NEW MODEL ARMY
Musikalische Meilensteine (2)

THE GHOST OF CAIN (86)

THUNDER AND CONSOLATION (89) …

& zwei Konzerte 1993 und 2025

,New Model Army - (Foto-Collage Arnold Illhardt)
,New Model Army – (Foto-Collage Arnold Illhardt)

Aus der hintersten Ecke meines in die Dachschräge eingebauten Kleiderschranks kramte ich vor ein paar Monaten eine Kiste mit alten Tagebüchern hervor, die ich etwa ab 1984 mehr oder weniger regelmäßig geführt habe. Ich habe sie zwar gelegentlich mal durchgeblättert, aber nie vollständig gelesen. Neben den Erlebnissen, Notizen, Gedanken und Gefühlen fand ich auch ein eingeklebtes Konzertticket von NEW MODEL ARMY; datiert auf den 18.5.93. (es gab noch ein weiteres Konzert in Köln ohne Datum). Nach über 30 Jahren stand ich gestern wieder vor der Bühne, sogar in der ersten Reihe, und bewunderte die gleiche Band, die mich durch eine harte Zeit begleitet und mir vielleicht sogar den Hintern gerettet hat.

Es war irgendwann Ende der Achtziger in einem Münsteraner Club, als der DJ einen Song spielte, den ich noch nicht kannte, aber mich direkt in den Bann und auf die Tanzfläche zog. Später ging ich zum Diskjockey und fragte nach der Band. NEW MODEL ARMY, schrie er durch den Krach, wobei ich zunächst „No more army“ verstand. Sympathischer Name, war mein erster Gedanke. Als ich den wahren Bandnamen erfuhr, war ich anfangs enttäuscht, da ich ihn als Antimilitarist und Pazifist ziemlich beknackt fand. Erst später erfuhr ich, dass der Begriff „Army“ als Gegenoffensive im Sinne einer ideellen Revolution auf die Regierung von Margaret Thatcher gedacht war. Nachvollziehbar.

NEW MODEL ARMY wurden 1980 in Bradford (Yorkshire) gegründet und gelten als britische Independent-Band, deren Musik durch Rock-, Folk- und Punkelemente beeinflusst wurde und immer noch wird. Ich interessierte mich immer schon für Musikstile, die verschiedene Wurzeln haben und so traf die Melange aus diesen drei Genre meinen Geschmack. Mit der Mainstreammusik, die diese Ära bestimmte, konnte ich nicht viel anfangen. Der massentaugliche, plastinierte Brei, der damals die Radios und Diskos flutete, war für mich schwer erträglich, da er vor allem durch Kitsch, Schmalz und künstliche Atmosphäre glänzte.  Justin Sullivan, bis heute Kopf der Band und einzig verbliebenes Gründungsmitglied, präsentierte dagegen vor allem den authentischen, geerdeten Musiker, der sich von niemanden und schon gar nicht von einer Musikindustrie reinreden ließ. In einem Interview (1) antwortet er auf die Frage, wie die Band mit Trends und angesagten Sounds umgehe:

„Wenn dir die Leute folgen: großartig! Wenn nicht, dann eben nicht. Wir hatten im Laufe dieser vierzig Jahre nie ein Interesse daran, irgendwo stehenzubleiben.“

In anderen Reportagen über die Band, die ich in diversen Musikzeitschriften las, wird die kritische Einstellung der Band, aber vor allem Sullivans zum Weltgeschehen deutlich. Er betont zwar immer wieder, dass die Band politisch nicht klar ausgerichtet sei, doch in den Texten tauchen poetische Bilder auf, die sich auf zum Teil melancholische Weise mit Missständen in der Gesellschaft, Gerechtigkeit und Sinnfragen des Lebens beziehen. Sullivan:

„Was mich in den vergangenen Jahren am meisten verängstigt hat, sind nicht etwa Idioten wie Trump oder dieser scheiß Brexit, sondern dass in meiner Lebenszeit 40% aller Spezies auf dem Erdball verschwunden sind. Ich finde es einfach schrecklich, was wir der Natur antun. Da ist es einfach lächerlich, über Dinge wie den Brexit zu reden, verglichen mit dem, was wir mit dem Planeten anstellen.“

Ihm ist es wichtig, so an einer anderer Stelle des Interviews, den Leute den Blick auf das Große und Ganze zu öffnen. Was die Inhalte der Band damals bei mir bewirkten, erschloss sich mir erst viel später und zwar auf dem besagten Konzert der Band in Münster 1993.

Justin Sullvian (Foto Arnold Illhardt)Die 80er waren für mich keine unbeschwerte Zeit; auch das ließ sich in den alten Tagebüchern gut nachlesen und nachvollziehen. Auf der einen Seite war ich nahezu angewidert von der mich umgebenden bürgerlichen Tristesse und suchte nach anderen Wegen, zum anderen lockte mich die bizarre Welt der Rockmusik, die Atmosphäre in den einschlägigen Clubs und die Erfahrung, dass die Musik ein verbindendes Element darstellt und ansonsten Unterschieden nivelliert. Bei den Konzerten von NEW MODEL ARMY gab es (und gibt es vermutlich noch immer) eine Community, die sich „family“ oder auch „army“ nannten und der Band zu den verschiedenen Auftrittsorten hinterherreisten.  Die Musik der Briten stellte für sie eine Art Parallelwelt dar, in der andere Werte und Prioritäten gelten, als in der realen Ellbogengesellschaft. Ich fühlte mich damals unter all den anwesenden Freaks und Posthippies sehr wohl.

