Das Drama vor der Mauer
Zu Mahi Binebines Roman „Die Engel von Sidi Moumen“

Sidi Moumen ist die Barackensiedlung der Armen nordöstlich von Casablanca,  hinter den Suks und der Mülldeponie. Binebine schildert das Leben der Jungs von Sidi Moumen und das dramatische Ende. Was führt dahin?

Meine Frau und ich besuchten Marokkos Königsgräber, sozusagen die Zuckerseite Nordafrikas. Aber nach der Lektüre des Romans verstehe ich vieles besser: Armut, aber auch  Glück, Abfall, aber auch selbständiges Leben, Perspektivlosigkeit, aber auch Leben usw.

Marokko-Mauer (Foto FJ Illhardt)
Die Mauer vor dem Armenviertel. ( Foto FJ Illhardt). Wir durften Casablancas Sidi Moumen aus Si-cherheitsgründen nicht fotographieren.

Der (auch in der Übersetzung) großartige Roman von Binebine – es gibt natürlich mehrere – hilft verstehen. Sein Buch wurde in Arabisch mit französischen Untertiteln verfilmt. Schön, sich diese Umgebung vorstellen zu können. Binebine ist Marokkaner hat u.a. in Paris studiert (Französisch ist wegen der Kolonialgeschichte sehr verbreitet), und arbeitete dort als Mathematiklehrer, kehrte aber dann in sein Land zurück. Sein Buch zeigte eine Seite von Marokko jenseits von morgenländischem Flair – eine Seite, die selbst Binbine erst nach der Rückkehr langsam kennen lernte. Es geht um die Chancenlosigkeit der jungen Menschen.

Und nun zu den Einzelheiten:

  1. Schicksal ‚Müll‘

Müll ist das Schicksal für die Menschen in nordafrikanischen Elendsvierteln, auch wenn die Schilderungen der Kinder manchmal von Glück geprägt sind. In Kindergeschichten – natürlich nicht in unseren Industrieländern – spielen andere Dinge eine Rolle. Aber wenn die frühen Jahre vorbei sind, wird das Leben im und mit dem Müll immer schwerer. Leben wird verletzlicher, bringt Enttäuschungen mit sich, passt nicht mehr zu den Träumen, die man hat, Angst macht sich breit.

Binebine schrieb, Sidi Moumen und die Islamisten im Hinterkopf (Islamisten sind nicht die Gläubigen des Islam, sondern die Radikalisierer, bei uns: die Fundamentalisten):

Und so schlitterten wir hinein in eine dunkle Welt, die nicht mehr die unsrige war. Eine neue Welt, in die wir uns immer stärker verstrickten und die uns schliesslich ganz verschlucken sollte.

Die Dunkelheit der Welt ist ein Bild für die dunkle Zukunft. Interessant, dass Abu Said und die anderen Islamisten die Fehler immer bei den anderen sehen, hier: bei den Ungläubigen und den Reichen. Abu Said und die anderen Islamisten sind zwar mitfühlend, aber erschweren Zukunft, packen sie nicht an.

  1. Wer sind die Engel?

Wer als Märtyrer des Islam stirbt, bekommt als Belohnung im Jenseits Engel bzw. Jungfrauen zugeteilt. Weibliche Märtyrer sind wohl nicht vorgesehen. Als Jaschin seinen Paradiesgürtel zu früh ausgelöst hat, sagt sein zweites Ich im Off: Auf die Engel warte er noch immer. Zurück auf die Erde: Beerdigt wurden er und die anderen Attentäter allerdings (wohl laut Koran) als Selbstmörder ohne islamische Zeremonie. Haben die Engel nicht eingegriffen?

Bemerkenswert, Engel, der jenseitige Trost der Märtyrer im Islam, werden von Jaschin nicht mehr als die jenseitigen Helfer angesehen. Sein Helfer ist seine Freundin Ghislân. Das ist wirklicher, sehr ernst zu nehmender Trost.

  1. Jungs und der Fußball – ein sozialer Mythos?

Für die Jungs im Armenviertel war Fußballspielen zentral. Ihre Mannschaft, für die sie alles taten, hieß „Les Étoiles de Sidi Moumen“. Wie wichtig doch Siegen, Sich-anstrengen, Disziplin, Träume, Regeln usw. sind. Und das auf der Mülldeponie.

Für Jaschin war Fußball ein Bild für seine Identität. Jaschin war der Name des Marokkanischen Nationaltorwarts. So wollte er auch sein, flink, verlässlich, keinen Schuss durchlassen, Held seiner Mannschaft. Deswegen nannte er sich „Jaschin“, bis die anderen den Namen akzeptierten, auch Jamma, seine Mutter.

