Wir müssen nicht Putin verstehen, um den Krieg zu verstehen. Aber wir müssen herausfinden, wie er die Geschichte Russlands umbaut. Mich interessiert nicht, ob das verrückt ist oder nicht. Meine Frage ist: Was treibt ihn zu diesem Umbau? Und wie gehen wir damit um?
Nichts regt uns so auf wie Putins Krieg. Aufregen ist noch lange nicht wissen, wie man damit umgehen kann. Mein Problem ist: nicht Putin verstehen, sondern begreifen, was da vor sich geht. Ich versuche, an dieses Problem nicht politisch oder strategisch heranzugehen. Vielmehr aus einer ethnologischen bzw. soziologischen Warte (Soziologie ≈ Ethnologie des Hiesigen).
Meine Ausgangsfrage ist: Was sind die gegenwärtigen Ziele der Geschichte in Putins Russland? Das Volk tickt anders als Putin, wagt es wohl nicht, anders zu sein, als Putin erlaubt. Diese Geschichte ist – und mag sie noch so komisch sein – der Generator für Sinngebung und Identität. Ethnologen und Soziologen bezeichnen das gern als Narrativ(e) [= Geschichte(n)]. Jedes Land hat seine Narrative, auch Deutschland (z.B. Geschichten über die Zeit von Kaiser Wilhelm, die Revolution, den Holocaust, die Gründung der Republik). Welches aber „gilt“? Entweder es ist ein dialogisches Narrativ – sagen moderne Ethnologen – oder der, der die Macht hat, entscheidet, welche Geschichte gilt – sagen andere. Und genau da sind wir bei Putin.
Kürzlich las ich ein Buch des Soziologen Hans Joas („Die Macht des Heiligen“ von 2022), das war politisch gemeint. Ich sah den Bezug zu Putin mit meiner Interpretation, dass seine Macht von vielen akzeptiert werden kann, weil nur der Macht hat, der als „heilig“ (besser: sakralisiert) gilt. Patriarch Kyrill sorgt für den Heiligenschein Putins. Die beiden wurden in den Medien mit Kerzen in der Hand bei der gemeinsamen Osterfeier fotografiert. Kyrill gibt Putins Krieg als gut und human aus. Macht baut auf Heiligkeit. Das bedeutet nicht, dass Putin von der russisch-orthodoxen Kirche heiliggesprochen wird. Es geht darum, dass Russland – m.E. zurzeit jedenfalls – auf Heiligkeit und religiösen Gehorsam setzt. Aber da scheint sich etwas zu verändern.
Aber bleiben wir bei Putins Russland. („Russland“ und „Putins Russland“ sind zwei verschiedene Dinge.) Dazu ein paar Begriffe, die uns zu denken geben. Ich habe einen Auszug aus einem – natürlich virtuellen – Lexikon zusammengestellt. Die Begriffe bauen auf Elena Kostioukowitsch, George Nivat und Régis Debray. Sie zeigen, wie Putin Russland sieht:
Außenminister Sergei Lawrow äußerte sich zu Putins Russlandplan am 17.06.2022: „Wir helfen dem ukrainischen Volk auf jeden Fall, sich von dem absolut volks- und geschichtsfeindlichen Regime zu befreien“. Putins seltsames Lexikon spiegelt in seinen Augen den Verlust von Russlands Identität. Und was machen wir damit?
- Die mythische Geschichte Russlands – eine mögliche Falle
Die Geschichte Russlands im Verständnis Putins basiert auf vielen Mythen, nicht auf wirklichen historischen Ereignissen. Diese Mythen fußen auf Visionen und Gründen, die ihren Sinn und ihre Legitimation in einer mehr oder weniger nachvollziehbaren Geschichte haben. Sie brauchen keine Fakten, Forschungsergebnisse oder gesunden Menschenverstand.
Verfehlen Mythen die Wahrheit? M.E. ja. Denken wir an die Bibel, etwa an die Entstehung der Welt, an die Geschichte, wie die Frau aus einer Rippe des Mannes entstand, an die Sintflut usw. Ein Mythos, den man für bare Münze hält, geht am Sinn der Geschichte vorbei. Nicht nur in der Bibel. Es gibt leider nicht nur in Amerika Menschen, Fundamentalisten genannt, die die Entmythologisierung (Rudolph Bultmann) ignorieren und an der Wahrheit vorbeischrammen.
