Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Wahrheit verkommen ist. Vielleicht war das schon immer so, fällt aber in der digitalisierten Jetztzeit vermehrt auf. Es wird verdreht, gelogen und falsch inszeniert, dass sich die Balken der Wahrheit biegen. Das stört soweit niemanden, weil die Wahrheit niemanden mehr interessiert. Wie auch, wenn das Vertrauen verloren gegangen ist.
Du sollst nicht lügen
Zu dem schier unermesslichen Wertekatalog, den mir meine Eltern zu Lebzeiten vermittelten bzw. zu vermitteln versuchten, gehörte die Tugend, stets die Wahrheit zu sagen. Nicht alle Werte waren in ihrer Sinnhaftigkeit ausgegoren, aber die Sache mit der Wahrheit und damit dem Nicht-Lügen, damals noch teiluntermauert durch das Achte von zehn Geboten, erschien mir durchaus akzeptabel. Nichts fühlt sich erbärmlicher an, als das Gefühl, belogen zu werden. Doch schon Wilhelm Busch warnte: “Wer dir sagt, er hätte noch nie gelogen, dem traue nicht, mein Sohn!” Als ich als junger Mann mit meinem alten R4 durch Berlin fuhr, wurde ich von einer Polizeistreife angehalten, da ich vermeintlich bei Rot über die Ampel gefahren war. Ich erzählte dem Polizisten, dass es mir leid täte (stimmt), dass ich mich in Berlin nicht auskennen würde (geflunkert) und außerdem bei dem Regen schlecht hätte sehen können (geflunkert). Das Ende vom Lied: Der nette Beamte ließ mich straffrei weiterfahren, aber mit der Auflage, gefälligst Berlin besser kennenzulernen. Die leicht verfälschte und damit nicht ganz der Wahrheit entsprechende Ausflucht hat mir natürlich eine Menge Geld erspart, war aber sozusagen halbgelogen. Zum besseren Verständnis: Eine Lüge ist eine absichtliche Verdrehung der Wahrheit und – damit wäre auch das geklärt – der Irrtum ein fälschliches Fürwahrhalten ist. Meine kleine Anekdote fällt allerdings vermutlich eher unter die Rubrik „billige Ausrede“ und ist demnach weit entfernt von Begriffen wie Lüge und Wahrheitsverdrehung.
Wahrheit – ein philosophischer Disput
Obschon das die Grenzen der Verständlichkeit sprengende Disputieren in der Philosophie oftmals schwer auszuhalten ist, kommt man bei dem Begriff der Wahrheit um das Philosophieren nicht drum rum: Es ist ein hochinteressantes Gebiet und wer sich noch nicht dazu geäußert hat – verständlich, oder unverständlich – scheint kein ernstzunehmender Philosoph zu sein. Aber die vielen Auslegungen der älteren und neuen Philosophie bezüglich der Wahrheit zeigen auch, dass man weit davon entfernt ist, eine allseits akzeptierte Auslegung des Begriffs präsentieren zu können. Konsens besteht, dass es viele Wahrheiten gibt, aber was nun letztendlich der Wahrheit letzter Schluss ist bleibt im Nebulösen. Wahrheit ist somit die „Übereinstimmung einer sprachlichen Aussage mit einem objektiven Sachverhalt“ (Wikipedia). Oder – um auch noch Hegel eine Chance zu geben – eine Übereinstimmung zwischen Urteil und Realität; bleibt nur noch die Frage, was „objektiv“ und was „Realität“ ist. Aber vielleicht muss das so ungeklärt bleiben, da eine endgültige Klärung der Wahrheit das Ende der Philosophie bedeuten würde.
Jedenfalls für Teilbereiche unseres Seins erscheint eine Quasi-Wahrheit möglich, da bestimmte Beweisführungen und Vereinbarungen schlussendlich nur eine Aussage möglich machen. Doch je komplexer solche Teilbereiche werden, umso schwieriger wird es, den Wahrheitsbegriff festzulegen. Solche komplexen Fragen könnten sein: Gibt es nun einen menschengemachten Klimawandel oder nicht? Ist Atomkraft gesundheitsgefährdend oder nicht? Ist das Ziel der AfD, die Demokratie zu zerstören oder nicht? Man könnte aber auch fragen: Stimmt es oder liegt es daran, wer die Aussage macht?
