Medizinethik ist das moralische Auge im medizinischen System. Oft wird sie ausgeblendet, doch ist sie heute wichtiger denn je. Über Inhalte und Strukturen dieses Fachbereichs und was er in der Medizin bewirkt oder nicht bewirkt, das klären Arnold Illhardt (Psychologie) und Franz Josef Illhardt (Medizinethik) in einem Interview.
Arnold Illhardt (AI): Lieber Franz Josef, die Tatsache, dass wir über den gleichen Nachnamen verfügen, lässt schon vermuten: Hier geht es verwandtschaftlich zu. Um es gleich vorwegzunehmen: Wir sind Brüder – häufig auch im Geiste! Ich möchte mir mit diesem Interview einen lang gehegten Wunsch erfüllen und dich zu dem Thema Medizinische Ethik befragen. Noch neulich fand ich in einem Buch unserer Mutter einen Ausdruck mit einer ersten Veröffentlichung von dir. Heute frage ich mich: Hat sie den Artikel verstanden?
Franz Josef Illhardt (FJI): Wahrscheinlich hat unsere Mutter das nicht verstanden. Da sie sehr katholisch war, und ich immer mehr dem Katholismus den Rücken kehrte, wollte ich sie milde stimmen. Medizinische Ethik war für sie so etwas wie religiöse Ethik in medizinischer Umgebung. Sie kannte sicher nicht den Unterschied zwischen »Moral«, die von einer Gruppe (etwa Kirche) bestimmt wird, und »Ethik«, die über Moral nachdenkt.
Beispiel: In der Klinik hatten wir (sehr) viel mit dem Abbruch einer medizinischen Behandlung zu tun, natürlich mit den Behandlern und oft sogar mit Patienten und Angehörigen. Unser Problem war nicht, welche Moral die Gruppe hatte, aus der sie kamen. Uns interessierte, was die Patienten warum wollten und wie die weitere Behandlung und Prognose bei Medizin und Pflege aussehen sollte.
(AI): Wenn man mich früher fragte, was mein Bruder beruflich so macht, habe ich natürlich wahrheitsgemäß geantwortet: Er ist Professor für Medizinische Ethik. Die Reaktion war immer wieder die gleiche: Fragende Blicke! Oft war ich froh, es nicht detailliert erklären zu müssen. Wie erging es dir damit, wenn du über deine Profession gesprochen hast? Waren deine Ausführungen für dein Gegenüber nachvollziehbar?
(FJI) Mir begegneten auch oft die fragenden Blicke. Vor Jahren benutzte die ZEIT einmal die Überschrift „Doktor Ratlos“ (gemeint war ein Kollege, Gott sei Dank nicht ich). Was wäre das schön, wenn man genau wüsste, was man tun soll und was sinnvoll wäre. Das wäre ja der Beginn einer Diskussion, und die lieben die Deutschen nicht. So wie wir mehrere Millionen Bundestrainer und Fußballexperten haben, haben wir auch – nur ein paar Millionen weniger – Medizin- bzw. Medizinethikexperten. Aber Ethik geht nicht ohne Diskussion.
(AI) Magst du vielleicht mal kurz beschreiben, wie du dazu gekommen bist, dich für dieses Thema zu interessieren? Gab es so etwas wie ein Schlüsselerlebnis?
(FJI) Das Thema fand ich deswegen so spannend, weil ich leider in meiner katholischen Phase erfahren musste, dass Religion recht diskursfeindlich ist, als ich damals mal von Bischöfen angezeigt wurde, weil ich mit Schwangerschaftsabbruch sehr viel (zwar nur als Ausbilder) zu tun hatte.
Das war der eine Grund, wie und warum ich zur Medizinethik gekommen bin. Mein zweiter Grund war mein Aufenthalt in den USA. Die theoretische Begründung war zwar von Amerika bestimmt, aber ohne die europäische Philosophie ging das nicht. Aber etwas hat mich sehr überzeugt: Medizinethik ist keine „Ohrensessel-Philosophie“, wie der Bioethiker J.D. Moreno – Sohn des Psychologen Jakob Levi Moreno, Begründer des Psychodramas – mir sagte, sondern eine immer praktischer werdende Anwendung im Gesundheitsspektrum, wenn man die Betroffenheit der Patient*innen kennt. Das war ein Impuls, der mich, als ich wieder zu Hause war, brennend interessierte. Umsetzung in Deutschland war Aufgabe Nr. 1 – damals und natürlich mit regionaler Anpassung.
