Gedanken über das Älterwerden, sowie kritische Überlegungen zu Körperkonzept, Gesundheit, das Leben an sich, Politik und das Bild des Alters in der Gesellschaft.
Kurz gesagt: um das Alter seinen Sinn zu erfüllen und seiner Aufgabe gerecht zu werden, muss man mit dem Alter und allem, was es mit sich bringt, einverstanden sein, man muss Ja dazu sagen. Ohne dieses Ja, ohne die Hingabe an das, was die Natur von uns fordert, geht uns der Wert und Sinn unsrer Tage – wir mögen alt oder jung sein – verloren, und wir betrügen das Leben. (1952 aus „Über das Alter“ von Hermann Hesse)
Älterwerden – Marion – noch 59 Jahre
Kürzlich habe ich meine alten Fotos wieder hervorgekramt. Wollte ich mich erinnern an das Denken und Handeln des Menschen auf dem Foto oder wollte ich wissen, ob ich mich überhaupt erinnern kann? Ich als Kind zu Weihnachten, mit dem obligatorischen Arztkoffer in der Hand und strahlendem Gesicht, allein als Jugendliche mit versucht sexy Pose, dann später als junge Frau, die beiden Kinder kamen hinzu, Aufnahmen an verschiedenen Orten, eben völlig unterschiedliche Bühnenbilder. Und kaum sichtbar, aber stetig verändert sich die Frau auf den Fotos. Vom unausgereiften schlaksigen Teenager hin zur reifen Frau. Die Fältchen um die Augen werden mehr und mehr, hier und da ist ein graues Haar zu finden. Doch ich habe mich stets in dem jeweiligen Alter wohl gefühlt und es niemals als schrecklich empfunden, älter zu werden; ganz im Gegenteil, ich fand es spannend und ich bin nach wie vor neugierig, was mir das Leben bringt! Mit allen Fasern meines Körpers will ich die Lust am Dasein spüren und damit meine ich auch die Erotik! Denn das ist das Wunderbare am fortgeschrittenen Alter, ich habe sie nie so entspannt erlebt, ich muss mir schließlich nichts mehr beweisen!
Ich schaue immer noch gerne in den Spiegel, was mir entgegenblickt ist eine Frau, die gelebt und schon viel erlebt hat und dieses Gesicht gefällt mir. Eine Frau mit einer lebendigen Vergangenheit, voll mit Eindrücken aus Reisen, Freundschaften, bestehenden und vergangenen, beruflichen Veränderungen, Musik, Literatur, Kultur und familiären Veränderungen, sowohl traurige als auch schöne. Ich vertrete seit mehreren Jahren den Standpunkt, dass Frauen ihre Attraktivität erst in den Jahren um die vierzig gewinnen, als wenn die zunehmenden Jahre das gewisse Gewürz für das komplette Bild liefern würden! Zumindest finde ich mich ab Taille aufwärts ganz passabel! Was abwärts nicht zu sehen ist, nun ja, das sind die paar Pfunde mehr, von denen man sagt, dass sie im Alter nicht so schlimm wären. Wer mag schon faltige geschrumpelte Frauen? Kartoffeln in diesem Zustand werden entsorgt!
Das ist das Eine! Doch wie sieht es mit der körperlichen Leistungsfähigkeit aus? Sprich der Beweglichkeit von den Fingerspitzen bis zu den Zehen? In der Zeit zwischen meinem 35 und dem 50. Lebensjahr war ich ziemlich sportlich, habe mehrmals in der Woche meine Joggingrunden gedreht und sogar abends Sportstunden im Sportverein gegeben. Doch jetzt gehe ich mehrmals in der Woche arbeiten und bin abends abgekämpft und verspüre wenig Lust das Sofa mit dem Sportstudio zu tauschen. Morgens sexy aus dem Bett zu springen oder hoppla hopp mal schnell vom Keller in den ersten Stock zu sprinten, ist nicht mehr, Baby! Es zwickt hier und da und ich merke, das Zipperlein ist auch bei mir angekommen! Und diese Tatsache hat es bei mir extrem schwer, zur Normalität zu gelangen. Aber immerhin haben wir uns neue Räder gekauft! Räder, die wir mit Muskelkraft antreiben müssen.