  1. Faszination der Liebe – unser Dreh- und Angelpunkt?

Jaschin und Ghislân, ein Mädchen aus dem Armenviertel, waren von einander fasziniert. Nur ein einziges Mal wagten sie einen Kuss. Der hatte sich bei ihm eingraviert und brachte später sogar seine Radikalisierung ins Wanken. Sein Kommentar:

„Inmitten dieses Chaos glitzerte ein Edelstein, der uns aus dem Paradies zugefallen war: Ghislân, meine schöne, zärtliche Freundin. Niemand weiß, wie es sie nach Sidi Moumen verschlagen hatte, aber sie war einfach eine Wucht. Eine umgekehrte Dissonanz. Ein glücklicher Zufall in unserem dreckigen Universum […] Der Engel der Schönheit hatte sich dieses zarte Wesen ausgesucht, um Gestalt anzunehmen und auch unter uns zu leben.“

Aber dann kam die Radikalisierung. Jaschin beschloss zu sterben. Er schrieb an Ghislân:

„… Ich liebe dich für immer und ewig, aber ich verlasse dich, denn ich habe keine andere Wahl. Ich kann die Demütigungen und die Verachtung nicht länger ertragen, ich kann es nicht länger ertragen, wie eine Ratte in Sidi Moumen zu leben.“

Dieser Satz ist bemerkenswert. Liebe ist nicht eine Beziehung à la Klette, sie beinhaltet auch Getrenntsein.

  1. Wie radikal ist Religion?

Jaschin erlebte einen seltsamen Wandel. Seine kaputte Welt war seine gewohnte, wenn auch sehr begrenzte Welt. Die Entdeckung dessen, was er ist und wohin er will, bringt ihn ins Schlingern. Seine alte Welt passt nicht mehr.

„Und so schlitterten wir hinein in eine dunkle Welt, die nicht mehr die unsrige war. Eine neue Welt, in die wir uns immer stärker verstrickten und die uns schließlich ganz verschlucken sollte.“

Dabei ist die Entdeckung der neuen Maßstäbe doch eigentlich wichtig, wenn auch hart. Die Islamisten haben alles versaut. Nicht was jemand ist, helfen die ihm zu entdecken, also das, was und warum ihm das wichtig ist und wohin er sich entfalten will. Sie geben vor zu wissen, was wichtig ist und unterziehen die, die sie belehren, ihrem Oktroi.

Jaschin kommt ins Grübeln, noch lebt er. Seine Gedanken sind gewissermaßen atheistischer Standard:

„Gott sei gerecht und liebe die Gerechtigkeit, sagte er [Abu Said, der Islamist] noch. Ich war mir dessen nicht so sicher, denn wenn dem so wäre, wie könnte man dann die Existenz eines Ortes wie Sidi Moumen begründen?

Abu Said lieferte gleich die Rechtfertigung, böse Menschen hätten die gerechte Welt kaputt gemacht. Kann sein. Aber dann ist Gott nicht allmächtig, sonst hätte er den bösen Menschen das Handwerk gelegt. So blamieren konnte Jaschin seinen empathischen Abu Said natürlich nicht. Summa Summarum: Religion ist nicht radikal, packt das Problem nicht an der Wurzel an („radikal“, wörtlich „an die Wurzel gehend“).

Fazit:

Binebines Roman steigerte meine Wut.

„Was für ein Jahrhundert, sprachen die Ratten und begannen die Welt anzunagen“ (Antonio Tabucchi). Ratten fühlen sich wohl in einer Welt, die kaputt geht und Müll anhäuft.

Ist das nicht auch unsere Welt mit ihrem gigantischen Müllaufkommen (3,4 Milliarden [!] Tonnen jährlich), in denen Ratten sich wohlfühlen. Schließlich ist es ‚unsere‘ Welt, die wir immer schlimmer machen: Mit der Tradition der Kolonialzeit, der korrupten Politik in Afrika, der unsolidarischen Entwicklungshilfe der reichen Länder, der fehlenden Coronahilfe in Nordafrika usw. Dort ist unser Gerede von Solidarität reine Komik. Wir können unseren Zaun in Südspanien noch so hoch machen, die Nordafrikaner kommen drüber.

Raus aus dem Elend und rein nach Europa – zu den Ratten. Pech gehabt?

Binebine beschreibt nicht nur das Schicksal der Jungen, er deutet auch die Antwort auf die Radikalisierung an. Woher kommen die Radikalisierung und das Phänomen der Selbstmordattentäter? Soziologen sagen, dass so etwas nur in der 2. oder 3. Generation der Migranten vorkommt. Armut erzeugt laut Binebine nicht das Abgleiten in den Terror. Das machen die Demütigungen und die Verachtung (Zitat aus dem Roman). Erst wenn man diese Verelendung angeht, kann man das Problem lösen.

Was mich nach diesem Roman so bedrückte, ist das, was dort geschieht, reine Fremde bleibt. Man reist. Aber warum?  Antonio Tabucchi (italienischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler) schrieb: „Ein Ort ist nicht nur >dieser< Ort. Auch wir sind ein bisschen dieser Ort. […] Jeder Ort […] ist eine Art Röntgenbild von uns selbst.“

Was ist mein Röntgenbild?