(AI): Bevor wir tiefer in diese Thematik einsteigen, vielleicht zunächst einmal der Versuch einer Definition. Fragt man das bekannte, für medizinische Fragen zur Verfügung stehende Online-Medizinlexikon „DocCheck“, so erhält man folgende Antwort, die fürs erste helfen mag: „Die Medizinethik ist ein Teilgebiet der allgemeinen Ethik, das sich mit den moralischen Wertvorstellungen in der Medizin, und hier vor allem mit dem ärztlichen Handeln auseinander setzt. Im weiteren Sinne ist die medizinische Ethik eine Normsetzung für alle im Gesundheitswesen tätigen Personen, Institutionen und Organisationen, wobei der Fokus auf dem Wohlergehen der Patienten ruht.“ Passt das fürs Erste oder hättest du eine andere, vor allem ausführlichere Beschreibung parat?
(FJI): Fürs erste würde das reichen. Was mich allerdings aufregt, sind drei Dinge. Einmal die Aussage, dass Medizinethik „Auseinandersetzung mit ärztlichem Handeln“ ist. „Ärztlich“ – das ist zu wenig. Im Englischen spricht man vom „caregiver“, also von allen Berufsgruppen in einer Klinik, Praxis, Reha-Einrichtung usw., die Sorge leisten. Schon seit gut 100 Jahren ist „ärztliche“ immer öfter gegen „medizinische“ Ethik ersetzt worden.
Mein zweiter Aufreger ist, dass Medizinethik häufig lediglich nur mit Nachdenken assoziiert wird. Das ist natürlich auch sehr wichtig. Aber Praxis gehört unbedingt auch dazu, sonst wäre Medizinethik Navigieren ohne Ziel. Und Ziel ist es, Menschen zu helfen. Das ist zunächst die Ethik-Beratung, im Krankenhaus meist Ethik-Konsil oder Ethik-Komitee (nicht zu verwechseln mit Ethik-Kommission) genannt. Sie bezweckt, Patienten oder Behandlern bei der Findung von Entscheidungen zu helfen. Das andere Praxisfeld ist die Ethik-Kommission (mein Hauptgebiet), das ausschließlich mit medizinischer Forschung zu tun hat. Dazu am Ende mehr.
Und mein dritter Aufreger ist die sog. Bioethik, also die Ethik, die über Probleme von Wirtschaft, Physik, Biologie, Psychologie bis Werkstoffforschung usw. nachdenkt. Im englischen Sprachgebrauch wird Bioethik oft auch als Medizinethik benutzt. Mit anderen
Worten: Medizinethik gilt vielfach als Teil der Bioethik. Die wird im Englischen nur im Plural benutzt, also als „bioethics“. Das ist wichtig, wenn z.B. ein Brustimplantat vorgesehen wird, aber man keinen Experten der Werkstoffforschung befragt hat.
Ich habe mich für die praktische Variante der Medizinethik entschieden. Im Freiburger Klinikum hatten wir die komfortable Möglichkeit, die theoretische wie auch die praktische Variante umzusetzen. Also ein Institut durch einen Kollegen zu schaffen, das in die gesamte Universität hineinwirkt, und die praktische Variante, die insbesondere für das Klinikum verfügbar ist. Wir unterstützen uns beide.
(AI): Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Medizinethik kommt mir stets der Gedanke in den Sinn: Unterliegt es nicht einer gewissen Selbstverständlichkeit, dass in einem guten Gesundheitswesen das Wohlergehen der Patienten an erster Stelle steht? Warum muss sich eine Instanz ausdrücklich darum kümmern? Ich weiß, dass es sich mit dem Wohlergehen vermutlich um den Witz des Tages handeln könnte. Aber was denkst du, was die Notwendigkeit einer Medizinethik auf die Tagesordnung gerufen hat?