Bei dem Tanzstück, das ich anfangs erwähnte, handelte es sich um „51State“ von dem 1986 erschienen Album „The Ghost Of Cain“. Ich rockte den Saal: raumfordernd, wild und mit diesem Gefühl von fuck the system. Später entdeckte ich auch Titel wie „The Hunt“, vor allem aber „Vagabonds“ der 1989 folgenden CD „Thunder And Consolation“ als persönliche Highlights. Das Online-Musikmagazin laut.de beschrieb die Musik als

„die perfekte Mitte aus hartem Realismus, rebellischer Attitüde und zarter Poesie.“

Die überwiegend rockigen und rauen Songs, wirken nie künstlich-effekthaschend oder aufgeblasen, sondern geerdet und authentisch. Obschon die Musik ganz klar durch Sullivans eindringlichen und unverwechselbaren Gesang dominiert wird, sieht der Sänger selbst Bass und Drums als tonangebende Elemente. Bei dem plastinierten, mit Zuckerguss überzogenen Mainstreamquatsch, der damals aus allen möglichen Boxen quoll (und heute immer noch quillt!), war der Sound von NMA wie für mich komponiert. Obschon ich niemand bin, der musikalisch in der Vergangenheit hängengeblieben ist, gibt mir der Sound noch immer den gewissen Kick, um den rettenden Notausgang zu finden.

Auch NMA sind nicht stehengeblieben. Auch wenn ich die späteren Alben nicht mehr intensiv gehört habe, was sicherlich ein Fehler ist, hört man neue klangliche Entwicklungen heraus. Doch alle neuen Songs tragen den Stempel der Band und transportieren die Einstellung „mach was du willst“. Es ist beruhigend, dass dieser Spirit auch 2025 noch präsent ist. Sullivan:

„Der Geist, mit dem du Dinge angehst, ist wichtiger als der Erfolg. Bei Punk ging es schon immer um Spirit und um Kommunikation, nie um technische Aspekte der Musik oder um Mode. Es geht um die Freiheit der Ideen und was das betrifft … (1).“

New Model Army (Foto Marion Illhardt)
New Model Army (Foto Marion Illhardt)

Und nun schreiben wir das Jahr 2025. Eigentlich hat sich nicht viel geändert und doch andererseits alles: Es ist nur anders! Die Musik im Radio ist immer noch schrecklich, die Mode zum Abgewöhnen und der Geist der Leute im gesellschaftlichen Wahnsinn gefangen. Obschon meine Frau im Gegensatz zu mir rockkonzertunerfahren ist, findet sie einen Weg durch die ausverkaufte Halle des „Jovels“ ganz nach vorne. Vielleicht war ich früher auch zu cool, um in der ersten Reihe zu stehen! Die Vorband PREYRS  mit der charismatischen Sängerin Amy Montgomery spielt ihr letztes Stück. Dann eine lange Umbaupause – viel zu lang, bis das Licht erlischt und die Musiker von NMA die Bühne betreten. Ihr Erscheinen ist keine Show, sondern eher ein „Guten Abend, wir legen dann mal los“. Was dann kommt ist ein Rockgewitter mit leisen, lauten und schrillen Tönen. Sullivans Stimme ist unverkennbar, doch man merkt, auch an ihm ist das Alter nicht vorbeigegangen. Wenn er seine Statements schreit, fehlt schon mal anschließend die Luft. Irgendwie beruhigend, dass die Stars mitaltern, nur leider Gottes immer mehr wegsterben. Bedauerlicherweise sterben immer Rockstars, keine Idioten aus der weltweiten Politshow. Um mich herum stehen Männer und Frauen, die textsicher sind und die überwiegend mir unbekannte Songs mitsingen. Natürlich wartet man heimlich auf die großen Nummern der Band, doch darauf scheinen die fünf Musiker keine Lust zu haben. Auch darauf gibt Sullivan in dem Interview eine Antwort:

„Jedes Mal, wenn ein Song drohte, größer als die Band zu werden – „51st state“, „Vagabonds“ oder „Vengeance“ –, haben wir ihn fünf Jahre nicht live gespielt. Das war immer unsere Antwort. Gib den Leuten nicht, was sie glauben zu wollen! Geh einfach deinen Weg.“

Doch den Leuten und damit auch uns gefällt genau das. Nachdem der letzte Song der Zugabe beendet ist, legen die Gitarristen ihre Klampfen auf den Boden. Lassen sie über Rückkopplungen ausklingen. Eigentlich möchte man hier nicht weg, aber das Gute bei einem Konzert von NEW MODEL ARMY ist: Man nimmt ganz viel Spirit mit nach Hause. Und wenn ich künftig mal häufiger unbequem wirken sollte, dann liegt es daran, dass ich einfach meinen Weg gehe. Also wie immer, nur aufgefrischt – Dank NMA!

Quellen

https://www.ox-fanzine.de/interview/new-model-army-6817