Es ist ein Debakel, dass Russlands Geschichte auf Mythen aufgebaut wird – siehe im „Lexikon“ v.a. die Stichworte Noomachie, Neue Chronologie und Ruskij Mir). Vom amerikanischen Historiker George L. Mosse habe ich gelernt, dass Mythologisierung Probleme macht: Im Mythos hängenbleiben, ihn neu aufbereiten bzw. verstärken und als Zukunftsmodell benutzen führt immer näher an einen Krieg heran und macht die Beendigung eines Krieges (so bei den beiden Weltkriegen) unmöglich.
Interessanter Weise interpretiert der Historiker Götz Ali das Ende des 2. Weltkrieges, der voller Mythen steckte, so: Die Deutschen „mussten von sich selbst befreit werden“. Im Falle des Ukraine-Krieges, den Putin mit seinen Mythen angezettelt hat, wiederholt sich das Drama wieder. Putin baut die Geschichte Russlands auf Mythen auf. Er stellt jede Entmythologisierung unter Strafe. Mythen schüren Ressentiments, Misstrauen und Bedrohungspotential.
Szenenwechsel. Ein Zitat unseres Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier aus einer Ansprache am 8. Mai 2020. Deutschland hat 1975 den jährlichen Feiertag eingerichtet, weil am 08. Mai 1945 der 2. Weltkrieg in Europa durch die vollständige Kapitulation der deutschen Wehrmacht endete.
Was sind die alten bösen Geister? Hass und Bereitschaft zur Aggression. Würde Steinmeier das – 2 Jahre später – auch im Fall Putin sagen? Ich hoffe ja. Sonst hätten wir wieder eine Doppelmoral, diesmal präsidial getunt.
- Gibt es ein Ende der Mythologie?
Ich tue mal so, als würde Walter Benjamin Putin kennen. Putin und seine Geschichte Russlands hätten bei ihm schlechte Karten. Fürsten, schreibt Benjamin in seinem »Trauerspielbuch« (1925), würden einen Hofnarren halten, weil sie keine Zeit und genaue Beobachter für eine Kritik ihrer politischen Entscheidungen haben. Manchmal glaube ich: Hofnarren bräuchte Putin, nicht Lawrow und Co. Sollten nicht einmal Scholz, Macron etc. und der Obermythologe Orban die Rolle des Hofnarren übernehmen? Die Frage ist nicht nur lächerlich gemeint.
Und was hat das mit Mythen zu tun? Gehen wir zu Putins Lexikon zurück: Wie entstand das russische Volk, und was lernen wir daraus? Wir verstehen unter Mythen soviel wie Legenden, alte Geschichte u.ä. Putin schafft vor allem eines nicht: Selber denken. Sich alternative Ansichten gefallen lassen. Hat er ernstzunehmende Alternativen? Also bleibt er in den Mythen hängen, weil er niemanden zum (kritischen) Nachdenken hat.
Das Ende des Mythos wird zum Riesenproblem. Es bedeutet gewissermaßen Ende des Krieges. Der kann nur Sieg der einen Seite bzw. Niederlage der anderen Seite sein. Danach kommt der Friedensvertrag. Geht dem ein Krieg voraus? Wenn viele Historiker über das Ende des 2. Weltkriegs reden, scheint dieser Weg unvermeintlich. Aber das sollten Politiker und Militärstrategen entscheiden – aber nicht ohne Berücksichtigung von Putins Mythologie.
Falls und hoffentlich ist der Ukrainekrieg bald zuende. Aber der Friedensvertrag ist das Problem. Putin scheint Verträge nicht zu halten (so im Fall Odessa und der Weizenausfuhr). Putin hustet, und wir bekommen die Grippe? Ich bin natürlich kein Diplomat. Vielleicht könnte man für die Einhaltung von Verträgen, wenn es um internationale Verträge geht, internationale Kontrollen fordern. Das ist keine Einmischung in die Kriegsszene. Dann bekäme Putin die Grippe, und wir würden husten. Das macht Sinn. Und ein Ost-West-Krieg wäre verhindert. Ein bisschen Mut muss sein.