(FJI) Möglicherweise ist Medizinethik wie der Motor eines Autos. Ohne Motor geht nichts. Als ich in der Geschichte der medizinischen bzw. ärztlichen Ethik herumschmökerte, begegnete ich vielen seltsamen Begründungen. Etwa der Insuffizienz jüdischer Ärzte, die als Kurpfuscher (medicaster statt medicus) bezeichnet wurden, adelige gegen nichtadelige Medizinstudenten, Ärzte, die gegen anerkannte (von wem?) Gebräuche verstießen. Je mehr eine dominierende Gruppe die Moral bestimmt, desto weniger braucht man Moral, die ist ja eingebaut. Aber wenn viele Gruppen die – pluralistische – Gesellschaft bestimmen, reicht Moral nicht mehr aus. Umso dringender braucht man eine Ethik jenseits der Gruppenmoral, eine Ethik also, die die Verschiedenartigkeit der Gesellschaften respektiert. Und da stehen wir nun. Insbesondere für die Medizin und uns selber brauchen wir Orientierung jenseits der Gruppenmoral.
(AI): In einem deiner zahlreichen Bücher, die du geschrieben, bzw. mitgeschrieben hast, formulierst du zu Beginn zwei theoretische Grundfragen. Die erste Frage zielt darauf, woher die medizinische Ethik stammt. Damit meinst du weniger die Suche nach den frühesten Nachweisen dieser Disziplin im historischen Sinne, sondern vielmehr die Frage nach ihrem Platz im Aufgabenbereich der Medizin. Trotzdem zunächst eine historische Verortung: Wo liegen die geschichtlichen Wurzeln der Medizinethik? Wann fing man an, sich mit derartigen Themen zu beschäftigen?
(FJI) Das lässt sich schwer sagen. M.E. in einer Zeit (17. Jhdt.), in der man nach Orientierung in einer nicht mehr einheitlichen Gesellschaft suchte. Es gab sogar Versuche über eine an Vorteilen orientierte (machiavellistische) Medizinethik mit dem Titel »medicus machiavellus« von J. Barner. Aber dann veröffentlichte 1803 (also viel später, aber passend zum Beruf) der englische Arzt Thomas Percival ein Buch mit dem Titel »Medizinische Ethik«. Das Buch ist sehr berühmt geworden. Es hat ein großes Problem gelöst: Zunächst war das eine Sammlung rechtlicher Statuten: kurz, bündig und gültig. Was aber nur teilweise als ethisch betrachtet werden konnte, kritisierten Freunde. Er weitete sie darum aus zu einer ethischen Sammlung mit dem berühmten Buchtitel.
(AI): Nun zum anderen Teil der ersten Grundfrage: Wo ist ihr Platz in dem breit gefächerten Aufgabenbereich der Medizin?
(FJI) In dem Wörterbuch »Medizin, Ethik, Recht« (ich war damals [1989] Mitarbeiter der Herausgeber Eser, von Lutterotti und Sporken) waren es mehrere 100 Artikel bzw. Stichwörter (von „Abhängigkeit“ bis „Zwangsbehandlung“). Das zeigt, wie breit gefächert der Aufgabenbereich ist. Je mehr sich die Medizin und das Recht ändern, desto differenzierter muss auch die Ethik darauf reagieren.
(AI): Auch wenn wir Zwei unterschiedliche Berufe haben, du bist Professor für medizinische Ethik und ich klinischer Psychologe im Kinder- und Jugendbereich (im ersten Beruf: Krankenpfleger), so ist uns doch eine Sache vermutlich gemein: Unser Platz im medizinischen System ist nicht ganz unumstritten und auch nicht allseits akzeptiert. Ich habe in meiner Tätigkeit als Psychologe oft erlebt, in meiner Profession von einigen Medizinern nicht ernstgenommen zu werden. Das reichte von Amüsement bis hin zur offenen Geringschätzung („Wozu benötigen Psychologen einen Numerus Clausus?“). Erging es dir, der in der Medizin ethische Fragen aufwirft, nicht ähnlich?
