Der Ausdruck »Chaotentruppe« stammt vom Kabarettisten Urban Priol. Gemeint sind damit die Politiker der damaligen Merkel-Regierung. Mir gefällt dieser Ausdruck, weil die Politiker auch der neuen Regierung (noch besteht sie ja nicht) leider einiges nicht verstehen.
Kurt Tucholsky (1890 – 1935) schrieb 1930 im Berliner Dialekt über einen betrunkenen Mann, der stürzte und von einem vornehmeren Herrn aufgehoben wurde. Zwischen den beiden gab es ein Gespräch über die Wahlen. Die Fehler und Ungereimtheiten sind der Berliner Stil des 19 Jahrhunderts. Der vornehmere Herr fragt den Betrunkenen, ob er etwas zu viel getrunken habe. Der antwortete:
Jetrunken? Ja, det auch … aber mit Maßen, immer mit Maßen. Es wah – ham Sie’n Auhrenblick Sseit? – es handelt sich nämlich bessüchlich der Wahlen. Hips … ick bin sossusahrn ein Opfer von unsere Parteizerrissenheit. Deutschland kann nich untajehn, solange es einich is, wird es nie be(be)siecht! …
Die Wahl is der Rummelplatz des kleinen Mannes! Det sacht Ihn ein Mann, der det Lehm kennt!
Das Ganze in Hochdeutsch (falls das Berlinern jemand nicht versteht):
Etwas getrunken? Ja, das auch … aber mit Maßen, immer mit Maßen. Es war – haben sie einen Augenblick Zeit? – es handelt sich nämlich um die Wahlen. Hicks … ich bin sozusagen ein Opfer unserer Parteizerrissenheit. Deutschland kann nicht untergehen, solange es einig ist, wird es nie be(hicks)siegt! …
Die Wahl ist der Rummelplatz des kleinen Mannes! Das sagt Ihnen ein Mann, der das Leben kennt!
Tucholsky lag immer (außer für zwei Jahre nach seiner Promotion wegen eines gut bezahlten Jobs) quer zum politischen Mainstream. Im obigen Zitat opponierte er damals schon gegen die Nazis. Wieso nennt er die Wahlen einen Rummelplatz? Wohl weil dort Dinge erzählt werden, die nicht dem Zusammenleben dienen, sondern der Volksbelustigung.
Unsere Wahl 2021 war ebenfalls ein Event der Volksbelustigung. Spätestens ab 18 Uhr Blödsinn auf allen Kanälen. Aber es geht ja weiter. Auf dem Wahlabend und danach stieß mir mehr und mehr auf, dass es eigentlich nichts Lustiges in Berlin gibt. Hier meine wichtigsten Gründe:
- Politiker zweifeln nicht
Beinahe lustig ist das Bonmot, das dem Philosophen und Mathematiker Bertram Russell zugeschrieben wird (10 recommandments for Living in a healthy Democracy, 1951). Seine Bonmots und Regeln sind praktisch und berührend:
„Nr. 10: Das ist der ganze Jammer: Die Dummen sind so sicher und die Gescheiten so voller Zweifel.“
Am Wahlabend fieberte ich einem brauchbaren Endergebnis für meine favorisierte Partei entgegen und musste zwangsweise den Wahlblödsinn aller Parteien anhören. Der grausamste Unfug war die Warnung der CDU vor rot-grün-rot. Frage: Gibt es (wohl außer der AfD) Parteien, die einer Regierung schaden? Sicher nicht! Als nach der Wahl die Liberalen mit den Grünen ihre Gemeinsamkeiten und roten Linien (vor)sortierten, wurde darüber diskutiert, ob sich zwischen ihnen nicht unüberwindbare Gräben auftun. Dazu später mehr.
Ist die Dogmenschmiede der Parteien, die Zweifel ausschließen, nicht eine mehr oder weniger reine Machtschmiede? Zweifel wäre die Garantie für Nachdenken. Wer nicht zweifelt, ist laut Russel der Dumme. Dummheit wurde zum Generalbass des Wahlabends.
Wie schön wäre es gewesen, wenn ich einen zweifelnden Politiker gesehen hätte. Dann wäre ich sicher, dass es einen gibt, der denkt.
- Gemeinsamkeit scheuen
Aufregend war nicht nur in der Coronazeit, sondern auch in TV-Interviews usw. auch in der Sondierungsphase nach der Wahl das Fehlen der Gemeinsamkeit. Vielleicht – man hat es ja noch nicht probiert – würden die Bürger bereit zu gemeinsamem Verhalten, wenn die Politiker gemeinsam agierten. Ich bin davon sehr überzeugt. Aber Politiker sind anderer Meinung.
Ein paar Beispiele: Laschet wurde von Söder angegriffen. Söder argumentierte mit moderner Politik, während Laschet in die konservative Ecke gestellt wurde. Wichtige Parteimitglieder und sogar Ministerpräsidenten der CDU fordern jetzt den Rücktritt des gesamten CDU-Präsidiums, das für das Desaster der Partei mitverantwortlich war und Laschet trotzdem in einen aussichtlosen Wahlkampf ziehen ließ.
