Swingin the blues
Jazz in Deutschland und was er uns bedeutet

Joachim-Ernst Berendt (1922-2000) wurde zum Wegbereiter des Jazz in Deutschland. Ihm ist es zu verdanken, dass Jazz mehr und mehr im Gefühl der Menschen heimisch wurde. Aber was ist Jazz? Und was bedeutet Musik für uns?

Count Basies Jazz-Trio. Die Band spielte “swingin the blues” (Foto Pixabay)
Count Basies Jazz-Trio. Die Band spielte “swingin the blues” (Foto Pixabay)

Das Wort »Jazz« wurde in Deutschland 1919 in einer Zeitschrift erstmals gebraucht. Als erste deutsche Jazzplatte gilt gemeinhin der Titel „Tiger Rag“ (in den USA bereits 1917 erstmals eingespielt). In den 20er Jahren wurde erstmals eine Jazzband in Berlin von einer damals sehr berühmten Tänzerin (Fern Andra) engagiert. Tanzen spielte im Jazz damals eine wichtige Rolle.

Leider wurde im Dritten Reich die deutsche Entwicklung des Jazz unterbrochen. Als nicht akzeptabel galt jede fremdländische Musik. Das Dritte Reich konnte weithin auf den deutschen Fremdenhass setzen. Nach dem Krieg musste Joachim-Ernst Berendt in seinen Radiomoderationen (z.B. Konzertreihe »Jazztime Baden-Baden«) mit diesem Ressentiment rechnen.

Joachim-Ernst Berendt in jungen Jahren (Foto Pixabay)
Joachim-Ernst Berendt in jungen Jahren (Foto Pixabay)

Berendt wurde aus der amerikanischen  Kriegsgefangenschaft entlassen, weil sein Vater in einem KZ getötet wurde. Danach ging er nach Baden-Baden zurück und bekam eine Anstellung beim damaligen SWF-Rundfunk (Südwestfunk, heute SWR). Ihn faszinierte der Jazz, der in Süddeutschland nach dem Krieg nicht verfügbar war. Aber dort gab es reichlich Wein. Da kam ihm eine epochale Idee: Er packte Wein in seine VW-Bus, fuhr damit nach Berlin und bekam dafür Jazz-Platten, mit denen er den SWF zum führenden Jazz-Sender in Deutschland machte nach Hause brachte.

Später publizierte er viele (19) Bücher über den Jazz. Wichtig sein Buch: »Das Leben, ein Klang. Wege zwischen Jazz und Nada Brahma« von 1996 (Nada Brahma = altindischer Begriff der aktiven Klang-Meditation). Er wurde der Interpret des Jazz.

Am Jazz imponierend ist die Bemerkung von Berendt, dass Jazz Politik ist. Musik aus Amerika bedeutet, Deutschland in eine liberale Demokratie zu verwandeln. Sieg über die NS-Zeit ist Befreiung. Das geht nicht so schnell. Besonders nicht, was den Musikgeschmack angeht. Heute wissen wir das. Ich plädiere nicht für bundesweite Priorisierung des Jazz, des Pop oder der Klassik. Es geht doch um eine Liberalität, Musik als das zu erleben, was uns allen etwas sagt.

Denken wir an den Bundestag, z.B. an 70 Jahre Grundgesetz oder den Tod eines Politikers (Ermordung von Walter Lübke). Keine Feier ohne Quartett mit klassischer Musik. Bei solchen Anlässen muss offenbar Stil gewahrt werden. Aber ist das der Stil unserer Bevölkerung? Je ernst oder trauriger der Anlass, desto klassischer die Musik. Je weniger, was dann?

Vor Jahren hat unsere Uniklinik Gäste und Leute mit Rang und Namen zum Thema medizinische Forschung eingeladen. Das war doch sehr ernst. Oder? Ein Professor (früher Geiger in einem berühmten Orchester) hatte den Freiburger Jazzchor eingeladen. Wenn einer was von Musik versteht, dann er, der eingeladen hat. Jazz? Das ging gar nicht. Es sollte doch gefeiert werden. Klassikfans verließen in der Pause den Saal. Stil muss eingehalten werden. Oder?