Obwohl ich mir immer wieder sage, dass ich noch viele Jahre vor mir habe, setzt sich der Gedanke fest: 2/3 meines Lebens sind vorbei! Silvester eines jeden Jahres lassen wir das vergangene Jahr Revue passieren und stellen wie immer fest: Es ging so schnell vorbei! Und was sind da vielleicht 30 Jahre, die noch vor mir liegen? Bis zu dem Moment, über den man nicht so gerne spricht. Oder möglichst noch nicht, da doch der Zeitpunkt bitte in ferner Zukunft liegen möge! Und wer weiß, was sich in den nächsten Jahren im wissenschaftlichen und medizinischen Bereich alles ereignet? Die Hoffnung auf ein langes und fittes Leben stirbt zuletzt! Die Hoffnung nährt sich aus der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten, sagen wir mal 100 Jahre!
Bei den alten Fotos fand ich neben dem besagten Weihnachtsfoto auch noch eines von mir mit meinen Großeltern, es muss das Jahr 1966 gewesen sein. Meine Oma väterlicherseits war zu der Zeit Ende 60, meine andere Oma Mitte 40. Doch welch ein starker Kontrast bestand zwischen ihnen und insgesamt zu den heutigen Frauen in dem Alter, sprich auch zu mir! Die Mutter meines Vaters trug Wollstrümpfe, farblose Kleider und darüber meistens geblümte Kittel und dazu Filzpantoffeln. Die Oma mütterlicherseits fast zwanzig Jahre jünger, war da schon mit mehr Chic gekleidet, doch auch für die heutige Zeit mehr als antiquiert. Beide hatten den Krieg erlebt, schreckliches erfahren und geliebte Menschen verloren. Obgleich ihr Alter nicht überdeutlich sichtbar hervortrat, bestand der größte Unterschied zwischen ihnen in ihrer eigenen Reflexion und in der intellektuellen Fähigkeit Prozesse, gesellschaftlicher oder politischer Natur zu beobachten und zu kommentieren. Sie waren sogar in unterschiedlichen Jahrhunderten geboren und die Rolle der Frau in der Gesellschaft, Ende des 19. Jh. Anfang des 20. Jhd. war die der Mutter und der gehorchenden Ehefrau. Die Mutter meines Vaters erlebte zu den Erlebnissen des 2. Weltkrieges auch noch die Schrecken des ersten Krieges. Sie und ihr Mann, mein Großvater, wirkten rückblickend auf mich keineswegs alt und weise, sondern eher wie gebrochene Menschen, die ihren Lebenswillen aufgegeben haben und nur noch müde auf den Tod warteten. Ihre kognitiven Fähigkeiten wirkten reduziert, aber vielleicht auch gar nicht gefordert. Welch gewaltiger Unterschied besteht doch in jeder Beziehung zu den heutigen Frauen in diesem Alter!
Meine Oma mütterlicherseits wurde 1920 geboren, die Zeit der ersten Generation der emanzipierten Frauen, die den Willen hatten, sich zu bilden und einen Beruf zu ergreifen. Aufgewachsen mit vielen Geschwistern, waren ihre Erziehung und ihre berufliche Bildung immer darauf ausgerichtet, ihr eigenes Leben zu gestalten und eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu führen. Bis zu ihrem Tod führte meine Oma ein selbstbestimmtes Leben und war und blieb eine kraftvolle, lebensbejahende Frau.
