Wie das Träumen auf der kroatischen Insel Hvar, der Besuch am Grab von Herbert Marcuse und eine Krebserkrankung eine eigene Lebensphilosophie erschaffen haben. Wir nennen es „die Erotisierung des Lebens“.
Hvar, 2006

Wir befinden uns auf der kroatischen Insel Hvar, ein wunderschönes Eiland vor der dalmatinischen Küste. Mit unserem kleinen Wohnmobil stehen wir auf einem winzigen Campingplatz, der recht einsam direkt am Meer liegt. Außer uns sind lediglich noch zwei weitere Wagen dort. Ganz oft gehört die Küste und das Meer allein uns. Es ist unser zweiter gemeinsamer Urlaub und ein Fest der Liebe, Lust und Leidenschaft. Jeder Moment ist von einer unglaublichen Intensität und knisternden Erotik geprägt. Erotik bedeutet die Konzentration unserer gesamten Sinne auf den Moment. Ein Ausflug führt uns in die gleichnamige Hafenstadt Hvar, wo wir ein Café entdecken, dass sich mit seinem orientalischen Flair hervorragend als Cover für eine neue Café del Mar – Ausgabe eignen würde. Es heißt Carpe Diem, ein Ausdruck der auf den römischen Dichter Quintus Horatius Flaccus (65 v. Chr.) zurückgeht, der seine Gedanken- und Handlungsfreiheit als zentrale Lebensphilosophie ansah. Flaccus hätte sich zu Lebzeiten wohl nicht träumen lassen, dass dieser Ausdruck mal inflationär werden würde und sogar Tees aus dem Supermarkt danach benannt werden. Carpe Diem ist sicherlich die kürzeste und bekannteste Verkörperung der Idee, das Leben als Geschenk zu betrachten und sich selbst einen Neuanfang zu erlauben. In der Getränkekarte (1) findet meine Frau weitere Erläuterungen des Ausdrucks und übersetzt sie aus dem Englischen:
Achte darauf, wie du deinen Tag verbringst,
denn darin liegt die ganze Wahrheit des Lebens.Wer heute gut handelt, macht aus jedem gestrigen Tag einen Traum
und aus jedem morgigen Tag eine Vision.
Das Café beschreibt über eine ganze Seite die Philosophie, die mit diesen beiden Worten verbunden ist. So erfährt man auch, dass die Gedanken von Flaccus und somit der kleine Satz „Carpe Diem“ auf der Überzeugung des griechischen Philosophen Epikur (341 v. Chr.) aufbaut,
„dass jeder Mensch ein Recht auf ein unbeschwertes, genussvolles und ruhiges Leben hat, dessen oberstes Ziel darin besteht, negative Einflüsse zu vermeiden und jeden Augenblick zu nutzen.“
Derartige Überlegungen werden dem kapitalistischen System sicherlich nicht gefallen, da in der zeitgenössischen Denkweise der Mensch vor allem als Humankapital eingeplant ist. Jetzt auch noch Unbeschwertheit, Genuss und Ruhe? Der Mensch soll vor allem konsumieren und parieren!
Wir beginnen in dem Café ein spannendes Gespräch darüber, wie sich diese philosophischen Aussagen in unser Leben einbauen lassen und wie wir die hier allzeit spürbare erotische Energie auch für unser alltägliches Leben nutzen können. Gerade weil wir am Anfang unserer Beziehung stehen, erscheint es uns wichtig, nicht in erneute Oberflächlichkeit zu schliddern, sondern die Gestaltung unseres Seins selbst in die Hand zu nehmen und nicht dem Zufall oder äußeren Bedingungen zu überlassen. Liebe und die erotische Energie sollte nicht das Produkt von übriggebliebener Zeit sein, sondern stets im Vordergrund stehen. Pure Tagträumerei von Frischverliebten oder vielleicht doch nicht?