Behrend nannte noch folgende Momente, die im Jazz wichtig sind:

  • Jazz ist Freiheit

Ich möchte den Begriff »Freiheit« nicht überlasten. Gemeint ist v.a. die Freiheit von etwas: von der Festlegung auf Noten, Tempobestimmung, Dynamik (= Lautstärke von fortissimo bis pianissimo, [de]crescendo), von exaktem Beherrschen des Instruments, von Empathie des Komponisten und seiner themenbezogenen Gefühle usw.

Das alles ist bei einer Jazzband nicht so wichtig. Wichtiger ist die aktuelle Stimmung des Instrumentalisten, die Musik, die er produziert und seine Bandkollegen aufnehmen und verstärken, letztenendes auch die Stimmung des Publikums, die eine gute Band versteht und der Musik mitgeht.

»Freiheit von« ist in diesem Zusammenhang auch »Freiheit für«: Freiheit für Kreativität, für Freude-haben, Sich-freuen-dürfen und Freude-geben. Ich war in einer Beatband der Schule. Unserem Klassenlehrer zuliebe spielten wir vom George Gershwin „Summertime“ aus seiner Oper Porgy and Bess. Gershwin war amerikanischer Klassiker mit Jazzeinschlag.

Unsere Band hatte keine Noten und unser Arrangement war sicher sehr laienhaft. Jazz im Beatleformat? Aber die Mitschüler, der Lehrer und wir haben uns riesig gefreut. Irgendwie war das Freiheit. Etwas können und kreieren, wenn auch nicht perfekt sein.

  • Jazz speist sich aus sehr vielen Quellen

Ende des vorletzten Jahrhunderts (ab ca. 1890) bildete sich der Jazz heraus. Vorläufer waren Straßenmusikkapellen und der Blues. Die dort angewandte G(u)itarre wurde oft durch das Banjo (4-8 Saiten, meist 5 sai­tig etwa im New Orleans Jazz oder im Dixieland) ersetzt, das vielfach von afrikanischen Sklaven benutzt und dann in Amerika übernommen wurde. Perkussion baute auf den afrikanischen Trommellauten (etwa zur Götterbeschwörung auch in der afrikanischen Medizin) auf, die u.a. Synkopen und Crossbeats (Betonung jenseits des Takts) enthielten. Vorbilder waren auch die Instrumente der klassischen Musik. Und schon war das Gerüst für die Instrumente der Jazzbands aufgebaut.

Dieser Instrumentenmix war das eine. Dazu kamen die Melodien, oft Lieder, die man bei der Arbeit, bei Versammlungen, beim Gottesdienst oder beim Tanzen sang. Melodien gab es ungeheuer viel. Sie wurden aus klassischen Orchestern herausgenommen oder (gerade auch im modernen Jazz) komponiert.

Ein Beispiel ist die Cajun Musik, die in der Mississippi Region entstand. Sehr viele Menschen, auch die evangelischen Franzosen (vertrieben in der frühen Neuzeit), lebten meist vom Fischfang. Und an Sonntagen wurde getanzt und musiziert, mit den Instrumenten und Arbeitsmitteln (z.B. Waschbrett), die man halt einsetzen konnte. In der Nähe liegt New Orleans, der Ursprungsort des Jazz. Da gab es musikalischen Austausch. Beide leben von der kreolischen Musik und dienen der Bewältigung des harten Alltags. Die Mississippi-Musiker benutzen Taktarten vom langsamen Blues bis zum Walzer. Cajunmusik wird auch als „Sumpf-Rock“ bezeichnet.

  • Jazz und Rhythmus

Rhythmus und Takt sind sehr verschieden. Takt ist das objektive Maß einer Kadenz, Rhythmus das gefühlte Maß der Spielpraxis. Das habe ich sehr spät verstanden. Jazz und Rhythmus gehören zusammen

Dazu ein Beispiel: Lange Zeit habe ich vom Jazzer Dave Brubeck das berühmte Stück »take five« gehört und bewundert. Das Dave-Brubeck-Quartett machte 1959 ein Album. In den Pausen experimentierten der Schlagzeuger und der Saxophonist (Paul Desmond) Musik in dem recht seltenen 5/4-Takt. Brubeck war davon so fasziniert, dass die beiden zum nächsten Probentermin ein Stück im 5/4-Takt mitbringen sollten. Das neue Album hieß darum »take five«.