Gerade habe ich in einem Text von Hermann Hesse, aus dem auch die beiden Zitate in diesem Artikel stammen, Stellen gefunden, in dem er für sich im Alter als für ihn „teuerste Gabe“ in Anspruch nimmt, sich an einen „Schatz von Bildern“ zu erinnern. An Menschen, Orte und Begebenheiten, die wir vielleicht vor Jahrzehnten gesehen und erlebt haben, „finden wir frisch und farbig in unsrem Bilderbuche wieder“ (damit ist das Gedächtnis gemeint). Das war unter anderem der Grund, weshalb ich die alten Fotos hervorgekramt habe. Allerdings fiel mir! das Erinnern nicht so leicht! Woran mag das liegen? Ich vergleiche das Damals und das Heute! Liegt es an der Schnelllebigkeit der heutigen Gesellschaft, an den stetig wechselnden Eindrücken, Veränderungen, Erneuerungen? Ich brauche nur den Blick nach draußen zu richten und stelle mir vor, Hesse müsste in dieser chaotischen, hektischen, globalisierten und kapitalisierten Welt leben! Wir haben es verlernt, den Moment zu leben, im hier und jetzt unsere Dinge konzentriert zu verrichten, zu groß ist die Ablenkung, die wir durch Fernsehen, Computer, Handy und andere Medien uns selbst zufügen. Unsere Freizeit ist auf Amüsement und Zeitvertreib ausgerichtet; wie soll dabei ein „Schatz von Bildern“ in unserem Gedächtnis gespeichert werden, den wir dann jederzeit wieder abrufen könnten?
Das, was für mich unerträglich am Altern ist, ist die Ungewissheit, wie lange mein Leben noch währt und ob ich es hoffentlich mit meiner geistigen Stärke bis zur bitteren Neige erleben kann! Vor mehreren Jahren trafen wir bei einem Museumsbesuch in Koblenz auf ein älteres Paar, damals schon viel älter als wir beiden jetzt. Wir standen gemeinsam vor Fotos auf denen vermisste Personen aus dem 2. Weltkrieg abgebildet waren und kamen ins Gespräch. Die mitteilsame Dame erzählte uns eine Geschichte, die sie persönlich als Kind während des Krieges in Montabaur erlebt hatte. Ihre Erinnerungen an diese schlimme Zeit waren noch sehr klar und detailliert. Und, was mich so beeindruckt hat, sie referierte über diese Geschichten, sie verschwieg ihre Erlebnisse nicht, nach dem Motto, das ist jetzt Vergangenheit und die sollte man ruhen lassen, nein sie wollte damit Überzeugungsarbeit leisten. Es gab einen Punkt in meinem Leben, an dem ich sinnbildlich wach wurde. Es gibt den herrlichen Ausdruck: Es ist nie zu spät, um nochmal von vorne anzufangen! Ich will dieses spannende, ereignisreiche, wunderbare, pralle, liebevolle, heitere, auch manchmal anstrengende, rasante Leben noch lange leben! Ich habe noch fantastische Pläne, ich bin mit diesem Leben noch lange nicht fertig! Aber…ich kann und will nicht mit ansehen, wie desinteressiert, oberflächlich und verleugnend den bestehenden Problemen in Sachen Klimaschutz, Tierschutz, Umweltverschmutzung, Diskriminierung, Rassismus und dem auflodernden Rechtsextremismus, meine Mitbürger gegenüberstehen! Verdammt noch mal, ich habe Kinder in die Welt geboren und will nicht tatenlos und stumm zusehen und irgendwann abtreten, während meine/unsere wunderbare Welt von Idioten zerstört wird! Punkt!
Letztens bekam ich meinen Rentenbescheid zugestellt. Daraus war zu entnehmen, dass ich noch bis zum Jahr 2027 meiner Tätigkeit nachkommen müsse, um meine errechnete Altersrente zu erhalten. Dann wäre ich 66 3/4 Jahre! Irgendein Politiker, wahrscheinlich jemand, dem sein Auskommen wichtiger ist als seine Lebensqualität, faselte von einem Rentenbeginn mit 70! Moment mal, steckt der vielleicht mit der Rentenversicherungsanstalt unter einer Decke? Arbeiten bis zum Tode und vielleicht auf dem firmeneigenen Friedhof beigesetzt werden, praktisch vom Schreibtisch in die Kiste. Schön regelmäßig in die Rentenversicherung einzahlen und dann abtreten! Und überhaupt, wer sagt eigentlich, dass ältere Menschen weniger Geld brauchen? Ich habe da mal so überlegt, wo wir denn Geld einsparen könnten!
- Sicherlich beim Sprit, da wir uns ja den Weg zur Arbeit sparen können? Aber, wollten wir dann nicht die Möglichkeit nutzen, um unterwegs zu sein? Also, da funktioniert es schon mal nicht!