Es ist wichtig zu betonen: Mit Erotik oder – wie es im Titel heißt – Erotisierung ist nicht nur die Sexualität gemeint, auf die dieser Begriff gerne reduziert wird, sondern vielmehr die Sinnlichkeit von Momenten und Situationen. Sinnlichkeit hat dabei eine freie Geltung: Durch die geöffneten Sinne kann man das Schöne und Anregende dieser Welt erfahren und es wiederum für sich und die Liebesbeziehung nutzbar machen. Ein Circulus vitiosus: Das, was wir in unsere Erotik (auch sexuell) investieren, lässt sich wiederum im Alltag als eine Art Bereicherung und Energieschub nutzen. Und umgekehrt! Eine solche Bereicherung oder Erotisierung kann durch das Schreiben, durch künstlerische Aktionen, durch eine besondere Freizeitgestaltung, aber auch durch kulturelle Einflussnahme geschehen. Diese QUERZEIT-Seite hat zum Beispiel ihren Ursprung in jener Carpe-Diem-Philosophiererei. Der schwierigste Aspekt scheint mir dabei zu sein, negative Einflüsse so gut es geht zu eliminieren oder sie positiv zu reframen. Reframing ist ein psychologischer Begriff und bedeutet, einer Sache einen neuen oder anderen Rahmen (=Frame) zu geben. Der Besuch bei einer schwierigen Person ist zwar unangenehm, aber vielleicht kann ich schauen, ob ich dort etwas für mich lerne, mich ausprobiere oder die Situation nutze, um den Menschen auf einen anderen Weg zu bringen. Ich sage nicht, dass es ein simpler Vorgang ist.
Um unserer Neuorientierung einen Namen zu geben, wählten wir damals den Begriff „Farasan“ und benannten so auch unser Haus. Später liefen einige kulturelle und künstlerische Aktionen unter diesem Namen. Natürlich dauerte es nicht lange, bis die ersten Spötter auf den Plan traten: Wir hielten uns wohl für etwas Besonderes, war der oft zu hörende Vorwurf. Ja natürlich sind wir etwas Besonderes! Ist es nicht fürchterlich, es nicht zu sein?
Berlin, ein paar Jahre später
Ich habe – mal wieder – beruflich in Berlin zu tun. In der Mittagspause schlendere ich über den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte. Ich liebe Friedhöfe, da ich die Atmosphäre mag, es aber auch genieße, das ständige Gequatsche der Menschen auszuschalten. Eigentlich möchte ich bei Berthold Brecht vorbeischauen, der dort beerdigt ist, doch dann stehe ich plötzlich vor dem Grabstein von Herbert Marcuse.
„Herbert Marcuse war ein deutscher Philosoph und Soziologe, geboren 1898 und gestorben 1979. Er ist bekannt für seine Kritik am Kapitalismus und seine Theorien zur Industriegesellschaft. Marcuse war eine führende Persönlichkeit der Frankfurter Schule, und seine Ideen beeinflussten zahlreiche soziale und politische Bewegungen weltweit.“ (2)
Zu diesem Zeitpunkt ist mir Marcuse nur vom Namen und seiner wichtigen Funktion in der Studentenbewegung bekannt. Er war ein unbequemer Denker, musste jede Menge Anfeindungen durch das angepasste „Murkssystem“ erfahren und war Prügelknabe der Rechten, was ihn wiederum für mich spannend macht. Vor allem fasziniert mich beim Friedhofbesuch ein spezielles Wort auf seinem Grabmal: „Weitermachen!“ Eine Devise eines fundamentalen Optimisten zu Lebzeiten, wie sein Sohn und sein Enkel später zu Protokoll geben. Aber Weitermachen womit? Auch ich nutze dieses Wort seitdem oft, wenn ich selbst Zielscheibe von Angriffen bin oder eine Situation erfolglos erscheint. Nicht unterkriegen lassen: weitermachen! Dass Marcuses Philosophie sehr viel mit unseren Hvar-Träumereien zu tun hat, wird mir erst viel später klar.

