten auf den Unfall? … (Foto F.J. Illhardt)

Alle ernstzunehmenden Problemlösungen begründet man mit der technischen Weltanschauung, und da ist ein Technikfreak ähnlich wie ein Jünger. Die Alternative – vor allem, wenn sie kritisch ist – wird ausgeblendet, eine Lösung kommt – wenn, dann – nur aus dem operativen Denken. Das technische Denkmuster braucht die Alternative des kritischen und kreativen Denkmusters der Gestaltung von Zusammenleben. Besonders vertrackt ist die Kombination von Politik und Technik, oft als Technokratie (statt Demo-kratie) bezeichnet: Nur dann ist eine Entscheidung o.k., wenn erkannte Probleme sich lösen lassen, egal wie. Unwichtig ist, dass sie von Mehrheiten gewollt sind. Alles andere sei Diskussionskram.

Das folgende Bespiel stammt wegen Platzknappheit nur aus einem von vielen Technikbereichen. Es ist absichtlich nicht besonders selten: Eine ältere Frau (Mitte 60) hat starke Herzrhythmusstörungen. Nachbarn besorgten ihr den Einkauf. Weil sie Kinder, Enkel und Freunde nicht mehr besuchen konnte, übernahmen die das. Ihre Ärzte (wohl auch die Menschen in ihrer Umgebung) überredeten sie zu einem Herzschrittmacher, damals sicher eine Leistung der Spitzentechnik. Alles ging sehr gut, aber dann kam das Problem: Es ging ihr wieder so gut, dass sie die Nachbarn, Kinder, Enkel und Freunde selber besuchen musste. Die schönen Zeiten der Krankheit waren vorbei. Sie mochte die Liebenswürdigkeit der anderen sehr und bedauerte, dass die Umwelt so lieblos geworden ist. Erst langsam fand sie nach dem Technikschock zu einem kontaktreichen Leben zurück.

Fazit

Baumauto (Foto Arnold Illhardt)
Baumauto (Foto Arnold Illhardt)

Wer für die Verbreitung der Technik ist,

  1. überredet gern, anstatt zu überzeugen und dem anderen seine Autonomie zu lassen, jede Art von Technik muss in der freien Entscheidung des Individuums liegen.
  2. muss verhindern, dass diejenigen, die mit dem technischen Fortschritt konfrontiert sind, eventuell lang- und kurzfristige Probleme sehen, neben operativem Denken muss mit der gleichen Intensität Nachdenken über Praxis hochgehalten werden.
  3. verheimlicht oder entdramatisiert die möglichen Konsequenzen, wir müssen die Konsequenzen der Technisierung des Alltags kennen.
  4. lässt das besser weg, was Irritationen (wie die, wer sich diese Technik leisten kann, wer sie fördert usw.) auslösen könnte. Wir sollten für möglichst viele einen fairen Zugang zum Fortschritt des Lebens ermöglichen.

Man sollte nachgedacht haben, wozu Technik gut ist, bevor man sie anwendet. Silicon Valley und das Technik-Konzept werden oft von Menschen vertreten, die nur noch das kennen, was sie selber – möglichst aktuell – hergestellt und Alternativen ausgeblendet haben.