- Ah, die private Rentenversicherung! Bingo, wenigstens etwas!
- Bei der Miete eventuell? Nun ja, wir wohnen zwar in einem Haus, doch wir zahlen nach heutigem Maßstab nicht viel Miete und eine vergleichbare Wohnung zu finden, ist bei uns im Ort extrem schwierig. Und überhaupt, müssen ältere Leute auf einen gewissen Standard verzichten?
- Das Haushaltsgeld, alles was ich für Lebensmittel und Kleidung benötige? Ja, dazu habe ich auch noch was zu vermelden! Ich gebe zu, dass ich da sehr bewusst einkaufe. Ich gehe regelmäßig auf dem Markt um regionale Produkte einzukaufen, im Biomarkt bin ich öfters anzutreffen und meine Kleidung kaufe ich nicht beim Discounter und achte auf Qualität und Herkunft! Dürfen die „Alten“ nicht mehr auf Qualität achten? Lohnt sich eh nicht mehr, oder was?
Also irgendwie macht das Altwerden bei diesen Überlegungen nicht mehr so viel Spaß und ich frage mich, worauf ich überhaupt noch Lust empfinden soll!
Wenn die ganz jungen Leute mit der Überlegenheit ihrer Kraft und ihrer Ahnungslosigkeit hinter uns her lachen und unsern beschwerlichen Gang, unsre paar weißen Haare und unsre sehnigen Hälse komisch finden, dann erinnern wir uns daran, wie wir einst, im Besitz der gleichen Kraft und Ahnungslosigkeit ebenfalls gelächelt haben, und kommen uns nicht unterlegen und besiegt vor, sondern freuen uns darüber, dass wir dieser Lebensstufe entwachsen und ein klein wenig klüger und duldsamer geworden sind. (1952 aus „Über das Alter“ von Hermann Hesse)
Älterwerden – Arnold – 61 Jahre
Es gibt genau zwei Themen mit denen ich mich eher ungern auseinandersetze: Mit dem Sterben und dem Älterwerden. Es wundert mich heute noch, dass ich zu ersterem Thema sogar ein Buch geschrieben habe. Als meine Frau mich bat, meine Gedanken zum Älterwerden aufzuschreiben, geschieht das zunächst widerwillig, nach der Umsetzung jedoch mit einer gewissen zurückgelehnten Zufriedenheit. Zunächst einmal besitze ich in meinem Gehirn ein Körper- und Alterskonstrukt, das alltäglich Täuschungsmanöver mit mir durchführt: Es funkt Signale, die mich als Mann in den besten Jahren anpreisen, was dann vor dem Spiegel jäh zerschlagen wird. Das, was mir dort allmorgendlich und wann ich sonst noch so hineinschaue, entgegenblickt, ist nicht mehr der junge Sponti und Revoluzzer, den ich gerne imaginiere. Letzten September wurde ich 61 Jahre; das galt für mich vor zwei Dekaden schon als recht betagt. Um schon einmal die Pointe vorwegzunehmen: Es ist ein gutes Alter, wenn auch Zipperlein einsetzen, die Sehkraft nachlässt und sich Einstellungen gewandelt, vielleicht sogar radikalisiert haben.
Vermutlich gibt es so eine Art Alterssozialisation, die sich aus Erlebnissen und Erfahrungen mit älteren Menschen speist. Das Ergebnis fällt dann entsprechend positiv oder negativ aus: In meinem Fall negativ. Meine Eltern waren nicht unbedingt Menschen, die sich im Alter eine gewisse Spontanität erhalten hatten; ich empfand sie als schwerfällig, äußerst angepasst, unselbständig und vor allem als krank. Sowohl von ihnen, als auch von anderen Personen in ihrem Bekanntenkreis wurde mir suggeriert, dass das Älterwerden insbesondere eine Schwere des Gemüts und eine allgemeine Verlangsamung bedeutet. Beides schon mal Attribute, die inkompatibel mit dem Jungfühlen und -sein sind. In meiner ersten Profession als Krankenpfleger mit Mitte Zwanzig hatte ich zahlreiche Kontakte mit älteren Männern und Frauen. Wenn ich sie morgens wusch, erzählten sie mir von ihren Lebensgefühlen und es waren allesamt enttäuschte. Es waren Geschichten von desillusionierten Ehen, gescheiterten Träumen und einer sich durchziehenden Monotonie. Ich vergesse nicht den recht netten alten Herrn, der mir einimpfte, bloß nie zu heiraten. Das sei sein größter Fehler gewesen und hätte seine Lebenspläne zerstört. Wie sollen solche Berichte eine gewisse Positivität des Älterwerdens fördern? Wären es heute, vierzig Jahre später, andere Berichte?