(FJI) Unbedingt: Ja. Ich habe mal eine Umfrage gemacht, wozu man Medizinethik braucht. Die Antworten waren ernüchternd. Ganz Clevere verwiesen auf den Hippokratischen Eid. Das „Cleverle“ schrieb Hippokrates mit y, also „Hyppokrates“, was frei übersetzt heißt: der Lügen-Beherrscher. Ist Ethik Lüge, oder beherrscht die Ethik die Lügen der Medizin? Gott bewahre – da wird man fromm.
Die schlechte Reputation der Medizinethik (und wohl auch der Psychologie in der Medizin) hat sicher etwas mit der deutschen Kultur zu tun. In Deutschland ist alles so grundsätzlich. Alles ist auf Naturwissenschaft getrimmt, Medizin setzt auf (meist auch noch auf ökonomische) Behandlungsraster, und da haben Psyche und Ethik keine Chance. Die USA setzen eher auf Pragmatik.
Ein Beispiel (schon früher einmal erwähnt): In New York sprach ich mit dem damals berühmten, aber eigenartigen Philosophen J.D. Moreno. Am NYC-Hospital hat er wichtige Gespräche mit Eltern und Behandlern der oft todkranken Kinder und extremen Frühchen gesprochen – einfühlsam und kenntnisreich. Er wurde deswegen zum Professor der Medizin ernannt, obwohl er kein Mediziner und im philosophischen Department nicht aktiv war.
(AI): Medizinische Ethik erfolgt ja zunächst einmal als Gegenstand der Forschung. Und so lange der „Forscher“ in seinem stillen Kämmerlein, das heute Büro heißt, forscht, tritt er ja nicht weiter in Erscheinung. Aber was ist die Schwelle, wo die Medizinethik den Raum der Praxis, vielleicht sogar der alltäglichen Praxis, betritt? Muss man sich vorstellen, dass in der Klinik XY in Raum C23 neben der Krankenhausseelsorge der Medizinethiker sein klinisches Zuhause hat?
(FJI) Das Problem wird anders gelöst. Klinikseelsorge wird mehr und mehr (je nach Region) aufgelöst. Medizinethik bekommt immer mehr einen höheren Stellenwert, wohl auch einen ausbildungsrelevanten.
Noch eine ungewöhnliche Perspektive. Medizingeschichte war meistens die Brutstätte der Medizinethik. Aber dann kam es fast so, dass Medizingeschichte immer mehr von Medizinethik verdrängt wird. Das Streckbett des Hippokrates ist oft weniger relevant als Röntgen.
In manchen ausländischen Fakultäten, so etwa im (fortschrittlichen) Nijmegen, wo ich mich mal (wenn auch vergeblich) beworben hatte, wurde das Department für Medizinethik ausgestattet mit einem kleineren Lehrstuhl für Medizingeschichte und einem für Medizinphilosophie.
(AI): Wo und wie wird der Medizinethiker (nennt man ihn so?) tätig? Sitzt er mit in Ärztebesprechungen? Führt er Fortbildungen durch? Berät er bestimmte Gremien?
(FJI) Teilweise ja. Aktivität in Ärztebesprechungen wäre sicher gut, gibt es nach meiner Erfahrung noch nicht. Wohl aber in kleineren Häusern mit eigener Hausphilosophie. Dort habe ich einige Jahre berufsbegleitend gearbeitet. Fortbildungen werden angeboten und durchgeführt, auch in bestimmten Abteilungen.
(AI): Du selbst kommst ja ursprünglich aus der Theologie, die Medizinethik ist erst seit kurzem ein eigenes Fach in der Medizin. Vermuten würde ich ja, dass auch die Philosophie, Geschichte und Psychologie eine Rolle spielen. Kannst Du das mal sortieren und offenlegen, wodurch die medizinische Ethik beeinflusst wird?