- Was kann man gegen Mythologien tun?
Das Gegenteil schrieb Stefan Zweig, der Deutschland bzw. Österreich (nach der Eingliederung ins NS-Reich) verließ und in Brasilien durch Suizid 1942 sein Leben beendete. Er vertrat – so in der fantastischen Ansprache 1932 (»Die moralische Entgiftung Europas«) das „Ideal höherer Eintracht zwischen den Nationen bei Wahrung der Eigenart aller Nationen.“ Eintracht auch mit Russland und seiner Eigenart? Zumindest Russland nicht als Feind betrachten, den man ausrotten muss. Das würde mir Stefan Zweig bestätigen.
Noch deutlicher und soziologisch vertrackter wird ein weiteres Zitat von Zweig:
Was können wir tun, um das Chaos des Ukraine-Kriegs herunterzufahren? Dass die Nato gegen Russland in den Krieg zieht, ist wohl das Ende unserer Erde (Wer als erster schießt, stirbt als zweiter). Wir versuchen, uns Alternativen zu überlegen.
- Selbstkritik
In der EU gibt es leider viele Beeinflussungen, die Putin zu Exzessen (auch militärischen) verleiten. Hier einige Beispiele:
Donald Tusk war einst begeistert von dem kritischen Historiker Pawel Machcewicz, und baute in seinem Sinne – ein dialogisches Narrativ, das auch die NS-Kollaboration einiger Polen umfasste – ein riesiges Museum mit Machcewicz als Kurator. Die Vorbereitungs- und Bauzeit dauerte 8 Jahre. Das Museum wurde 14 Tage nach seiner Eröffnung von PiS geschlossen, weil die Partei nur die Narrative zuließ, die die Opferrolle Polens unter dem NS-Regime rühmten. (War sich PiS sicher, dass es nur in Frankreich Kollaborateure gab?) Immerhin, Narrative spielen in unserer Welt eine wichtige Rolle, v.a. wenn sie nicht auf nicht nachvollziehbaren oder sogar falschen Geschichten beruhen.
Was macht Putin anders? Klar, ihm „verdanken“ wir Tote, Menschen ohne Wohnung, vergewaltigte Frauen, Flüchtlinge, Trauernde und Verwundete, jetzt auch noch Hungernde in aller Welt, die keinen oder nur teuren Weizen bekommen bzw. nicht bekommen, weil nicht bezahlen können. Demnächst also Hungertote.
Natürlich ist PiS „humaner“. Immerhin hat Putin gelernt, dass PiS und andere europäische Länder von Brüssel (zumindest recht lange) akzeptiert werden.
Denken wir an den Ungarn Orban, der nicht umsonst „Putins Dackel“ genannt wird, Nach den letzten Meldungen des EuGH (Gesetz für Kinder und Jugendliche mit Verbot nicht-heterosexueller Information) ruderte er zurück, weil ihm Zahlungssperren angedroht werden.
Und was hat Putin daraus gelernt? Man kann tun was man will, Reaktionen dauern oder kommen überhaupt nicht. Er kann mit Europa machen, was er will, sogar die Ukraine, die ja Mitglied des Europarates (nicht zu verwechseln mit der EU-Institution „Europäischer Rat“) ist, platt machen.
- Gemeinsame Projekte
Es ist beinahe Usus, jedwede Solidarität mit Russland aufzugeben. Wer Putins Krieg für gut hält, hat unsere Solidarität nicht verdient. Wohl weil viele meinen, dass Russland identisch ist mit Putin. Und das stimmt nicht. Aus Exklusion sollte Inklusion werden. Nur gemeinsame Projekte führen zu Partnerschaft. Auch wenn das gegenwärtig wie Träumerei aussieht. Immerhin steuerten gemeinsame Wirtschaftsprojekte zwischen BRD und DDR zur Überwindung der Trennung.