Bei einer Radiosendung, in der es inhaltlich und musikalisch um das Jahr 1964 ging, riefen viele Zuhörer an, um von ihren Erlebnissen und Zeitgefühlen aus dieser Ära zu berichten. Und jeder zweite Anrufer erinnerte sich bei der Musik von Jimi Hendrix und den Rolling Stones an den damals gültigen Vorsatz, die Welt verändern zu wollen. Dabei klangen in den Zeitzeugnissen weniger Wehmut und Melancholie mit, als eher eine Art Belustigung im Sinne von „wir waren halt jung und da gehörte das irgendwie dazu.“ Die Betonung liegt auf der Vergangenheitsform „gehörte“. Dabei drängte sich mir natürlich die Frage auf, was eigentlich aus diesen Vorsätzen, diesem gesellschaftskritischen Denken, falls das alltagsphilosophische Ansinnen überhaupt diese konkrete Tragweite hatte, geworden ist? Waren Visionen und Utopien einer veränderten und vermutlich besseren Welt nur Teil eines frühen entwicklungspsychologischen Denkmusters, ein kurzes Aufbegehren, das beim Lichterwerden der Haare, der ersten Beförderung oder beim Eintritt in den Kegel- oder Sportverein endet? Oder ist es gesellschaftlich verpönt, Rebellion im Alter zu zeigen, wo doch Vorruheständler auch sonst nicht fies davor sind, sich mit modischen Accessoires der Jugendszene zu schmücken, bevor sie nicht nur äußerlich ins nichtssagende Rentnerbeige abtauchen?
Bei einem von mir mitinitiierten philosophischen Streitgespräch stand das Thema zur Diskussion, ob Utopien für eine gesellschaftliche Entfaltung wichtig oder gar unumgänglich sind. Bei der späteren Diskussion im Publikum meldete sich ein älterer Herr – Mitte 70 – und meinte, dass wir doch Utopien den Jungen überlassen sollten, da es ihre Aufgabe sei, die Zukunft zu gestalten. Im Nachhinein hat mich diese – leider – sehr verbreitete Auslegung sehr beschäftigt. Ist es nicht absolut bedenklich, wenn sich die Alten aus gesellschaftlichen Veränderungsprozessen herausziehen und ihre vermeintliche Weisheit in die Ritzen ihrer Polstergarnitur rieseln lassen? Gab es früher nicht immer Ältestenräte, die ihren Senf – ob scharf oder mild – zur res publica hinzugaben? Was ist mit den vielen gesammelten Erfahrungen, dem geballten Wissen und vor allem den Erkenntnissen, wie es – nicht – geht? Und wäre es nicht doppelt wichtig, mitbestimmend und notfalls rebellisch bis zum letzten Schnauferl zu bleiben, wo heute viele Junge durch politische, wirtschaftliche und mediale Einflüsse schon beizeiten mundtot, denkträge, selbstbezogen und langweilig gemacht wurden, um so die Stimme des „dritten Gesellschaftsstandes“ frühzeitig möglichst klein zu halten? Es müsste doch jetzt eine Generation altgeworden sein, die weiß, wie 68er-Sein geht, die in WG´s und Kommunen groß geworden ist und zivilen Ungehorsam aus dem ff kennt. Ist das wie Akne, die sich mit den Jahren legt?
