Ein Abend mit dem Tanztheater Münster beschäftigt den Autor nachhaltig. Geboten wurden nicht nur optische und akustische Inszenierungen, sondern es wurde eine gesellschaftliche Gefühlslage ergründet und auf den Anfangszustand zurückgestellt.
Als uns an jenem Freitagabend das Münsteraner Theater wieder in den noch hellen Abend entließ und wir uns in Richtung Parkhaus begaben, war dies ein Realitätsbruch, wie er drastischer nicht hätte sein können. Die Bandbreite der Emotionen reichte von fasziniert, berührt, euphorisch bis hin zu verstört und entgeistert. Hinter uns lag die Aufführung des Tanztheaters Münster mit den beiden Stücken „Homo Sacer/Sacre. Die Choreografie von Hans Henning Paar war ergreifend, die Dramaturgie bis zum Schluss fesselnd und die Umsetzung durch die 12 jungen Tänzer und Tänzerinnen absolut brillant und großartig. Die vom Münsteraner Symphonieorchester dargebotenen Sinfonien von Einojuhani Rautavaara, Lepo Sumera und Igor Strawinsky waren mehr als Begleitmusik zu einem getanzten Bühnenspektakel; die Musiker kreierten eine entrückte Klangwelt, die ich als sinnesgewaltig und mystisch erlebte. Dass Teile der Aufführung „bemüht wuchtig“ wirkten, wie es im Westfälischen Anzeiger vom 24.1.2016 nach der Premiere hieß, halte ich entweder für einen Wahrnehmungsfehler oder aber entgleiste Geschmackssache.
Doch vielleicht steht es mir nicht zu, mich theaterkritisch zu betätigen; dafür fehlen mir vermutlich die Erfahrungs- und Vergleichswerte. Ähnlich dramatische musikalische Inszenierungen mit sinnlicher Nachhaltigkeit sind mir wesentlich besser in der schwergewichtigen Rockmusik vertraut. Doch mir geht es nicht um Kritik, sondern um das Wiedergeben meines ganz subjektiven Erlebens. Ich besuche ein Tanztheater nicht, um mich unterhalten zu lassen, sondern um mich anregen und berauschen, vor allem auch beseelen zu lassen. Und beseelen bedeutet in diesem Fall, mir selbst und gesellschaftlichen Prozessen einen künstlerischen Spiegel vorzuhalten. Dass diese Tanzinszenierung bei mir nicht nur Fragen aufwarf, sondern vor allem auch Antworten gab, steht für die Eindringlichkeit und Nachhaltigkeit des Gesehenen.
Die im Vorfeld stattfindende Informationsveranstaltung, in der die Dramaturgin Esther von der Fuhr auf sehr interessante Weise in die Thematik einführte, fiel leider dem ungebremsten Sabbelbedürfnis des anwesenden Bildungsbürgertums zum Opfer. Das Gesagte kam aufgrund des hohen Geräuschpegels und der verminderten Mikrofonleistung nur bruchstückhaft rüber, dabei wäre es überaus informativ gewesen, etwas mehr über die zum Teil recht unbekannten Komponisten zu erfahren.
Erster Teil
Vorhang auf! Eine schwarz gehaltene Bühne, etwas Trockennebel wabert im Hintergrund, die 12köpfige Tanzgruppe, nur spärlich bekleidet stellt eine homogene und anmutige Menschenskulptur dar, die sich im Laufe des ersten Parts immer wieder neu formatieren wird. Über den Tänzern und Tänzerinnen schweben beinah schwerelos drei verschieden große metallene Ringe, die sich immer wieder wie Gestirne über den Akteuren bewegen. Sie wirken mal wie Aureolen und unterstreichen damit das „Sacer“ (=heilig) im Titel, mal wirken sie wie Himmelskörper, die über uns Menschen kreisen und damit das Zurückgeworfensein ins Irdische und damit auch auf die eigene Endlichkeit symbolisieren. “In Homo Sacer“, so Hans Hennig Paar, „zeige ich den göttlichen Aspekt, den ein Jeder in sich trägt, unsere Möglichkeit Gutes zu tun und Schönes zu erschaffen. Der Mensch ist sowohl im Zwischenmenschlichen als auch im Schöpferischen zu einer großen Hingabe fähig – bis hin zur Selbstaufgabe.“
Das Stück bezieht sich aber auch auf die Gedanken von Giorgio Agamben, einen lange missachteten, vielleicht sogar boykottierten italienischen Philosophen. In seinem gleichnamigen Werk „Home Sacer“ gibt Agamben zu bedenken, dass „auch in altehrwürdigen Demokratien Dunkelzonen des Rechts entstehen, also Ausnahmezustände, in denen die “nackte” Macht sich des nackten “Lebens” bemächtigt. Auch liberale Demokratien schaffen Räume, in denen das Recht aufhört, ein Recht für alle zu sein. (Thomas Asseuer. In DIE ZEIT 01.07.2004 Nr.28).