Wahrheit – ein Schattenbereich
Die Wahrheit, so entsteht schnell der Eindruck, existiert nicht wirklich, sondern sie befindet sich in einer Art Schattenbereich unseres Denkens, einer Art Darkroom, der für den Normalmenschen unbetretbar erscheint. Natürlich, werden wir sagen, ist es die absolute Wahrheit, dass der Schnee weiß ist. Ein gern strapaziertes Beispiel. Doch gilt diese Aussage auch dann, wenn es sich um von PKWs plattgefahrenen schmutzig braunen Matschschnee handelt? Das ist etwas anderes, wird man einwerfen, aber der ureigentliche Schnee, so wie er mal aus den Wolken fiel, ist weiß. Vermutlich muss nun erst einmal definiert werden, was weiß ist! Und ist etwas weiß, nur weil wir es als weiß definiert haben und ist es auch nachts weiß? Kompliziert! Eine solche Wendung wird vermutlich jede Auseinandersetzung mit der Wahrheit haben: Sie wird immer zwanzig neue Ergründungen mit sich bringen. Sollte man also den Wahrheitsbegriff verwerfen? Nein, aber wir sollten vielleicht häufiger aufhören, das Wörtchen wahr zu gebrauchen; seine Verwendung, so die sogenannte Redundanztheorie, ist in der Regel überflüssig. Und nein, es ist nicht alles wahr, was der Papst sagt! Vor allem aber sollten wir mal prüfen, warum kaum mehr jemand an die Wahrheit glaubt!
Die alltägliche Portion Wahrheit
In der Auseinandersetzung mit der Wahrheit kann man sich natürlich einen Wolf denken, deshalb möchte ich seinen Umfang etwas eingrenzen. Mir geht es nicht um die Wahrheit vor Gericht und nicht um die Wahrheit, was wissenschaftliche Phänomene anbetrifft, sondern um die Wahrheit in der näheren und weiteren zwischenmenschlichen Beziehung. Dazu zähle ich als für wahr verkaufte Aussagen in der Alltagskommunikation, aber auch z.B. in der Politik. Und die Auseinandersetzung damit halte ich deshalb für wichtig, da wir uns in einem Zeitalter der Unwahrheit und des akzeptierten Lügens befinden. Ist der anfangs erwähnte Wertekanon meiner Eltern damit überflüssig geworden? Der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar soll (tatsächlich? Ist das wahr?) mal gesagt haben: “Die Menschen glauben viel leichter eine Lüge, die sie schon hundertmal gehört haben, als eine Wahrheit, die ihnen völlig neu ist.” Nun heißt ja „glauben“ nicht wissen. Wenn wir also etwas nicht besser wissen, bleibt uns natürlich der Wahrheitscharakter verborgen und wir halten etwas für wahr. Wenn uns aber klar ist oder wir davon ausgehen, dass es sich um eine Lüge bzw. um eine verdrehte Wahrheit handelt, warum glauben und unterstützen wir sie trotzdem? Bei der Wahrheitsfrage kommt noch ein weiterer spannender Faktor hinzu: Wer ist die Person, die etwas als wahr erklärt? Ist diese Person einflussreich oder mit besonderen Titeln versehen, so glauben wir das Gesagte leichter, als wenn es irgendwer sagt. Zum Beispiel ich in diesem Text.