Etwa die Konrad-Adenauer-Stiftung, das Deutsch-Russische Forum und die Moskauer Schule für gesellschaftliche Bildung planen ein Bildungsseminar „Russland als Teil Europas” in Berlin. Gemeinsame Werte und gemeinsame Interessen sind das Ziel der Referate und Diskussionen dieser Tage, nicht der Schlagabtausch der Vorwürfe.
In Konstanz gab es eine gemeinsame Trauerfeier der Hinterblieben (meistens Eltern) der 71 Toten einer Flugzeugkollision über dem Bodensee am 1. Juli 2002. Trotz des Einreisestops konnten die Betroffenen aus Russland einfliegen.
Gemeinsame Projekte mit Russland müssen unbedingt zahlreicher werden. Erst Gemeinsamkeit von Werten und Interessen führen – zumindest langfristig – zu Verbundenheit im Zusammenleben.
- Mut und Multinationalität
Mutig-sein ist mehr als Stark-sein. Im Fall der NATO heißt das, über Waffen zu verfügen. Natürlich ist das wichtig. Aber wichtiger ist die Fähigkeit des In-Szene-Setzens, Mit“spieler“-sein – nicht à la Orban. Das ist zeigen, was die eigenen Ziele sind und was sie einem wert sind. Putin und seine Leute wie Sergei Lawrow, Anatoli Serdjukow sagen, dass (ihre Version von) Volk und Geschichte über allen Zielen stehen. Unser Ziel ist ein ganz anderes: Autonomie und neues Recht der Staatsangehörigkeit. Und das muss immer wieder vorgetragen werden. Philosophie im Kriegsfall?
Lange Zeit – manchmal klingt das auch heute noch durch – galten die Ziele: homogener Raum der sog. Heimat, Nation gleich Territorium, eine Sprache, eine Geschichte, eine Kultur, eine Religion – nicht eine Konfession. Aber Islam? Bis vor unserer Ampelkoalition hatten wir für das deutsche Innenministerium Horst Seehofer, der Wert darauflegte, Minister für Inneres und Heimat zu sein. Immerhin verstehen wir Nation und sogar Heimat jetzt anders.
Diplomatie bedeutet: in aller Klarheit diese Ziele als gültig formulieren, auch wenn noch einige die alten Ziele vertreten, aber der Umbau dieser Gesellschaft voll im Gange ist. Das heisst auch, sich mutig in Szene zu setzen und kompromisslos mitzu“spielen“. Mut bedeutet auch, keine Drohungen zu akzeptieren. Dass Sergei Lawrow den Raum verließ, als Annalena Baerbock ihr Referat auf dem G 20-Gipfel halten sollte, ist Angst. Manche Zeitungen interpretierten das auch als Überlegenheit des alten Strategen. Hat Baerbock die Russen das Fürchten gelehrt? Das dürfte ruhig öfter passieren.
- Annexion ist kein Zusammenwachsen bzw. zusammen wachsen
Putin bezeichnete den Krieg als Militäroperation. Selbst diese verharmlosende Bezeichnung übersieht, dass Putin sein Ziel verfehlt. Er wollte das vereinigte Russland, also ein zusammenwachsendes Territorium. Nur: Zusammenwachsen ist noch lange nicht zusammen wachsen (Wortspiel von Aleida Assmann). Selbst wenn Putin den Krieg gewinnen würde, da wächst nichts, erst recht nicht zusammen. Da sind die Toten, die Trauer, die Trümmer, die Flüchtlinge, die zerstörten Familien usw. Erinnerungen also, die über viele Generationen das Zusammen blockieren.
Man erinnere sich an gespaltene Gesellschaften. Deren Problem ist die Überwindung der Spaltung. Etwa Israel mit seinem Problem der jüdischen Bevölkerung auf dem Land der Palästinenser, die beide nicht das Leid der anderen – vor allem nicht öffentlich – anerkennen.
Oder die USA nach George Floyd, wenn die Spaltung nicht schon sehr lange bestanden hat. James Baldwin schrieb:
Wenn Putin mit seinem seltsamen Lexikon wüsste, was da vor sich geht. Ich bin sicher, dass seine Operation (besser: Krieg) daneben geht. Sieg bzw. Verlust hin oder her.
Ergänzungen und Kritik unter joillhardt@web.de