(FJI) Psychologie und Soziologie sind schon seit längerem Bestand der medizinischen Ausbildung (Seit ca. 70 Jahren. Ich durfte schon vor vielen Jahren mehrere Doktorarbeiten aus diesen Fächern begleiten). Eigentlich war es umgekehrt: Medizinpsychologen und -soziologen haben so gut wie nie die Medizinethik angesprochen oder gar gefordert. Schade, dass diese Realität nicht beachtet wird. Haben Psychologen und Soziologen keine ethischen Probleme?
Die jetzige Ausbildungsordnung der Medizin seit 2006 heißt GTE, also Geschichte, Theorie und Ethik. Sie ist also Bestandteil der Ausbildung, ist aber kein Pflichtfach, sondern Nebenfach im vorklinischen Studienabschnitt. Die Nachfrage der Studenten ist jedoch sehr groß. Ich musste in Freiburg ca. 250 Kopien der Inhalte erstellen. (Laptops waren damals wenig verbreitet).
Was in der Ausbildung leider keine Bedeutung hat, ist das Recht („Medizinrecht“). Es ist für konkrete Fragen oft sehr wichtig. Wir haben in Freiburg immer wieder Ethik-Konsile durchgeführt, bei denen wir einen Juristen mitgenommen haben, weil rechtliche Fragen unausweichlich waren, v.a. bei Ärzten und Pflegern.
(AI): Wirft man einen Blick auf die Einzel- oder Unterthemen der Medizinethik, so wird erst einmal deutlich, wie viele Aspekte es gibt, die ich als sensible Bereiche bezeichnen würde: Geburtenkontrolle, Gewalt und Medizin, Behinderung, Reanimation, Humanexperiment, Arzneimittelprüfung, Genforschung, um nur ein paar zu nennen. Kann man sagen, es gibt Nischenthemen und solche, die den Hauptanteil ausmachen?
(FJI) In dem Lexikon, von dem ich gesprochen habe, gab es zwar Stichworte wie „Katastrophenmedizin“ oder „Migration“, sie waren sicher lange Zeit eher Nischenthemen, weil sie damals noch eher blutleer waren. Heute wären sie viel wichtiger in Zeiten der Pandemie. Damals gehörte AIDS zwar ins Lexikon, aber ein Stichwort wie „Pandemie“ haben wir noch nicht aufgenommen, weil es damals in der Praxis eine geringere Rolle spielte.
(AI): Sehr gut erinnere ich mich an einen Vortrag von dir, an dem ich – damals noch recht jung – teilgenommen habe. Dabei ging es um Sexualität bei behinderten Menschen und dein Statement, dass jeder ein Recht darauf hätte. Es gab ziemlich viel Gemurre im Saal, was ich heute darauf hindeuten würde, dass die Hälfte die Problematik nicht im Ansatz verstanden hat. Gibt es andere Beispiele, wo du dich immer wieder missverstanden gefühlt hast?
(FJI) Sexuelle Autonomie war eines der Themen, die ich nur 2-mal angerührt habe und dann nie wieder. Ein Schuldirektor sagte im Referat vor mir, dass das sexuelle Interesse bei Behinderten bei weitem nicht so groß sei wie das der Eltern. Falls er Recht hat, habe ich mit der Autonomie keine Chance. Eltern haben große Angst vor Schwangerschaft behinderter Mädchen. Die Schwängerer waren allerdings fast ausnahmslos die männlichen Mitarbeiter der Heime.
Mein anderes Unglücksthema ist die Mittelverteilung in der Medizin. Es gibt und gab Priorisierungsstrategien, die helfen können bzw. konnten. Etwa die sogenannte Zwei-Klassen-Medizin, das Transplantationsproblem, Ration(alis)ierung usw. gehören in diesen Bereich. Das Desinteresse war ziemlich groß. Konnte man mit solchen Lösungen nichts anfangen? Lieber auf die Unlösbarkeitspauke hauen!
(AI) In der Medizin gibt es Leitlinienkommissionen – ich arbeite selbst in einer mit -, in denen z.B. bestimmte Behandlungsstandards basierend auf Forschungsergebnissen festgelegt und als weitgehend bindend angesehen werden. Nun sind die Themen der Medizinethik eher moralphilosophischer Natur, falls dieser Ausdruck passend ist. Mich würde interessieren, wie kommt in diesem Bereich eine Erkenntnis zustande, die als höchstmöglicher Konsens zu betrachten ist? Gibt es diesbezüglich Empfehlungen, wie – ich drücke es mal laienhaft aus – von „kann man mal drüber nachdenken“ bis hin zu „daran sollt man sich auf jeden Fall halten“?