Natürlich hat es zunächst einmal großen Einfluss auf das für Richtighalten einer Wahrheit, ob es sich um einen angenehmen oder unangenehmen Hintergrund handelt. Interessanterweise kommen selten Beanstandungen, Zweifel oder Proteste, wenn es sich um positiv gerichtete Aussagen dreht. In der jetzigen, durch Corona geprägten Zeit ist eine Information, dass weniger Menschen an oder mit Covid-19 gestorben sind, erfreulich und wird daher nicht weiter hinterfragt oder kritisiert. Steigt aber die Zahl der Toten, rasselt es Proteste, da es bedrohlich klingt und daher die Richtigkeit angezweifelt wird. Als in einem Fernsehbericht ein junger Patient begleitet wurde, der aufgrund der Erkrankung auf der Intensivstation behandelt werden musste und bei dem sogar ein tödlicher Ausgang erwartet wurde, kritisierten vor allem Coronaleugner, dass dies Panikmache und frei erfunden sei. Genau dieser Effekt ist auch zu beobachten, wenn vor allem auf rechtsdrehenden Veranstaltungen von Lügenpresse die Rede ist. Es ist sozusagen ein Pauschalurteil, trifft aber interessanterweise nicht für die von Rechten bevorzugte Presse zu. Eine bessere Herangehensweise wäre, bei jedem Artikel sein individuelles Prüfverfahren einzuschalten, um das Geschriebene oder Gezeigte auf seine Wahrheit zu untersuchen, doch ist das natürlich durch die eigene Filterblase, wie es heute so schön heißt, beeinflusst: Während ich die TAZ oder ähnliche Presseorgane nutze, bei denen ich weiß, dass sie keine Parteizugehörigkeit oder einer Verlagsfamilie unterstehen, zudem durch eine kritische Leserschaft eine Beobachtung erfahren, wird sich ein Rechter natürlich eher auf die Ergüsse einer COMPACT-Ausgabe beziehen.
Unwahrheit macht krank
Was ist mit der Wahrheit im privaten Bereich? In meiner Tätigkeit als Psychotherapeut werde ich ständig mit dem Thema Wahrheit oder Lüge konfrontiert. Die jungen Patienten, die ich schwerpunktmäßig betreue, erzählen sehr oft von Erfahrungen, in denen sie angelogen wurden. Das können z.B. vermeintlich gute Freunde oder die eigenen Eltern sein, die ihnen etwas vorgemacht haben, was sich schlussendlich als unwahr und somit als gelogen entpuppte. Besonders schlimm sind Lügen, die willentlich eingesetzt wurden, um z.B. jemanden schlecht zu machen und um daraus eigene Vorteile zu ziehen. Solche Vorgänge sind allgemein bekannt, doch weniger hört man davon, wie es Menschen geht, die belogen, betrogen oder mit Unwahrheiten konfrontiert wurden. Ein solcher Zustand kann existenziell belastende Auswirkungen haben. Das Ergebnis ist oftmals ein schweres Mischgefühl aus Erschütterung, Enttäuschung, Trauer, Angst und Wut. Hier passt sehr gut der Ausdruck, in seinen Grundfesten erschüttert zu werden. Ein solch vehementer Zustand findet sich natürlich ebenso im Erwachsenenbereich und ist hier vor allem in der Paartherapie omnipräsent. Viele Menschen werden daran krank, leiden über Jahre, vor allem schwindet ihr Vertrauen in die Menschen. Nicht selten sind Depression und bei Jugendlichen selbstverletzendes Verhalten die Folge. In der Regel folgt auch ein Loslösen oder Trennen von der belügenden Person, was natürlich bei engen Beziehungen desaströse Folgen haben kann.
Wahrheit schafft Vertrauen (wäre sie denn wahr!)
Doch das Erleben einer Unwahrheit hat auch Auswirkungen auf den eigenen Umgang mit der Aufrichtigkeit. Lerne ich früh, dass es meine sozialen Interaktionspartner mit der Wahrheit nicht sehr ernst nehmen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, selbst so zu reagieren und zu handeln. Solche Enttäuschungen im sozialen Bereich werden schließlich auch auf andere Bereiche übertragen, d.h. das eigene Verhalten ist ständig durch Skepsis, Unglaube oder Misstrauen gezeichnet. Kein Wunder, wenn solche Menschen zu Ideologien, Religionen oder politischen Richtungen tendieren, die nach außen wahrhaft und glaubwürdig erscheinen, tatsächlich aber auf einem Gemisch aus Betrug, schlechter Recherche, Verschwörungsdenken und autoritativer Gesinnung aufbauen (Beispiel: Sekten, rechtsradikale Gruppierungen, Verschwörungsanhänger etc.).