Ich besorge mir die eine oder andere Schrift des Philosophen, doch dann gerät die Beschäftigung mit seinen Gedanken zunächst in Vergessenheit. Als ich mich vor ein paar Wochen – mal wieder – mit den 68ern und der sogenannten APO-Bewegung auseinandersetze, stoße ich erneut auf Marcuse. In dem kleinen Buch „Stimmen und Visionen“ (1979) führt der Harvard-Professor Samuel McMurray Keen (1931-2025) Interviews mit berühmten und visionären Zeitgenossen, so auch mit Herbert Marcuse. In dieser – wie ich finde – spannenden Unterhaltung spricht Marcuse u.a. über die Erotisierung des Lebens. Da meine philosophischen Kenntnisse lediglich für den Hausgebrauch taugen, geht es mir nicht darum, Marcuse zu erklären, sondern aus seinen Überlegungen Anteile herauszuziehen, die wiederum interessant für meinen Denkvorgang erscheinen. Auch auf die Gefahr hin, ihn fehlzuinterpretieren. Philosophie ist dafür da, sich selbst anzuregen, nicht um sich in Spuren festzufahren.
Marcuses Vision ist es, dass es irgendwann eine erotische Welt aus Spiel und Freude gibt, in der Mensch, Natur und Musik spontan und frei sein werden. In dieser Welt treten Dimensionen wie Eroberung, Abenteuer und Macht in den Hintergrund. Diese Vorstellung steht seiner Feststellung gegenüber, dass die Arbeitskultur Kunst, Sexualität und die Vernunft selbst versklavt.
„Selbst Freizeit, Kunst und Spiel werden für die Wiedergewinnung von Energie zugunsten der enervierenden Arbeit im Dienst an der Technokultur nutzbar gemacht.“ (3)
Ich denke, die Aussagen haben an Aktualität nicht eingebüßt. Marcuse zitiert Picasso, der in seinen Malereien den Menschen als verspieltes Tier darstellt, dass seine sinnliche Natur entfalten möchte. Ich vermute mal, dass Marcuse, der 1979 gestorben ist, nicht mehr mitbekommen hat, dass seine Idee zum größten Teil gestrandet ist. Er meinte mit einer schöpferischen menschlichen Existenz sicherlich nicht vom Fernsehen verstrahlte Wesen, die ihr Leben nach der Devise „sleep-work-eat-repeat“ ausrichten. Poster mit diesem oder einem ähnlichen Schriftzug kann man sich auch übers Sofa hängen, doch vermutlich merkt man nicht einmal mehr die Ironie, die dahintersteckt. Marcuse:
„Die eigentliche Katastrophe liegt in der bevorstehenden totalen Verblödung, Entmenschlichung und Manipulation des Menschen.“
Ich denke, dass es Ziel unseres Lebens sein sollte, sich wieder auf seine ästhetischen und erotischen Komponenten zu besinnen. Das kann nicht funktionieren, wenn ich meine komplette Energie meiner Tätigkeit opfere, um mich abends mit Hunderten von Fernsehsendern oder PC-Spielen in eine Welt des Ich-Vergessens schieße. Als wir vor gut 15 Jahren das Fernsehen aus unserem Leben verbannten, um unsere freie Zeit anderweitig zu verbringen, entdecken wir plötzlich kreative und sinnliche Elemente wieder oder gar erstmalig. Uns wurde bewusst, wie sehr wir uns an eine Welt der
„…Aggression, Herrschaft, Ausbeutung, Hässlichkeit, Heuchelei oder entmenschlichenden Routineleistungen… (3)“
gewöhnt und den uns übergestülpten Kulturschund toleriert haben. Unsere Neuorientierung hat etwas von Befreiung und vor allem eines Gewahrwerdens, was ich für den ersten Schritt zu einer Erotisierung des Lebens halte. Und ja, es ist überaus frustrierend, in diesem Zustand der – ich nenne es mal – Selbstbefreiung zu beobachten, wie viele Menschen sich der Verblödungsindustrie unterworfen haben. Doch wir beschließen, nicht mehr Elementarteilchen einer durchrohten Gesellschaft mit einem durch und durch peinlichen und entmenschlichten Politsystem zu sein, sondern eine autarke Einheit mit einer eigenständigen Philosophie, die eher zufällig an Marcuses Gedanken angelehnt ist. Wir leben inzwischen die meiste Zeit in einer erotischen Welt aus „Spiel“ und Freude – im Einklang mit der Natur, der Musik, Literatur und Kreativität. Und wenn uns die angebotene Kultur nicht gefällt, basteln wir uns eben eigene Projekte und Angebote.