Scholz wurde als Kanzlerkandidat nominiert, obwohl er vorher von der Bühne verschwand. Aber außer ihm sah seine Partei keinen respektablen Kandidaten mit guten Wahlaussichten.
Baerbock wurde Kanzlerkandidatin, erreichte aber nicht die erhoffte Stimmenzahl, und Habeck scheint jetzt gleichberechtigter Sondierungschef und Kandidat des stellvertretenden Kanzlers zu sein.
Liberale, LINKE und AfD hatten zwar keinen Kanzlerkandidaten – den brauchten sie ja auch nicht -, aber an allen Ecken und Kanten Auseinandersetzungen.
Wie Kurt Tucholsky schon sagte: Solange wir einig sind …
- Weniger Kulturkampf, mehr Substanz
Ich trage aus einigen ausländischen Presseorganen (ein Artikel aus der Süddeutschen Zeitung und der ZEIT) einige Kommentare zusammen:
Frankreich: Engagement für eine europäische Verteidigung predigen alle Partien außer den LINKEN. Aber die deutschen Politiker, wie auch immer die Koalition aussehen wird, wissen nicht, wie man eine europäische Verteidigung zusammenschmiedet.
Bulgarien: Wenn Deutschland die Koalition fertig hat, ist Macron im Wahlkampf. Für längere Zeit regiert in der EU die Unsicherheit, vor allem im Problem, wie Europa mit Polen und Ungarn umgehen soll. In Deutschland gibt es dazu noch keine Meinung.
Großbritannien: Man stellt Unklarheit fest, wie man mit der deutschen Hoffnung auf Modernisierung umgehen soll, wo doch ein großer Teil der Deutschen eine eher konservative Politik erwartet.
USA (Georgetown University): Der Niedergang der CDU zeigt die Schwäche, wie man über die deutsche Identität denken sollte, zugleich aber die Vorschläge der AfD immer weniger akzeptiert. Das Identitätsproblem bleibt also.
Italien: Der Wahlsieger Scholz ist ein Architekt des Corona-Wiederaufbaufonds. Das schätzt Italien und freut sich über den Niedergang der AfD.
Großbritannien (Financial Times): Im Vergleich mit USA und GB ist der Wahlkampf, dort wie ein Gerangel im Piranhabecken. In Deutschland fühlt sich die Wahl wie ein Karpfenteich an. Werden Dissonanzen unter den Tisch gekehrt?
Mein Eindruck von den Kommentaren nach der Wahl (und vorher schon): „Im Ergebnis wurde das Ökologische […] gnadenlos moralisiert und ideologisiert“ (Pausch & Ulrich). Ähnlich ist es mit der Digitalisierung, die zweifelsohne in vielen Bereichen von der Ausbildung bis zur Wirtschaft wichtig ist. Unterschiede zum Staatsverständnis (allen voran der FDP) werden zwar in den Gesprächen von Gelb und Grün geglättet, aber sie bleiben – zumindest unterschwellig. Die theoretischen Unterschiede beherrschten das Gefasel.
Ich fürchte, die Grundsatz-Unterschiede werden überstrapaziert. Und zumindest eine (wenn nicht gar zwei) der drei Parteien wird mit Argusaugen über den Ausgang des Streits wachen. Oder werden die Unterschiede wirklich diskutiert und werden sie zu einer verständlichen Linie?
Aber einheitliche und konkrete Vorschläge gibt es nicht. Weitere Lösungsversuche für solche und ähnliche Probleme sind ein leeres Blatt geblieben. Und vor allem: Philosophische Unterschiede führen zu einer Art Kulturkampfmentalität, die keinen vom Hocker reißen. Konkrete Unterschiede sind wichtig.
- Verlierer ist immer der Bürger …
Dem Bürger werden zwar Kanzlerkandidaten angeboten, aber die wirklichen Entscheidungen werden von den Parteien gefällt. Der Kandidat machte einen auf Kulturkampf, die Bürger wollten bei der Wahl und jetzt immer noch konkrete Positionen.
Hinzu kommt ein generelles Problem. In den USA gibt es zwei Parteien (Demokraten und Republikaner), und die eine gewinnt, die andere verliert. In Deutschland gibt es sehr viele Parteien. Gerade werden drei ausgewählt, die regieren, aber viele Bürger (ca. jeder vierte) haben sie gar nicht gewählt. Trotzdem werden wir von denen regiert. Nennt man das Demokratie?
Aufgabe einer Partei ist laut Grundgesetz (Artikel 21)…
„mit ihrer freien, dauernden Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von ihm verbürgte öffentliche Aufgabe“
…zu erfüllen. Kurz und gut: Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes. M.E. wirken Parteien nur indirekt an der Willensbildung der Bürger mit, sie sind eher eine Art Influencer für Parteimeinungen. Die Kanzlerkandidaten wollen m.E. regieren, aber die Parteien wollen/müssen ihre Ideologie, sprich ihr Programm, durchsetzen.