Die Ausführungen zeigen, dass es ein dem Menschen innewohnendes Bedürfnis nach Ehrlichkeit und damit auch nach Wahrheit zu existieren scheint. Offenbar unterscheiden aber viele Menschen, ob es sich um Unwahrheiten im privaten oder aber öffentlichen Bereich handelt. Im politischen, genauer gesagt parteipolitischen Umfeld ist es an der Tagesordnung, mit Unwahrheiten zu agieren. Im Klartext: Politiker, die in einem Wahlprozess die Verantwortung, vor allem aber das Vertrauen übertragen bekommen haben, betreiben undurchsichtige Machenschaften, verbergen Zusammenhänge oder lügen gar, wenn sie gerichtlich belangt werden. Als die überparteiliche und institutionell unabhängige Internetplattform „abgeordnetenwatch.de“ Parteien aufforderte, ihre Verbindungen zur Industrie, sowie Nebeneinkünfte offenzulegen, wurde dem nur bedingt bis gar nicht nachgekommen. Peer Steinbrück beschimpfte die Gruppierung gar als kommerziellen Haufen. Ist es zu viel verlangt von Volksvertretern Aufrichtigkeit und Integrität, also wahrheitsaffine Aspekte, zu erwarten? Wären sie nicht hochverantwortlich dafür, wahrheitsgemäß und nachprüfbar zu walten? Vor allem aber stellt sich mir immer wieder die Frage, warum man solche Personen nicht zur Hölle schickt oder mindestens ihres Amtes enthebt – und zwar direkt! Doch die Bereitschaft, Unwahres zu akzeptieren, ist erschütternd hoch. Mich selbst belastet es genauso, wie die Erfahrung einer privaten Enttäuschung durch eine Lüge.
Wahrheit – ein politischer Krampf
Im amerikanischen Wahlkampf 2020 hatte Trump mehrfach seine Abwahl als Präsident angezweifelt und als Betrug deklariert. Seine Aussage: Die Wahlen waren beeinflusst oder gefälscht. Schuld daran waren immer die politischen Gegner oder irgendwelche fremden Mächte. Die Aussage konnte selbst gerichtlich nicht nachgewiesen werden, womit es sich demnach um eine Aneinanderreihung von Unwahrheiten handelte. Bis heute fehlen jegliche Beweise, die für eine Bewahrheitung notwendig gewesen wären. Und trotzdem unterstützen Hundertausende seine Lügen, die er in den sozialen Netzwerken inszenierte. Ist die Zugehörigkeit oder Sympathie zu einer politischen Partei wichtiger als das Wissen um Lügen? Vielleicht gehen einige Anhänger Trumps nicht von Lügen aus, sondern glauben ihrem Präsidenten, weil sie ihn für eine unanfechtbare Autorität halten und – was die Sache nicht einfacher macht – sie selbst autoritätshörig sind oder das Hinterfragen nicht gelernt haben. Doch genau hier beginnt sich der Disput über die Wahrheit auf einen Kernpunkt zu konzentrieren.
Zufällig fand ich kürzlich ein Zitat der Philosophin Hannah Arendt:
„Man kann sagen, dass der Faschismus der alten Kunst zu lügen gewissermaßen eine neue Variante hinzugefügt hat – die teuflische Variante, die man sich denken kann – nämlich: Das Wahrlügen.“
Es ist nicht nur ein Trump´sches Phänomen, Lügen als Wahrheit zu verkaufen, damit arbeiten auch deutsche Politiker, wobei mir scheint, dass dieses Vorgehen mit der Ausprägung konservativer Einstellung zunimmt. Interessant dabei ist, dass vor allem Politiker, die auf von ihnen nicht weiter definierte Werte pochen und von Wertegesellschaft faseln, den meisten Lügendreck am Stecken haben. Ich persönlich habe angeleitet durch Sprach- und Textanalysen im Psychologiestudium gelernt, den Wahrheitsgehalt von Aussagen zumindest weitgehend überprüfen zu können, was mich natürlich nicht zum Hüter der Wahrheit auszeichnet. Daher ist mein Vertrauen in das Entscheiden und Handeln in politischen Gremien (Landes- oder Bundestag) nur noch rudimentär vorhanden. Der Anteil an Falschdarstellungen, Halbdarstellungen, Verdrehungen, Vertuschungen, Wahrlügen, vor allem aber das Nicht-Verständlich-Machen von wie auch immer gearteten Prozessen durch eine verklausulierte Sprache ist immens und für mich lange schon nicht mehr tragbar und auch nicht wählbar.
