Mein ist die Rache
Eine Kurzgeschichte von Birgit Hartmeyer

Sogenanntes Todestor Auschwitz Birkenau (Foto Margareta Muer)
Sogenanntes Todestor Auschwitz Birkenau (Foto Margareta Muer)

 

Mein Beitrag anlässlich des 72. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz (27.1.1945). Inspiriert wurde ich zu dieser Kurzgeschichte durch die autobiographischen Aufzeichnungen des ehemaligen polnischen Auschwitz-Häftlings Zenon Rozanski („Mützen ab …“, 1948), durch den Roman „Bis ich dich finde“ von John Irving, der den Vater seines Protagonisten Jack Burns Leon Boëllmanns „Toccata“ in einer Kirche im Amsterdamer Rotlichtbezirk spielen lässt sowie Peter Macks wunderbares Orgelspiel auf seiner CD „In the Silence of the Night“, der hier u.a. ebenfalls Boëllmanns „Suite gothique, op.25“ (inclusive der Toccata) spielt.

 

MEIN IST DIE RACHE

 

Ich erkenne ihn sofort. Ein knochiger Hüne mit kahlem Kopf, tief eingefallenen Augäpfeln und einem hervorstehenden Jochbein, über das sich pergamentdünne Haut spannt wie verschlissenes Seidenpapier über einen alten Lampenschirm. Erschrocken weiche ich zurück in den Schutz der Dunkelheit. Was hat er hier zu suchen? Was will er? Ein Lavastrom bitterschwarzer Erinnerungen drängt in mein Bewusstsein. Nicht auffallen. Wenn du auffällst, wirst du bestraft.

Er geht gebeugt, schlurfend, ohne die Füße vom Boden zu heben. Ich höre ihn wieder, den dumpfen Laut, wenn ein Schaufelstiel auf den Rücken kracht. „Beweg dich, du Schwein!“ Er setzt sich in eine Kirchenbank, den Blick auf den Altar geheftet. Wie viele Menschen hat er auf dem Gewissen? Wie viele gedemütigt, gefoltert, getötet? Unwillkürlich taste ich nach der versilberten Phiole, die an einer Kette um meinen Hals hängt. Der Tod in weißen Kristallen. Ich denke an die rotgefleckte Marzipanleiche des SS-Offiziers, der lieber Zyankali genommen hatte als den Amerikanern in die Hände zu fallen.

Ich muss mich ablenken, irgendetwas tun. Schwerfällig steige ich die Stufen zur Empore hoch und blicke auf die Orgel, an der ich mein halbes Leben verbracht habe. Die gewaltigen Orgelpfeifen, die wie Silberspeere in dem neugotischen Gehäuse stecken, erinnern mich plötzlich an die SS-Wachen der Postenkette außerhalb des Lagers. Nicht auffallen! Fällst du auf, wirst du bestraft. Ich setze mich. Meine Hände zittern, als sie das untere Manual berühren. Die Tasten aus Elfenbein und Ebenholz verschwimmen zu einer grauen Masse, da sehe ich sie aus dem Nebel der trostlosen Ebene auftauchen: taumelnde Gestalten im Gleichschritt, auf dem Marsch zurück ins Lager. Mit letzter Kraft singen sie das Lied der Strafkompanie: „Die blauen Dragoner, sie reiten …“. Eine lange Kolonne menschlicher Schatten, an ihrem Ende die Opfer des Tages: Erschossene, mit Knüppeln Erschlagene, zu Hackfleisch Verprügelte.

Zornig treten meine Füße das Pedal. Darüber brausen mächtige Akkorde wie ein Orkan durch die Kirche: der einleitende Choral von Léon Boëllmanns „Suite Gothique“.

Im April 1943 standen sie vor meiner Wohnungstür. Zwei Schläger der Gestapo, die mich und die Kameraden verhafteten. Wer uns verraten hat, habe ich nie erfahren. Meine Finger gleiten über die Tasten. Sanfte Stimmen im Piano beantworten echoartig die gewaltigen Akkorde des Anfangs. Auf dem Transport nach Polen traf ich Mila wieder, eine frühere jüdische Klassenkameradin. Die zarte Liebesknopse, die inmitten all des Drecks und der Ausdünstungen von Angst und Verzweiflung erblühte, hatte keine Chance. Den letzten Kuss gaben wir uns auf der „Judenrampe“ in Auschwitz-Birkenau.

Der zweite Satz: Meine Hände schlagen die Tasten zum „Menuet gothique“ an. Verhaltenes Spiel mit den Klangfarben der Orgel.

Knüppelschläge trieben uns ins Lager. Überall Stacheldrahtzäune. Wachtürme mit Maschinengewehren. Barracken aus rohem Holz. Kleine Gruppen von ausgemergelten Häftlingen im Laufschritt. Es stank nach Tod. Ablieferung der Wertsachen. Tätowierung: sechs Ziffern in den Unterarm gerammt. Kaltes Duschbad. Kahlrasur. Einschmieren der Schamteile mit Petroleum. Ein Bündel von gestreiften Fetzen zum Anziehen. Alles im Eiltempo und unter Androhung von Schlägen. Schuften im Außenlager Monowitz, wo die IG Farben eine Fabrik errichtet hatte und Buna, künstliches Gummi, herstellte. Die Arbeit auf dem Kohleplatz war ein Albtraum. Immer in Bewegung bleiben! Nicht auffallen! Fällst du auf, wirst du bestraft. Beißender Kohlenstaub in den Augen. Durst. Hunger. Verzweiflung. Auf den Lokomotiven stand gepinselt: „Räder müssen rollen für den Sieg.“

Dritter Satz: Die meditativen Klänge des „Prière à Notre-Dame“ in As-Dur. Meine Gebete wurden erhört. Ich kam in das Arbeitskommando 9, das aus Elektrikern und Mechanikern bestand. Neue Hoffnung, der Todesmaschinerie zu entkommen. Dann machte ich einen Fehler. Ich „organisierte“ zwei Schüsseln Abfälle aus der SS-Küche und wurde erwischt.

