Die Lawine von Max von der Grün
Es kann nicht sein, was nicht sein darf

Kann Politik poetisch sein? Der Roman „Die Lawine“ von Max von der Grün – erschienen 1986 – beantwortet diese Frage positiv und behandelt ein Thema, das an Aktualität nichts eingebüßt hat.

Am schönsten sind oft die Bücher, die einem eher überraschend in die Hände fallen. Und so entdeckte ich das Taschenbuch „Die Lawine“ von Max von der Grün in einem freien Bücherregal. Mein geübter Bücherfinderblick überflog den Einbandtext, der mich direkt neugierig machte. In einem aus den Stuttgarter Nachrichten zitierten Auszug hieß es: „Von der Grüns neuer Roman setzt mit seiner ungewöhnlichen Fiktion einer durchaus vorstellbaren Realität ein erfrischendes literarisches Gegengewicht in einer Zeit voller elegisch-elitärer, postmoderner Innerlichkeit in der Bücherwelt. Ein Roman mit einer politischen Poetik, der von der Grüns unveränderten aufrichtigen Glauben an die Veränderungen der Verhältnisse unterstreicht. Ein Buch, das sich auch Industrie-Kapitäne und Gewerkschaftsbosse unters Kopfkissen legen sollten.“ Vermutlich war es der Begriff „politische Poetik“, der mein Interesse weckte. Kann Politik poetisch sein?

Mit Max von der Grün verhält es sich in meinem Fall wie mit einem seltenen Automodell. Man hat schon mal davon gehört, das Fahrzeug aber nie zu Gesicht bekommen. Und so war mir der Name durchaus präsent, ich hatte aber nie etwas von dem Autor gelesen. Also kurz recherchiert: Von der Grün wurde 1926 in Bayreuth geboren und starb 2005 in Dortmund. Er begann zunächst eine kaufmännische Lehre, wurde im Krieg eingezogen, arbeitete als Kriegsgefangener in den USA in Arbeitskommandos, u.a. als Baumfäller und Bergmann in einer Kupfermine. In dieser Zeit entdeckte er seine Liebe zur deutschen Exilliteratur und zu englischsprachigen Autoren. Zurück in Deutschland arbeitete er ebenfalls in einer Zeche, bis ihm 1962 mit dem Buch „Männer in zweifacher Nacht“ ein Durchbruch als Schriftsteller gelang. Weitere, zum Teil verfilmte Werke von ihm sind “Irrlicht und Feuer“, „Stellenweise Glatteis“ oder „Vorstadtkrokodile“.

Dieser ungewöhnliche Weg zum Schriftsteller war das nächste, was mich faszinierte, während mich die Inhalte seiner Bücher gleichzeitig auch stutzig machten. War es tatsächlich möglich, mit Büchern bekannt zu werden, die sich „mit der Arbeitswelt und aktuellen politischen, privaten sowie auch sozialen Problemen“ (Wikipedia) beschäftigen? Der „Spiegel“ nannte von der Grün sogar einen Arbeiterdichter. Spontan fiel mir Heinrich Böll ein, der auch zunächst eine Ausbildung absolvierte und in amerikanische Gefangenschaft geriet. Hier und da erinnerten mich Passagen in „die Lawine“ an dessen Schreibweise. Und so verwundert es nicht, dass Böll in seinem Vorwort zu Alexander Solschenizyn´s Buch „Krebsstation“ Querverweise zu Max von der Grün macht.

Geschrieben wurde „die Lawine“ in einem forcierten Trivialliteraturstil (d-nb.info) und da die Erzählung Strukturen des Kriminalromans nutzt, gedachte ich anfangs, die Lektüre abzubrechen. Krimis sucht man in meinem Katalog der Lesevorlieben vergebens. Dass ich das Buch dann doch innerhalb kürzester Zeit verschlang, lag an der Kernthematik. Die Geschichte um diese Kernthematik ist schnell erzählt (aus dem Klappentext): „Frühmorgens im Sommer entdeckt der Fotograf Edmund Wollf im Turm der katholischen Kirche ein offenes Fenster und im Fenster einen Mann: am Strick hängst sein Schwager, der Halbbruder seiner Frau, der Fabrikant Heinrich Böhmer. Der Tote hinterlässt Frau und Kinder, eine jugendliche Geliebte, seine Elektromotorenfabrik und ein Testament, das ohne Beispiel in der bundesdeutschen Unternehmensgeschichte ist.“

Es verwundert kaum, dass es wenig Rezensionen zu diesem Werk von der Grüns gibt, denn der Inhalt des besagten Testaments ist heikel und politisch brisant. Es beinhaltet nämlich die Übergabe des Werks an diejenigen, die den Gewinn erwirtschafteten: Die Angestellten. Diese ungewöhnliche, radikale und leider selten realisierte Idee von einem anderen Eigentumsverständnis in der Wirtschaft stößt natürlich einer kapitalistischen Denkweise vor den Kopf. Und so heißt es in dem Roman auch: „Klar ist mir, dass Böhmers Modell nicht Schule machen darf in einem Land, in dem es wieder Politiker gibt, die Korruption und Bestechlichkeit für sich als Tugenden in Anspruch nehmen und anderen die Moral der Sparsamkeit predigen.“ Denn: Es kann „…nicht sein…, was nicht sein darf.“

Von der Grün sieht in einem solchen Wirtschaftsmodell eine Art Weitsicht, weil „…ein Unternehmer in Zukunft nur verdienen kann, wenn jene, die den Gewinn erwirtschaften, daran angemessen beteiligt sind.“ Denn: „Mit der Änderung des Eigentumsbegriffs ändert sich auch das Bewusstsein der Leute.“ Und weiter: „Ich konnte nicht ahnen, dass in diesem Land Weitsicht nicht gefragt ist.“ (Alle Zitate aus dem Roman).“

Für mich ist dieses Konzept des „cheflosen“ Arbeitens schon lange Teil meines politischen und gesellschaftlichen Denkens. Von der Grün zeigt auf, wie eine solche Idee funktionieren, aber auch zersetzt werden kann. Nur zu oft musste ich erleben, wie ein stramm hierarchisch orientiertes Arbeitssystem vor allem deswegen schlecht oder gar nicht funktionierte, weil sich die Hierarchie selbst im Weg stand. Ein solches Modell basiert auf einem humanistischen Gedanken und hat mit Kommunismus wenig zu tun. Doch genau mit solchen Umschreibungen wird versucht, die Idee als unsinnig, an der Realität vorbei und utopisch zu brandmarken. Schließlich bedient die Kapitaltismusmaschine unsere fast komplette Parteienlandschaft. Und „es gibt Millionen in diesem Lande, die diesen Unsinn glauben und gerne glauben wollen. (aus „Die Lawine“) “ Das Buch erschien 1986 und hat an Aktualität nichts eingebüßt.