(FJI) Ist Medizinethik wirklich „eher moralphilosophischer Natur“? Es gibt natürlich sehr philosophische Überlegungen und die besagen gerne, wie Du es ausdrückst: „Kann man mal drüber nachdenken“. Kann oder muss man das? Nachdenken hilft, aber leider tun das allzu wenige. Wichtig ist nur, ob meine Meinung 1) von möglichst vielen geteilt werden kann, und 2) hilfreich ist und möglichst keinen Zweifel lässt. Solange der Diskurs, würde J. Habermas sagen, scheitert, hat Nachdenken keine Chance. Und da müssen wir feststellen: Medizinethik ist ein Orchideenfach – leider, aber in einem Garten voller Unkraut. Medizinethik wird nur gelegentlich reingelassen.
(AI): Auch wenn das Wörtchen Medizin in dem Begriff medizinische Ethik steckt, so beschränkt sich der Kern der Medizinethik natürlich nicht auf diesen Bereich. Wo überall ist die medizinische Ethik unterwegs? Gibt es klassische Gebiete, neue Bereiche oder gar bisher nicht erreichte Arbeitsfelder?
(FJI) Wie schon gesagt gibt es in unserer Gesellschaft viele Probleme, die ich eher in der sog. Bioethik platzieren würde. Arbeitsfelder sind Wirtschaft, Physik, Biologie, Psychologie bis Werkstoffforschung.
Kommen wir auf Corona zu sprechen. In der Regierung werden Regeln erdacht unter Zuhilfenahme von Experten, übrigens Medizinethiker sind in diesem Kronrat nicht dabei. Der Ethikrat wird erst nach dem Regelerlass tätig. Politikberatung wäre solch ein neues Arbeitsfeld.
(AI): Jeder Bereich sollte eine bestimmte Aussageautorität haben. Ich erinnere mich noch gut, dass dies schon in meinem ersten Beruf als Krankenpfleger leider nicht der Fall war: Wir kannten zwar einen Patienten am besten, aber gemacht wurde, was der Arzt sagte, obschon er den Patienten – um es mal gelinde auszudrücken – nur oberflächlich kannte. Als Psychologe ging mir das später nicht anders. Nun könnte ich mir vorstellen, dass auch eine Empfehlung eines Medizinethikers im Sande verläuft, obschon sie gut begründet ist und vielleicht gewissen Leitlinien unterliegt. Wie sind da deine Erfahrungen?
(FJI) Mein erster Versuch einer Ethik-Beratung ging in die Hose. Bei einer Patientin mit einem Wangenkarzinom und einem sehr entstellten Gesicht, wurde ein Ethik-Konsil vom Stationsarzt einberufen, der frisch aus den USA in eine deutsche Klinik zurückkam. Als der Oberarzt das erfuhr, wurde (etwa 2 Std. vor meinem Gang in die Station) ein klares Verbot ausgesprochen. Ich diskutierte mit dem Stationsarzt, dessen Oberarzt gesagt haben soll: Das können wir 1. selber und 2. besser. Das war der erste Versuch, aber dann ging es bergauf.
(AI): Du selbst hast in Ethikkommissionen mitgearbeitet. Eine Aufgabe einer solchen Kommission ist es sicherlich, an Entscheidungsfindungen mitzuarbeiten. Meine Frage schließt an die vorherige an: Was genau macht eine solche Kommission und wie ernst wird eine solche Kommission genommen?