Das Licht der untergehenden Sonne dringt gedämpft durch die Buntglasfenster der Kirche. Der letzte Teil der „Suite gothique“: die „Toccata“ mit ihrem düsteren Thema im Pedal. Dramatisch. Unheimlich. Bedrohlich.

„25 und SK“, lautete die Strafe. 25 Peitschenhiebe und die Strafkompanie! Ein Todesurteil. Für einen winzigen Moment versagen meine Finger den Dienst, ein Zehntelsekundenzittern, aber ich höre den Missklang sofort. Der Kapo der Strafkompanie war einer der wenigen im Lager mit einer vierstelligen Nummer – und berüchtigt für seine Grausamkeit. Ein knochiger Hüne, noch jung, mit kahlgeschorenem Kopf, tief eingefallenen Augäpfeln und einem hervorstehenden Jochbein, über das sich pergamentdünne Haut spannte. Nie werde ich das sadistische Glitzern in seinen Augen vergessen! Er trug eine schwarze Uniform. Wir nannten ihn das schwarze Schwein.

Boëllmanns Horror-Toccata donnert durch die Kirche, als läge sie im Wettstreit mit den vier apokalyptischen Reitern, die mit diabolischen Fratzen auf dem Deckenfresko galoppieren. Ohrenbetäubende Akkorde mit gewaltigem Widerhall. Ein Schaufelstiel kracht auf meinen Rücken. „Los, schneller! Beweg dich, du Hund!“ Schwerstarbeit im Laufschritt. Die Eisenräder des hoch beladenen Karrens bohren sich tief in den Lehmboden hinein. Neue Schläge, diesmal erwischt es meinen Nachbarn, einen Juden. Wir stoßen den Karren mit ganzer Kraft vorwärts, er fängt an zu schwanken und kippt mitsamt der Kiesladung um. „Ihr faulen Hunde!“, brüllt der Kapo. Ich fühle einen schmerzhaften Schlag auf meinem Rücken. „Ihr sabotiert die Arbeit!“ Der zweite Schlag trifft den Juden, der mit einem gellenden Schrei zu Boden fällt.

Die „Toccata“ setzt zu ihrem grandiosen Finale an: ein gewaltiger, orgiastischer Rausch. Wie ein rasender Dämon prügelt der Kapo auf sein Opfer ein, auf den Kopf, den Bauch, die Brust, die Beine, die abwehrenden Hände, bis nur noch eine blutige Fleischmasse übrig bleibt. Ich spiele wie ein Besessener. Dann – endlich – der erlösende Schlussakkord.

Erschöpft gehe ich danach die hölzerne Treppe hinunter. Das schwarze Schwein sitzt unbeweglich in der dritten Reihe. Mit zusammengebissenen Lippen nähere ich mich und merke bei jedem Schritt, dass sich mein Herz verkrampft, wie damals. Nur nicht auffallen. Wer auffällt, wird bestraft. Ich fasse an die Phiole. Die Zeit ist gekommen, auf die du so lange gewartet hast, flüstert sie. Ich stehe neben ihm. Er blickt auf. Das sadistische Glitzern in den Augen ist einem gleichgültig-stumpfen Ausdruck gewichen.

„Erkennst du mich nicht?“, frage ich und bin erstaunt über die Festigkeit in meiner Stimme.

Der Blick bleibt stumpf.

„Auschwitz-Buna“, sage ich und bemerke ein winziges Flackern in seinen Augen. „Häftling 127067, Strafkommando.“

Sein Gesicht ist aschfahl geworden. Ich wünsche mir einen Schaufelstiel, um auf den alten, knöchernen Rücken dieses Tiers zu schlagen, einen Hieb für jeden Einzelnen, der unter seiner brutalen Folter gestorben ist. Aug um Aug, Zahn um Zahn. Er fasst sich an sein Herz und ringt nach Luft – eine widerliche Muräne, die sich krümmt und windet, um dem Erstickungstod zu entgehen. Ich zögere, dann gehe ich in die Sakristei und fülle den Messkelch mit Wasser. Frisch und sprudelnd kommt es aus dem Hahn. Wasser! Unsäglicher Durst. Bitte einen Schluck Wasser! Er reicht uns einen Becher, nur um ihn dann laut lachend vor unseren Augen auszuschütten. Ich fasse an die Phiole. Plötzlich muss ich daran denken, wie ich ihn einmal im Badehaus gesehen habe, nackt unter der Dusche: Sein Rücken war eine Kraterlandschaft aus wulstigen Narben.

Als ich zurückkehre, sitzt er zusammengesunken in der Bank. Ich setze den Kelch an seine bleichen Lippen. Er trinkt. Durst. Unsäglicher Durst. Der Kelch ist leer. Er hat nicht einen Tropfen übrig gelassen. Ich wische den Rand mit einem weißen Tuch ab, wie es der Priester nach der Wandlung macht. Dann bringe ich das Gefäß wieder in die Sakristei.

Die Kirche ist verwaist, als ich zurückkomme. Ich fasse an meinen Hals, berühre die Phiole mit den weißen Kristallen.

Mein ist die Rache, spricht der Herr.