Wie immer man Homo Sacer deutet, als etwas Göttliches oder eher Politisches, der erste Teil der Inszenierung beantwortet vor allem meine in letzter Zeit häufig gestellte Frage, ob eine Art Grundlage oder ein Anfangszustand für das menschliche Sein existiert. Wenn die momentan umtriebigen Nationalpatrioten in ihrer eindimensionalen Dämlichkeit propagieren, dass wir bezäunte Grenzen brauchen, dass sie die Aufhebung einer wie immer gearteten Gleichheit der Menschen fordern, dass sie Gewalt billigen und mit unglaublichen Hasstiraden bestechen, so muss man feststellen, dass dies weder göttlich, menschlich, demokratisch oder heilig ist, sondern nichts anderes als eine exorbitante Verseuchung des menschlichen Zusammenlebens. Es ist ein Krieg gegen den Urzustand aller Menschlichkeit: Liebe und Frieden. Wer das zerstört, kann kein Mensch sein, sondern lediglich eine gefühlsfreie Maschine.
Zweiter Teil
Vorhang auf! Die Ringe sind verschwunden. Die Menschen sich selbst überlassen. Die Tänzer und Tänzerinnen tragen Abendgarderobe, Anzüge, Kleider. Der anfänglichen Ausgelassenheit folgen nun in hektischen und energischen, zum Teil aggressiven Bewegungen Turbulenzen. „Neben dieser hingebenden Liebe ist der Mensch jedoch auch zu bestialischen Gedanken und brutalen Handlungen fähig. Diese andere, dunkle Seite von elementarer Kraft und zerstörerischer Energie spiegelt sich choreografisch in Igor Strawinskys (1882–1971) musikalischem Meisterwerk LE SACRE DU PRINTEMPS wider.“ (theater-muenster.com) Für mich wird hier in intensiv dargebotenen Sequenzen die geballte Ladung menschlicher Idiotie präsentiert, all die sozialen Inkompetenzen wie Ausgrenzung, Streit oder Krieg. Auch ein Rollentausch, die Männer tragen Kleider, die Frauen Anzüge, bringt nur vorübergehend Entspannung in all das Zerstörerische und Kriegerische. Zum Schluss sind die Tänzer nackt, reduziert auf das Urmenschliche. Doch es erscheint zu spät, denn das Verspielte, Friedliche, Liebevolle und Menschliche ist ihnen längst genommen. Vielleicht sind sie auch tot, so wie es der Plan all dieser verrückten Humanmetzger, die als Diktatoren alles Menschenwürdige mit Füßen treten, zu sein scheint. „In SACRE zeige ich eine Gesellschaft, die sich in ihrer Arroganz und Dekadenz zu Tode feiert, – den vielleicht letzten Tanz der Menschheit.“ (Hanns Henning Paar zur Inszenierung)
Epilog
Bei den Recherchen für diesen Text stoße ich auf ein Zitat, dass im Zusammenhang mit dem Tanztheater von Pina Bausch steht: Es sind „…bewegende Bilder innerer Landschaften, die aufs Genaueste die menschliche Gefühlslage erkunden und dabei nie die Hoffnung aufgeben, dass die Sehnsucht nach Liebe gestillt werden kann.“ (pina-bausch.de/tanztheater). Mir ist nach dem Besuch dieser Vorstellung noch einmal klar geworden, für was ich einstehen, notfalls auch kämpfen will. Und sollte dies auch nur ansatzweise bei jedem dritten Besucher ebenso der Fall gewesen sein, war dies mehr als nur eine Inszenierung eines Tanztheaters. Ich empfand es als eine anschauliche Gesellschaftstherapie.