Ich erwähnte den Namen des Saxophonisten deswegen, weil er in dieser Taktart schon viel herumgearbeitet hatte. Es kam ihm aber nicht auf den Takt an, sondern auf den Rhythmus, den er dadurch erzeugte. Sein Stück wirkte etwas „schräg“. Gezählt wird meist in einer Kadenz von drei Viertelnoten, gefolgt von einer Kadenz mit zwei Viertelnoten oder umgekehrt.

Im amerikanischen Englisch heißt »take five« „mach mal 5 Minuten Pause“. Insofern würde der Name der Platte passen, wurde sie doch in einer Pause geboren. In einem Interview sagte der Saxophonist, er sei auf die Idee des 5/4-Takts gekommen, weil er oft am Spielautomaten gesessen und weniger auf das Geld, sondern mehr auf den Takt geachtet habe, den der Automat »draufhatte«.

  • Jazz lebt vom Improvisieren

Noten kannte ich aus der Schule, wusste aber nicht wie Improvisieren geht. Improvisieren = Spielen, was man will? Fast. Improvisieren bedeutet: Erst spielt man eine Melodie, und die wird wiederholt, indem man sie selber gestaltend umspielt. Oder es wird in einem Stück eine Akkordfolge festgelegt, die dann von verschieden Instrumentalisten improvisiert wird. Je moderner der Jazz (z.B. im Free-form Jazz) wird, desto abstrakter wird die Improvisation.

Spielen, was man will? Der Jazzer braucht keine Noten, aber holt aus seinem Instrument heraus, was in dem Stück drinsteckt. Dizzy Gillespie – Jazz­trom­peter, Musikpädagoge, in späteren Jahren an afro-kubanischem Jazzstil orientiert – soll gesagt haben: „Was Du nicht im Herzen hast, kriegst du nicht aus der Trompete.“ Herz und Musik gehören zusammen. Leben ist Klang, so Berendts Motto.

Wunderbar klang die Musik des berühmten Gitarristen Django Reinhardt aus Belgien, später Frankreich. Als damals sog. Zigeuner wurde er in Paris wegen seiner Berühmtheit nicht an die deutschen Besatzer ausgeliefert, konnte aber nicht mehr spielen, um nicht aufzufallen. Als der NS vorbei war, wurde er zum Wegbereiter des europäischen Jazz mit Einspielungen von Bigbands bis zum Terzett. Sein Bruder, später sein Sohn, spielte die Rhythmusgitarre, Django die Sologitarre und z.B. der berühmte Geiger Stéphane Grappelli die Melodie, und beide improvisierten, nachdem die Melodie klar war, was ihre Instrumente hergaben.

  • Jazz und seine »dirty tones«

»Dirty tones« kennt man in der klassischen Musik nicht. Instrumente wie auch Gesang können Töne produzieren, die total unüblich sind und in den Ohren der Klassiker eher „schmutzig“ klingen. Sie rühren von der afrikanischen Gesangsweise her, die vor allem von Sklaven in Worksongs gesungen wurden.

Die afrikanischen Sänger erzeugten die schmutzigen Töne vor allem durch Pressen bzw. Quetschen und sinnlosen Silben. Dadurch wird der Stimmklang unsauber und kratzig. Instrumentalisten imitieren diesen Effekt. Bläser versuchten z. B. durch die Verwendung von äußerst viel Luft ebenfalls Nebengeräusche zu erzeugen. Ein paar Beispiele: die überrissene Querflöte, schleifende Tonfolgen bei Saxophon und Klarinette, statt der sauberen Gitarrenakkorde Sextakkorde oder total unübliche Griffe, Cluster auf dem Klavier, Gesang mit Silben ohne Bedeutung (wie Bi Ba Bu) , aber mit Klang.

Dass »schmutzig« zum Prinzip wird, ist eine Herausforderung der Musik und der Lebenspraxis. Schmutz darf nicht sein! Grundsatz aller Schwiegermütter (Pardon allen Schwiegermüttern!). Wir brauchen Regeln, aber auch die Freiheit, sie zu übertreten, auch wenn das als schmutzig gilt. Musik wird zum Lehrstück der Zügellosigkeit?