Glaube und schöne Wahrheit
Und dann gibt es da einen Spezialfall: Die Religionen. Hier spielt der Wahrheitsbegriff eine große Rolle und das obschon ja von Glauben und nicht von Wissen die Rede ist. Mich erinnert der Umgang mit der hier beschworenen Wahrhaftigkeit z.B. in der katholischen Kirche stets an ein Erlebnis, das mir ein chronisch kranker Patient einmal erzählte, der von einer Heilpraktikerin betreut wurde. Die Dame sagte sinngemäß, dass ihre Künste auf jeden Fall wirken würden. Wenn nicht, dann läge es daran, dass der Patient nicht an ihre Fähigkeiten glaube. Ein perfider Trick! In diese Richtung tendiert auch die Wahrheitsargumentation auf Kathpedia, der freien katholischen Enzyklopädie:
„Bevor man glauben kann, muss man die Gewissheit haben, dass Gott existiert. Wer mit Sicherheit wissen will, ob Gott existiert, muss aber auch bereit sein, alles zu tun, was Gott von ihm verlangt, wenn er ihn erkannt hat. Andernfalls riskiert er, dass sein schlechtes Gewissen so viel Einwände findet, dass er es niemals schafft, die Wahrheit zu erkennen.“
Ebenfalls ein krasser Trick, bei dem immer auch viel Angstmacherei im Spiel ist: Glaubt oder landet in der Hölle, Verdammte dieser Erde. In einer Diskussion mit einem strengen Katholiken und Vatikanverehrer, bekam ich auf die Frage, ob denn die Existenz Gottes beweisbar wäre, zur Antwort: „Gott existiert, weil es so ist!“ Ähnlich agiert auch Donald Trump! Nun ist mein Verhältnis zu allen Religionen ebenso gespalten wie das, was ich im Zusammenhang mit der Politik beschrieben habe. Da ich aber weiß, wie vielen Menschen Religion einen temporären Halt gibt: Sollen sie glauben, mich aber damit verschonen. Nur werte Katholiken, Muslime, Juden und sonstigen Glaubensbekenner: Dann haltet euch bitte auch an die Gesetze des Glaubens. Was hat es denn noch mit Wahrheitsverkündigung zu tun, wenn katholische Priester Kinder missbrauchen, wo doch Sexualität allerorts aus Glaubensgründen gebrandmarkt wird, muslimische Männer ihre Frau unterdrücken, obschon sich laut Koran das Paradies unter ihren Füßen befindet und wie kann es sein, dass durch Juden aufgrund eines religiösen Fanatismus kriegerische Gewalt ausgeübt wird, obschon das Judentum Gewalt gegen Andersgläubige verbietet. In freier Anlehnung an Pippi Langstrumpf fällt mir dazu ein: „Ich mache mir die Wahrheit – widdewidde – wie sie mir gefällt.“ Auch wenn es den Kirchen schwer fällt, eine beweisbare Weisheit präsentieren zu können, haben sie alle dennoch eine verdammte Pflicht: Die Gläubigen nicht hinter das Licht zu führen und ihr Vertrauen schändlichst – im wahrsten Sinne – zu missbrauchen. Mit jedem Missbrauchsskandal, mit jeder religiös verorteten Gewalttat sinkt nicht nur die Zuversicht in die jeweilige Religion, sondern auch das Vertrauen in das Gesamt des menschlichen Seins.
Gesunder Menschenverstand – auch das noch!
Im Zusammenhang mit den momentan hoch angesagten, aber blind übernommenen und jenseits jeder Beweisbarkeit gemachten Äußerungen von Verschwörungsideen wird gerne auf den gesunden Menschenverstand verwiesen, der einem die Richtigkeit oder den Wahrheitsgehalt einer Aussage vor Augen führen soll. Dazu habe ich neulich einen meiner „Satzzeichen“ formuliert, die ich schon mal im Netz und sonst wo hinterlasse: „Sie suchten den gesunden Menschenverstand und fanden ihn begraben unter dem Eigennutz, unreflektiert übernommenen Einstellungen, sowie eng geschnürten Denkkonstrukten.“ Ein gesunder Menschenverstand ist immer relativ und daher wahrhaftig nicht existent. Zudem wird gerne ausgeblendet, dass es natürlich auch einen kranken Menschenverstand gibt, der u.a. für viele psychiatrische Störungen zuständig ist. Wann und wie weiß ich, wie der Gesundheitszustand meines Verstandes grade so beschaffen ist? Wenn ich morgens nicht gefrühstückt habe, sehe ich überall Brötchen auf der Straße liegen. Also, auch kein verlässlicher Garant für das Finden von Wahrheit.