(FJI) Eine Ethik-Kommission (nochmal: im Gegensatz zum Ethik-Komitee) arbeitet zwar an Entscheidungen mit, aber an Entscheidungen, die nicht nur die Arbeit an einem Klinikum betreffen. Sie wirken bundesweit bei Erstanwendungen von Medikamenten, Produkten und Methoden bei allen Patient*innen, bei denen die Medikamente, Produkte oder Methoden indiziert sind. Zwei Beispiele (obwohl die 3 Freiburger Kommissionen pro Jahr ca. 500 Studien bearbeiten):
Erstes Beispiel (zur Methode): Chirurgen haben festgestellt, dass extrem dicke Patienten durch ein Magenband Hilfe erfahren. Wieviel Patienten braucht man, um ein positives oder negatives Ergebnis zu bekommen? Gibt es die Möglichkeit, eine Gruppe mit Magenband und eine andere mit Medikamenten zu untersuchen, also mit einer Einfach-Blind-Studie zu testen? Wie hat man festgestellt, ob die Patient*innen keine andere Möglichkeit einer Therapie haben? Müssen die Patient*innen andere Behandlungen vorher durchlaufen haben? Sind die Teilnehmer der Studie ausreichend (schriftlich ist Pflicht) aufgeklärt worden?
Zweites Beispiel (zu Arzneimitteln): Etwa gut 50% der Studien kommen aus der Pharmaindustrie. Es geht um ein neues Medikament, oder ein altes mit verbesserten Zusammensetzungen. Ein Großteil sind Krebsmedikamente. Die Fragen der betreffenden Kommissionsgruppe sind ähnlich, natürlich spezialisiert. Aber für unser Beispiel muss das reichen.
Eine Ethik-Kommission besteht aus mehreren Experten der Medizin (auch der Psychologie), der Biomathematik (Statistik), des Rechts und der Medizinethik. Je nach Studie werden auch andere Berufsgruppen (Soziologie, Technik usw.) hinzugezogen.
Was die meisten Leute nicht wissen, ist die Tatsache, dass jede Studie zu einem Arzneimittel, einem Medizinprodukt oder einer Behandlungsmethode 4 Phasen mit zunehmender Probandenzahl (Prüfung des Ansatzes bis Praxistauglichkeit) durchlaufen müssen. Viele Studien überleben nicht alle Phasen.
Sehr wichtig ist die Tatsache, dass jede Studie eine Bundesoberbehörde und eine Ethik-Kommission absolvieren muss. Erst wenn beide zugestimmt haben, kann die nächste Phase beginnen. Es gibt nur wenige Fälle, in denen die Behörde und die Ethik-Kommission sich ins Benehmen setzen. Soll ein Medikament EU-weit legitimiert werden (so etwa bei Corona-Substanzen), prüft die EMA (European Medical Agency) sowohl medizinstrategisch als auch ethisch.
(AI): Es würde mich tatsächlich nicht wundern, wenn das Vorhandensein einer Ethikkommission oder eines Beraters, wie sie vermutlich eher in großen Kliniken vorkommen, so eine Art Zierde am Ärztekittel darstellt. Man schmückt sich mit einer solchen Einrichtung, um sich ein humanistisches Deckmäntelchen zu verleihen, in Wirklichkeit ist es aber nur eine lästige Moralinstanz. Wie sind da deine Eindrücke und Erfahrungen?
(FJI) Ich glaube, dass Du das richtig siehst. Schlimm ist, dass viele Ärzte die Ethik-Kommission und die Prüfung durch eine Bundesoberbehörde als sehr lästig empfinden. Meist wird die Studie von jungen Ärzten im Auftrag ihrer Chefs ausgearbeitet. Und die Jungen kostet es viel Zeit (manche sagen sogar: etwa 1 Monat).
(AI): Du bist inzwischen im wohlverdienten Ruhestand und schaust mit weißem Wallebart auf deine aktive Zeit zurück. Beobachtest du die Szene der Medizinethik noch? Und gibt es Bereiche des Gesundheitssystem, die dir heute noch die Zornesröte ins Gesicht treiben und dringend einen ethischen Neuanstricht benötigten?
(FJI) Oft kommt tatsächlich Zornesröte. Als ich mich aus der Klinik verabschiedete, schrieb ich allen Bekannten aus der Klinik eine sehr kritische Mail. Ein juristischer Kollege stimmte mir zu, was mich besonders freute.
