Radiomusik
Selten meine Musik

Musik ist heute nichts anderes mehr als ein auswechselbares Elementarteilchen in der Endlosschleife der Musikdateien auf dem Smartphone. Und genauso klingt es auch auf WDR2 & Co. Radiomusik ist nichtssagend, glatt poliert und schematisiert. Und das hat viel mit unserem oberflächlichen Konsumverhalten zu tun.

 

Radiowecker (Foto A. Illhardt)
Radiowecker (Foto A. Illhardt)

Telgte. Allmorgendlich stellt sich beim Anschalten des alten Küchenradios vor den Frühstücksvorbereitungen die Frage: Beginnt der Tag heute mit Andreas Bourani oder brennt wieder alles mit Johannes Oerding? Oder – die Zeiten in der Küche variieren schon mal – ist es eines dieser nichtssagenden englischsprachigen R&B-Versionen, deren Interpreten man sich nicht merken muss, da sie eh identisch klingen. Die Präsentation der Songs über den Tag scheint einem Zufallsgenerator zu gehorchen, wobei der Eindruck entsteht, es handelt sich dabei um eine überschaubare Songliste, die nur unwesentlich abgewandelt wird. Es ist selten meine Musik.

Geboten wird ein Radiosound, der dazu gemacht ist, sich möglichst gut in die glatten Oberflächen einer Anbauküchenzeile einzufügen. Es ist ein Sound, der jeglicher Spannungsbögen und Aussagetiefen beraubt zu sein scheint: Abgeschliffen und plastiniert, glatt poliert und geölt. Es fallen mir Assoziationen wie austauschbar, oberflächlich oder schematisiert ein. Der Sound von heute taugt nur noch wenig zum Ohrwurm, es ist Massen- oder Wegwerfware mit geringer Halbwertszeit. Der industrialisierte Musikauswurf ist so groß, dass man sich die Musik nicht mehr merken muss, man muss sie nur noch konsumieren; die Songs sind nicht mehr dafür gemacht, gesammelt zu werden, außer als auswechselbares Elementarteilchen in der Endlosschleife der Musikdateien auf dem Smartphone. Der Sender WDR2, den ich vor allem nutze, um mich über aktuelle Nachrichten zu informieren, rühmt sich mit dem Slogan „immer Ihre Musik“. Es sind eher Ausnahmen, die in meinem Fall diesem Slogan entsprechen würden.

In dem Magazin Fokus äußerte sich der Musiker Marius Müller-Westernhagen: „Eine Single darf nicht länger als 3:30 sein, und es wird nichts im Radio gespielt, was ein Gitarren-Solo hat“. Die Musik, so Westernhagen weiter, müsse dem kleinsten gemeinsamen Nenner entsprechen. «Wir haben uns damit ein Publikum erzogen, das weder emotional noch intellektuell gefordert werden will.» In der Münsteraner Veranstaltungszeitschrift Ultimo (Dez. 2015) äußert sich in ähnlicher Weise Björn Beton von der Hamburger Popgruppe „Fettes Brot“ zur aktuellen Musik: „Ich finde es zynisch, wenn man von Musik nicht mehr verlangt, als sediert zu werden.“ Sicherlich ist Musik dazu angetan, Genuss, Zerstreuung, Erleichterung, Ablenkung und Begleitung zu produzieren, aber muss das unbedingt nur als Soundglocke mit Zuckerguss erfolgen? Darf der Hörer nicht mehr gefordert, provoziert oder „bemüht“ werden, sich mit dem Gehörten auseinanderzusetzen? Der überwiegende Teil der heutigen Populärmusik kommt über die Beschreibung Fahrstuhlmusik nicht mehr hinaus.

Der Autor beim Musikhören (Foto M. Illhardt)
Der Autor beim Musikhören (Foto M. Illhardt)

Ich höre seit meinem 12. Lebensjahr intensiv Musik. Die Betonung liegt auf intensiv, da es mir meistens nicht um Hintergrundmusik geht, sondern ich genau hinhöre, herausfiltere, wann welches Instrument eingesetzt wird, welche Bilder dazu auftauchen, welche Dramaturgie ein Stück besitzt. Ich kann mich durch Musik aufputschen, anregen, entspannen, aber auch erotisieren lassen. Sozialisiert durch die Musik meiner Geschwister in den 60ern fand ich bald meinen eigenen Lebenssound, der vor allem durch Jazz, Jazzrock, Rock, Metal, Folk, aber auch gut gemachten Pop, sowie die untereinander möglichen Mixturen geprägt ist. Immer wieder gab es in meinem Musikhörerdasein, zwischendurch aber auch als DJ, Kurskorrekturen, in denen bestimmte Spielarten weniger wichtig wurden oder komplett durch neue Musikrichtungen abgelöst wurden. Meine Hörgewohnheiten sind nicht repräsentativ für einen guten Musikgeschmack, auch ist es in Ordnung, wenn Menschen keinen Wert auf anspruchsvolle Musik legen, aber müssen sich Radiostationen ausschließlich danach richten, was die Musikindustrie vorgibt und sich der überwiegende Teil der Hörer wünscht: Sedierung?