Telgte, 2025
Natürlich sind die oben genannten Überlegungen sehr visionär und ich höre die Stimmen, die eine Unmöglichkeit des Entrinnens aus der leistungsorientierten Neuzeitkultur beklagen. Das ist nachvollziehbar und ich bin froh, dass ich mit meinem Renteneintritt diesen Leistungsschlamassel verlassen konnte. Ich habe gerne gearbeitet, doch habe dafür einen hohen Preis bezahlt, der mein Leben enterotisiert hat, aber vielleicht hätten mir die nachfolgenden Überlegungen eher helfen können.

2025 bedeutet für meine Frau und mich ein düsteres Jahr. Durch eine Krebsdiagnose und die damit verbundene Behandlung steht unser Leben plötzlich unter Dauerbeschuss. Wir haben uns unseren gemeinsamen Renteneintritt anders vorgestellt. Die Leichtigkeit des Seins wird abgelöst durch Traurigkeit, (Zukunfts-) Angst, Ohnmacht und Schwermut. Ist da noch Platz für eine Erotisierung des Lebens? Ja! Wir tun das, was unsere Zweisamkeit immer schon wesentlich bestimmt hat: Wir sprechen über die Situation, geben den Gefühlen den notwendigen Raum, aber suchen auch nach Lösungen, überlegen uns neue Wege. „Weitermachen!“ eben. Wir überlegen uns ein Modell, das man vielleicht mit einem Sonnensystem, bestehend aus verschiedenen darin befindlichen Kreisen, vergleichen kann. In der Mitte ist das, was wir als „Farasan“ umschreiben: das Leben in einem Haus, in dem unsere komplette Vielschichtigkeit ihren Platz hat. Ein absolutes Zuhause, in dem wir träumen, philosophieren, nachdenken, lesen, uns verwöhnen, Musik hören, Tee trinken, kochen, schreiben, lieben, lachen, Pläne schmieden, Reisen planen und wo wir WIR sein können. Dann gibt es den nächsten Bereich mit unseren Freunden, der Familie, dem Hund, unseren Ausflügen, Konzertbesuchen, Reisen und vor allem unserer Naturverbundenheit. Drumherum liegen die Pflichten des Alltags und die notwendigen Erledigungen mit all den positiven und negativen Kontakten. Und schließlich die Außenwelt, all das Gesellschaftliche, Politische samt ihrer möglichen Hässlich- und Widerlichkeiten. Unsere Überlegung: Wie schaffen wir es, möglichst viel aus dem inneren Kreis mitzunehmen, wenn es darum geht, diesen Komfortbereich zu verlassen? Vielleicht die Wartezeiten im Krankenhaus mit Lesen eines anregenden Buchs verbringen, Artikel über die belastenden Vorgänge zu verfassen, Menschen beobachten, sich mit einem Cafébesuch belohnen, Spaziergänge an besondere Orte verlegen, Zwischenräume aufsuchen, die von der Zivilisation verschont geblieben sind, Briefe schreiben, Englisch über die App vertiefen usw. Dieser mentale Vorgang eines inneren Schutzraums, den man selbst zur Chemotherapie und Bestrahlung mitnehmen kann, ist letztendlich nichts Anderes als eine Erotisierung unseres Lebens. Während die Sexualität für eine Weile auf Reisen geschickt wird, treten andere Aspekte in den Vordergrund, aber immer mit dem Wissen, dass auch die sexuelle Energie nur auf Eis liegt. Sie kann, braucht aber nichts.
Der Krebs ist inzwischen besiegt und wir sind um die besondere Erfahrung reicher: Die Erotisierung des Lebens mit ihren vielen bunten Varianten ist ein überaus wirksames Mittel, in ständiger, aber spielerischer Rebellion gegen das Grau in Grau eines öden Systems gegenzuhalten. Es ist kein Kampf, sondern ein faszinierendes Spiel.
- https://bar.cdhvar.com/en/program/our-philosophy/
- https://maestrovirtuale.com/de/Herbert-Marcuse-%E2%80%93-Biografie–Theorie-und-Beitr%C3%A4ge/
- Sam Keen: Stimmen und Visionen. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 1979