Bedeutung der Musik

Behrendt mit 70 (Foto Pixabay)
Behrendt mit 70 (Foto Pixabay)

Was im Alter Berendt (er ist ja 2000 gestorben) und mich verbindet, ist dass wir beide Musik, gleich ob Klassik oder Jazz, mögen. Hauptsache die Musik ist „gut“. Was heißt gut? Sie sagt uns etwas. Sie macht uns Freude. Überredet uns, Unwichtiges wichtig zu machen, d.h. unseren Alltag mit Kreativität aufzurüsten. Mit Banalem nicht zufrieden zu sein. Zwingt uns, Wahrheit zu begreifen, wenn wir im Alltag gegen Fakenews nicht protestieren.

Jazz und Pop(ular music) bildeten lange Zeit ein Gegensatzpaar. Popmusik ist in der Regel sehr text- bzw. gesangsbezogen, Jazzmusik dagegen sehr instrumentenbezogen. Selbst die Stimme (siehe dirty tones) wird teilweise instrumental eingesetzt. Aber beide beeinflussen sich gegenseitig, wie es heißt: Jazz goes Pop und Pop goes Jazz. Jazz und Pop lassen sich nicht streng trennen. Selbst Jazz und Klassik passen zusammen wie bei George Gershwin, Friederich Gulda usw. Zugegeben, das sind nicht viele.

Aufregend war, dass posthum von 1980 in San Francisco eine Aufnahme der drei Jazzgitaristen Al di MIola, John MacLaughlin und Paco de Lucia (Flamence-Jazz) wiederentdeckt wurde. Das Besondere daran ist, dass die drei nicht ein Publicum begeistern wollen, sondern jeder wollte den anderen begeistern. Musikalische Begeisterung ist Lebenselixier des Jazz.

Was ich will, ist nicht kritisieren, sondern in Musik, gleich in welche, eintauchen. Meine Kritik ist Protest, in Musik nicht eintauchen zu können, gleich ob Jazz, Klassik oder Pop.

  • Pop verkommt zur Hintergrundmusik

Kommt man in den Supermarkt, darf/muss man Musik hören, die einen davon abhält, nachzudenken, welcher der 50 Joghurts nachhaltiger ist. Was ist Musik? Füllmaterial für leere Köpfe? Eine Art Animation? Richtig. Animation! Ich beeile mich, bald wieder draußen zu sein.

  • Musik und Text

Bei aller Ähnlichkeit von Jazz und Pop: Pop textet, Jazz (meist) nicht. Perkussive Musik mit Text mag ich selten, eher dann (etwa in Chansons oder nicht französischem liedhaftem musikalischem Genre), wenn der Text wirklich nachdenklich macht. Leider tut er das – in vielen Radiosendern – nicht so oft.

Was ich wirklich gerne mag, sind Jazz-Sänger*innen wie Ella Fitzgerald u.a. Sie hat einen Stimmumfang von 3 Oktaven wie die Instrumente. Ihr Gesang ist der sog. Scat-Gesang, bei dem – das gilt auch für die anderen Jazzsänger*innen – kein Text gesungen wird, sondern Laute in schneller Abfolge eine Melodie bilden.

  • Manchmal sind Jazz und Popp kunstlos

Dass der Pop aus dem Jazz kommt, ist erstaunlich, weil Jazz sehr oft kunstvoll und variantenreich ist. Zu „kunstvoll“ gehört auch das exakte Zusammenspiel aller Bandmitglieder. Das ist ein hoher Anspruch. Oft sind Jazz oder Pop (je nach Radiosender) ungeheuer simpel, beinahe kunstlos arrangiert. Das hat Musik nicht verdient. Sie hilft uns – das ist natürlich nicht der all­einige Pluspunkt – zu leben.

  • Kommerzialisierung der Musik

Für alle, die Musik lieben, ist es ein Schlag ins Gesicht, wenn Musik zum Werbeträger wird. Ein Beispiel aus dem sog. »Klassikradio« als Beispiel für eine Musik, die gut ist, aber fremdgesteuert wird: Eine verführerische Frauenstimme stellt einen vor die Frage, warum der russische Komponist Schostakowitsch an Schokoladeneis erinnert. Beides fängt mit „Scho“ an. Haha – adè Klassik.

Das funktionierte auch bei Jazz. Weil das »take five« von Brubeck so berühmt wurde, benutzten es damals BMW und Apollinaris als Werbeträger. Das hat gute Musik, egal welche, nicht verdient. Sie braucht zwar Instrumente, darf aber niemals instrumentalisiert (= Werkzeug von irgendwem) werden.

Bitte gebt acht, dass Musik nicht im Kommerz verkommt.