Ein Aspekt, der mich mit zunehmendem Altem beschäftigt, ist das – ich nenne es mal – Spiel mit den eigenen Einstellungen, Lebensentwürfen und Visionen. Als junger Mensch war es tatsächlich ein Spiel, was auch bedeutet, man war nicht verpflichtet, es zu Ende zu bringen. Bei Exerzitien, die ich mit einer Gruppe männlicher Jugendlicher aus meiner Klasse in Hamburg verbrachte, fragte uns – ein bunter Haufen von Atheisten, Anarchisten, Kommunisten und Pazifisten – der Pater nach unseren Lebenszielen. Bei mir angekommen, antwortete ich, nie spießig werden und immer authentisch sein zu wollen. Meine Ansicht führte zu allgemeiner Zustimmung in der Runde. Doch oftmals frage ich mich mit einer gewissen Beschämung, was aus diesen Vorsätzen geworden ist. War es bei mir ebenfalls nur jugendliches Geschwafel, das dann später durch die allgemeinen gesellschaftlichen Prozesse bis zur Unkenntlichkeit zersetzt wurde? In einem Buchmanuskript beschreibe ich einen Älterwerdenden, der sich genau auf diese Träume aus der eigenen Jugendzeit besinnt. Leugnet man diese, verliert man sein eigenes Grundgerüst und was bleibt ist ein schlapper Haufen Mensch, substanzlos, nichtssagend und in Beige gehüllt.
Diese Thematik begleitet vor allem mein Älterwerden. Mit meiner Frau fahre ich – wenn nicht grade Corona die Pläne zerstört – auf diverse Rockfestivals und Konzerte, nicht nur, um die Musik zu hören, sondern um hier wieder auf Menschen zu treffen, junge, aber auch alte, die mit uns herangereift sind, die sich nicht zu blöde sind, ihr Sosein in würdiger Ergrautheit weiterzuleben und in einer stolzen Andersartigkeit Präsenz zeigen. Sie sind allesamt nicht verstummt, sondern haben viel zu sagen. Und es sind eben nicht nur Personen des Bildungsbürgertums, sondern oftmals einfache Männer und Frauen, die sich ihre schillernde Einzigartigkeit, manchmal auch Schrulligkeit trotz desaströser Rente bewahrt haben. Dagegen erinnern viele Alte in ihren Multifunktionsjacken und Steppwesten an Automaten, denen längst alles Lebendige abhandengekommen ist. Ich glaube, viele Menschen, vor allem die alternden umgeben sich mit einer normierten Hülle, um das wenige Verspielte in ihrem Leben besser zu tarnen. Vielmehr möchte ich bewahren und zurückfinden zu dem, was bereits als junger Mann wichtig für mich war. Es war wichtig und vor allem authentisch, da es damals noch nicht beeinflusst und verbogen war durch einen Überbau aus Normdenken und ein Anpassen an die Vorgaben des Mainstreams.
Und dann gibt es dieses Attribut Altersmilde, was meint, mit zunehmendem Alter mehr zu akzeptieren bzw. hinzunehmen, als früher. In einem Post auf facebook – die Quelle ließ sich nicht genau herausfinden – fand ich im Zusammenhang mit dem Älterwerden die Umschreibung, dass die Intuition wachse und expandiere wie ein majestätischer Mantel der Weisheit. Ist das tatsächlich so oder steckt dahinter nur ein Wunsch, doch nun endlich mal weise die Klappe zu halten und den Lauf der Dinge den Jüngeren zu überlassen? Tatsächlich merke ich so etwas wie eine Intuition und zwar eine Intuition, die mich mit zunehmendem Altem immer intoleranter gegenüber der schier riesigen Masse der Idioten, Schwätzer, Blender, Oberflächlichen und Blinddenker macht. Ich habe keine Lust mehr, mich auf all den medialen Stuss, das zwischenmenschliche Aneinandervorbeileben und die sinnentfreite Pinterestisierung des Lebens einzulassen. Und daher sehe ich bei mir – noch – nicht das Alter, wo ich milde schweige, sondern wo ich erst recht lauthals aufbegehre und rumpoltere. Und das Schöne: Man muss nicht einmal mehr Angst vor der Kündigung haben.
Mein Vorschlag: Wir überarbeiten und – denken das noch einmal in fünf Jahren.