Schön und gut. Da ist aber ein zweiter Punkt, und der ist nicht mehr schön und gut. Drei Parteien haben sich zu einer gemeinsamen Regierung zusammengetan. Sie sind laut GG also nicht mehr nur Willensvermittler, sondern eine Regierung. Aber komischerweise lassen sie sich nichts davon anmerken, sie führen sich nach wie vor auf wie eine Gruppe der Parteiideologen (siehe nächster Punkt), nicht wie eine Gruppe, die für das Volk Verantwortung übernimmt. Es geht nicht mehr um Dogmen, sondern um Sorge.
Ich berufe mich auf die sog. Gouvernance-Theorie (politikwissenschaftliche Theorie des guten Regierens) bzw. einige Motive davon. Meine Empörung über die Chaotentruppe ist also nicht nur meine private Empörung.
- Parteiideologie – oder was wir Bürger nicht brauchen
Parteiideologie vom feinsten haben uns Grüne und FDP vorexerziert. Nehmen wir als Beispiel den Klimawandel. Alle Parteien (außer der AfD) fanden es wichtig, die kaputte Welt zu reparieren. Der Unterschied der beiden Parteien ist z.B.:
Ein wichtiger Teil der Vorsondierung, bevor die beiden zerrupften Exgiganten mitredeten, war das Aufdecken der Gemeinsamkeiten. Das ist wie bei den Kreuzberger Nächten (Gebrüder Blattschuss): Erst fängt es ganz langsam an / aber dann, aber dann … Die SPD darf mitreden, wir noch nicht. Wird nicht bei der Frage der Steuern über den Willen der Bürger hinwegentschieden? Wetten dass …?
Interessant ist, dass die Theorien der beiden Parteien – aber nur beide zusammen! – richtig liegen, das eine geht nicht ohne das andere: Umgestaltung der Gesellschaftsordnung nicht ohne Umgestaltung der Steuerordnung. Sieg der Parteiideologie?
Fazit: Die Politiker und die Kraalmethode
Ein Assistent kam zu seinem Philosophieprofessor herein, während ich etwas mit dem Professor besprach. Der berichtete seinem Chef über die Hausarbeit eines Studenten. Er schleiche immer und immer wieder um das Problem herum, ohne zur Sache zu kommen. Der Assistent benutze den seltenen Ausdruck Kraalmethode: Nie zur Sache kommen (= den Eingang nicht finden), aber mit viel Theoriepalaver (= immer um den Kern der Sache herumschleichen) das eigentliche Problem verfehlen.
Gott sei Dank kannte ich den Begriff »Kraal« und schwor mir, immer den Eingang ins Zentrum des Problems zu finden, also nie die Kraalmethode anzuwenden. Aber wie es scheint, die Politiker wenden gern die Kraalmethode an. Kürzlich sah ich im TV ein Interview mit einem hochrangigen Politiker und einer Moderatorin, die dreimal eine – zugegeben – kritische Frage stellte. Der Politiker antwortete dreimal mit theorielastigem Bullshit.
Ein kurzer Überblick: Die CDU schickt ihren Kanzlerkandidaten in die Wüste. Sicher hat er Fehler gemacht, aber er verdient es nicht, in die Wüste geschickt zu werden. Söder war einer seiner freundlichen Meuchler. (Auch du mein Sohn Brutus?) Wieviel Unfug hat Spahn gemacht, Impfstoff nicht rechtzeitig bestellt, Menschen in der Frühphase an Corona sterben lassen usw. – und der ist immer noch Minister. Übrigens, ich halte nichts von der CDU.
Die Partei ist gespalten in Vertreibung der Alten und Junge sollen ans Ruder. Modernisierer und liberale bekämpfen die Konservativen. Merkel hat nichts geregelt, aber Laschet soll dafür büßen? Vor lauter Schleicherei übersieht man den Eingang zum Kern des Problems. Kraalmethode?
Gelbe und Grüne versuchen, Gemeinsamkeiten zu finden, damit sie nicht die Gegensätze vorherrschen lassen. Aber sie übersehen die riesigen Steuerprobleme. Sie blenden aus, dass die FDP Steuern nicht erhöhen will, und die Grünen Steuererhöhung für die Reichen zum Programmpunkt gemacht haben. Wie bezahlt man dann aber die Digitalisierung, wenn laut „EU-Rechtsstaatsmechanismus“ die Neuverschuldung der Regierung um ca. 64% des BIP vor der Krise überschritten wurde? Wiedermal kein Eingang in die wahre Problemzone?
Nach der Vor-Sondierung kommt endlich der Hauptgewinner, die SPD dran. Haupt- und Nach-Sondierung macht man ab jetzt zu dritt. Und was ist mit den anderen Problemen, die man im Wahlkampf angekündigt hat, Corona, Krankenversicherung, Mieten, Anzahl der Parlamentarier usw.? Kraalmethode? Bürgerwille?
Abschließend ein Zitat aus der Süddeutschen Zeitung (Stefan Cornelius): Parteitage tragen „das Wortpaar »Aufbruch und Zukunft« […], ebenso das Adjektiv »ökoliberal«, das frisch und unverbraucht daherkommt wie eine Zitrusfrucht“ voran. Wieder nur Kraalmethode? Substanz bitte!