Mein 1. Grund (für die Zornesröte) ist die Beobachtung, dass immer mehr die klinische Erfahrung aus der Ethik verschwindet.
Mein 2. Grund: die Bürokratie nimmt Überhand. Immer öfter werden Verfahrensregeln zu entscheidenden Momenten. Fortschritt der Medizin ist nicht entscheidend.
Mein 3. Grund ist beinahe visionär – Alte dürfen das. Irgendwann nehmen die Bürokraten den Ärzten das Stethoskop (Gerät zum Abhören) aus der Hand. Wer behandelt wird und wie er behandelt wird, entscheidet der Bürokrat. Brave new world (Schöne neue Welt, Film nach dem gleichnamigen Buch von Aldous Huxley)!
(AI) Ich selbst werde mich ebenfalls in Bälde aus dem Gesundheitssystem verabschieden, um mich den eigentlichen Aufgaben meines Lebens zu widmen. Mein Blick zurück auf fast 50 Jahre Tätigkeit in diesem Bereich ist ein mehr als ernüchternder: Die „Verbetriebswirtschaftung“ des kranken Menschen hat schlimme bis erschütternde Formen angenommen. Ich muss oft an einen Satz denken, der der früheren Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt zugewiesen wird: „Bleiben Sie gesund – alles andere ist schlecht.“ Würdest du behaupten, das Gesundheitswesen heute bräuchte dringender als je zuvor medizinethischen Beistand?
(FJI) Auch das finde ich überzeugend. Mein Kollege aus dem Medizinethik-Institut hat schon viel dazu geschrieben. Sein Stichwort „Ökonomisierung der Medizin“ und die damit verbundene Gefahr der Typisierung der Krankheiten nach dem Muster der Ökonomie. Welche Bedeutung hat Leiden in der Krankheit? Spelt es eine größere oder kleinere Rolle als das reduzierte Muster der Krankheit (etwa die DRGs, die auf die Definition einer Krankheit reduzierte Bezahlung der sog. Heilung)? Bei einem Ethik-Konsil sagte eine Patientin: Herr Doktor, ich habe immer noch starke Schmerzen. Darauf der Arzt: Das kann nicht sein. Nicht Rechthaben ist wichtig. Heilen ist das Gebot der Stunde.
Die Reaktion ist zwiegespalten: Zustimmung („Endlich sagt das die Medizinethik“) und Ablehnung („Die haben ja keine Ahnung“).
Übrigens, vor einigen Jahren las ich ein beeindruckendes soziologisches Buch über Medizinethik. Ergebnis der Studie war, dass Ablehnung der Medizinethik mit dem Gehalt steigt. Ein Lümmel, wer da Böses denkt!
Vielleicht ist das Problem der Stunde, wenn Gesundheit und die Zuordnung unserer Ressourcen eine Änderung unserer sozialen Strukturen brauchen. Jeder bekommt die Behandlung, die nötig ist – und nicht die, die er bezahlen kann. Und jeder bekommt das Gehalt, das der Qualität seiner Sorge entspricht – oder?
(AI): Da stimme ich dir zu. Eine vorletzte Frage: Deine aktive Zeit liegt – wie schon erwähnt – eine Weile zurück. Aber würdest du sagen, es sind heute andere Themen als vor 20 oder 30 Jahren, die dieses Feld bestimmen? Und: Hat das Einmischen der medizinischen Ethik mit Blick auf die Zeit etwas bewirkt oder gar verändert?
(FJI) Ich habe den Eindruck, dass die Generation derer, die wenig von Ethik im therapeutischen Setting erlebt haben, im Schwinden begriffen ist. Vielleicht ist Hoffnung der Vater des Gedankens.
(AI) Und nun die letzte Frage an dich, womit ich mich auch bei dir bedanken möchte. Gibt es ein letztes Wort zum Sonntag, dass du gerne in Richtung Gesundheitswesen mit medizinethischen Grüßen senden möchtest?
(FJI) Statt eines Wortes zum Sonntag ein Ärztewitz: Warum haben Ärzte so ein gestörtes Verhältnis zum Gewissen? Sie gebrauchen es so selten.
Wir tun viel, um das zu ändern.