Ein Lösungsversuch
In meiner Tätigkeit in einem deutschen Leitlinienkomitee für die juvenile idiopathische Arthritis, eine chronische Erkrankung, konnte ich den Prozess der Wahrheitsannäherung gut beobachten. Die vielen Experten aus unterschiedlichen Kliniken und medizinischen Bereichen mussten durch zahlreiche juristisch relevante Nachweise bestätigen, nicht in Abhängigkeiten zu Pharmafirmen zu stehen. Erst dann war es möglich, dass man sich mit dem Thema in langwieriger Form befasste und in möglichst hohem Konsens über systematisch entwickelte Feststellungen eine Lösung für eine medizinische Frage erreichte. Je höher die Übereinkunft, desto besser die Aussage, dass z.B. ein Medikament XY geeignet für die Behandlung einer bestimmten Krankheitsausprägung sei. Sicherlich wird man den Wahrheitsgehalt einer solchen Veranstaltung für sehr hoch einschätzen, doch sicherlich ließe sich natürlich auch dieser Prozess an vielen Stellen kritisieren.
Bei aller Beschäftigung mit der Wahrheit bleibt das schale Gefühl zurück, auf keinen grünen Zweig zu kommen: Was ist denn nun wahr und wodurch wird der Wahrheitsgehalt festgelegt. Nehmen wir einmal an, es gäbe ein philosophisch-ethisches und vor allem unabhängiges Leitlinienkomitee, dass u.a. der Parteipolitik vorgeschaltet wäre. Diese Gruppe würde bei komplexen Themen eingeschaltet und würde nun eine Angelegenheit ob ihrer Wahrheit überprüfen. Dabei würde das Komitee z.B. eine Skalierung vornehmen, die zunächst die Richtigkeit einer Aussage auf einer 10-poligen Skala festlegt und anschließend nach einem mehrphasigen Kriterienmodell bewertet. Solche Kriterien könnten sein: Beweisbarkeit, publizierte wissenschaftliche Forschung, Auswirkungen einer Widerlegung des Zubewahrheitenden, höchstmögliche und allgemeine Nutzen der Aussage usw. So könnte z.B. überprüft werden, ob der Klimawandel menschengemacht ist oder ein natürlicher Vorgang ist oder beides. Eine nette Vorstellung, doch wirft dies natürlich die Diskussion auf, wer in diesem Komitee sitzt, wie diese Personen bestimmt wurden, wie eine Unabhängigkeit gewährleistet werden kann und auf welche Quellen sich die Mitglieder bei der Bewertung stützen. Es gibt zu viele Beispiele inklusive der Politiker selbst, in denen deutlich wird, dass die Entscheidung nicht einer Logik oder wissenschaftlichen Expertise folgt, sondern durch private Interessen, Profilierungsdrang, Einfluss durch wirtschaftliche Aspekte oder z.B. Parteidisziplin bestimmt wird. Deshalb hat Wahrheit immer auch etwas mit Vertrauen zu tun und genau das fehlt bei vielen Wahrheitsfindungen. Das Ergebnis: Niemand glaubt mehr an die Existenz von reinen Wahrheiten, selbst wenn es möglich wäre, sie zumindest annäherungsweise zu erreichen. Ein politischer Lump wie Trump macht sich nicht nur weltweit lächerlich, er unterstützt dadurch obendrein einen weltweiten, millionenfachen Vertrauensverlust. Wie sollen die Menschen an Wahrheiten glauben, wenn sie von denen, die sie vertreten, verkünden oder gar verkaufen mit Füßen getreten werden. Ein solches Misstrauen richtet sich nicht mehr nur gegen Politiker und Religionsvertreter. Was ist mit Wissenschaftlern, die sich an die Industrie verkauft haben? Was ist mit Bänkern, die Geld im großen Stil veruntreuen? Was ist mit Polizisten, die willentlich lügen und falsche Aussagen tätigen? Was ist mit Juristen, die Abzockfirmen decken und sich in nicht-öffentlichen Verhandlungen unrechtmäßig verhalten? Usw. Es wird nicht nur ein Krieg gegen die Natur geführt, wie es neulich der amtierende Un-Chef Guterres meinte, sondern auch ein Krieg gegen die Wahrheit.