Autoradio (Foto M. Illhardt)
Autoradio (Foto M. Illhardt)

In dem Buch „High Fidelity“ von Nick Hornsby beschreibt der Protagonist, wie er die Plattenregale der Menschen, bei denen er zu Besuch ist, unter die Lupe nimmt, u.a. um dadurch eine Typologie seines Gegenübers zu entwickeln. Er liegt mit seiner Musik-Person-Zuordnungen nicht immer richtig, Menschen lassen sich nun mal nicht durch Musik allein charakterisieren, doch interessant ist allemal, wie Personen mit Musik umgehen, auf welche Weise sie zuhören und das Gehörte verarbeiten.

Der Philosoph und Musiktheoretiker Theodor W. Adorno beschäftigte sich eingehend mit der Hörtypologie. Auch wenn diese Beobachtungen, die eher rein gedanklicher und nicht wissenschaftlicher Natur sind, sowie m.E. in der Zeit ihrer Entstehung zu sehen sind, bilden sie doch eine gute Grundlage. Danach gibt es:

Experten, die sich mit dem kompletten Aufbau inklusive der Kompositionstechniken eines Musikstückes auskennen;

Gute Zuhörer, die die Musik charakterisieren können, allerdings die technischen oder kompositorischen Grundlagen meistens nicht beherrschen;

Bildungskonsumenten, die im musikalischen Bereich sehr versiert sind, aber auch Kenntnisse über Stil und Komponist besitzen;

Emotionale Zuhörer, denen es weniger um Techniken oder Wissen geht, sondern vor allem um das Eintauchen in die gefühlvollen Momente des Stückes;

Ressentimentzuhörer, die sich oft einer einzigen Richtung verschrieben haben, sich mit dieser auch identifizieren, aber anderen Stilen gegenüber weniger aufgeschlossen, wenn nicht sogar intolerant sind.

Unterhaltungszuhörer, die Musik lediglich konsumieren und sie als Ablenkungs- oder Entspannungsstrategie nutzen.

Gleichgültige oder Desinteressierte: Musik spielt keine oder eine absolut untergeordnete Rolle und wird, wenn überhaupt, nur zufällig oder beiläufig „ertragen“ oder mitkonsumiert.

Straßenmusiker im Prag (Foto A. Illhardt)
Straßenmusiker im Prag (Foto A. Illhardt)

Bei dieser Typologie geht es nicht um eine Rangordnung, also ein Besser oder Schlechter, sondern lediglich um eine bestimmte Zuordnung des Verhältnis Musik und Hören. Viel wahrscheinlicher, als dass es Hörertypen in Reinform gibt, ist die Annahme, des es sich um Mischtypen handelt. Die Vermutung liegt nah, dass die Musikindustrie vor allem an den Unterhaltungshörern interessiert ist, da sie wenige Anforderungen stellen, unkritisch und schnell zufriedenzustellen sind. Die meisten Jugendlichen, die ich nach ihrer Musik frage, können kaum mehr einzelne Interpreten nennen oder die Musik einer bestimmten Richtung zuordnen. Häufig bekomme ich als Antwort: „Ich höre, was so läuft.“ Womit vor allem Chartsplatzierungen gemeint sind. Und genau diese Einstellung bestimmt das Angebot. Schaut man sich die aktuellen deutschen oder internationalen Charts an, wird man hier äußerst selten Ausreißer finden, die von dem üblichen Einheitsbrei abweichen. Die Stücke sind in eine bestimmte Form gegossen, was Stil, Zeit und Inhalt betrifft. So findet man so gut wie nie Solis oder Instrumentalpassagen, kritische Songinhalte, die über ein bestimmtes gesellschaftliches Maß hinausgehen oder komplizierte, vielschichtige Kompositionen mit häufigen Tempo- oder Rhythmenwechsel.

Rockmusik (Foto A. Illhardt)
Rockmusik (Foto A. Illhardt)

Der WDR ist ein öffentlich-rechtlicher Sender, d.h. er hat damit einen Grundversorgungs- und gesetzlich definierten Programmauftrag, dem eine Wahrung einer politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit zugrunde liegt (Wikipedia). Daraus müsste abzuleiten sein, dass auch die Musik nicht wirtschaftlichen Bedingungen unterliegt. Sicherlich hat ein Sender keinen Erziehungs- oder Belehrungsauftrag. Es gibt keine bessere oder schlechtere Musik, auch wenn das so mancher Ressentimentzuhörer oder auch Bildungshörer so sehen würde. Ich denke, dass ein so gestalteter Programmauftrag eine Vielfältigkeit garantieren sollte, die nicht erst im späten Abendprogramm zum Tragen kommt. Es geht nicht darum, Bourani oder Oerding nicht zu spielen, sondern sich nicht ausschließlich an Chartspräsenz, Massenpräferenzen oder eben dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu orientieren. Ich möchte auch schon morgens andere Musik hören, als weichgespülte Einheitsware. Eine musikalische Radiokultur sollte sich vor allem an ihrer Buntheit und ihrem Genrereichtum messen lassen. Alles andere ist keine Kultur, sondern Industrialisierung.