Was bedeutet der Begriff Heimat und wie soll man ihn in dieser jetzigen Zeit definieren? Eine Recherche über Willkommenskultur, Heimweh und Vaterland.
Im Jahr 2006 verlebten mein Mann und ich einen wunderschönen Urlaub, der für uns hätte nie enden brauchen. Nun mag ein jeder sagen, im Urlaub ist es immer schön und hat immer etwas Besonderes, aber die erLEBte Zeit dort war rundum stimmig und harmonisch. Wir haben dort gelebt im Sinne von AUFGELEBT. In mein Tagebuch schrieb ich am letzten Tag unseres Aufenthaltes: „Nun geht es zurück in die Heimat!“ Bei den Recherchen für einen Reisebericht kam die Erinnerung an diesen Moment wieder hoch. Was hat mich damals bewogen, diesen Satz mit Traurigkeit zu schreiben? Heimat? Was ist das und was bedeutete Heimat für mich, damals und heute?
Als Kind der letzten Hälfte des 20. Jh. macht man sich in der Regel über den Begriff „Heimat“ keine umfassenden Gedanken. Die Tage waren zumeist ausgefüllt mit Sorglosigkeit und Unbeschwertheit, ich hatte tolle Eltern, eine große Verwandtschaft, Freunde und lebte außerhalb unserer Stadt schon fast auf dem Land, Richtung Münsterland. Den Menschen in meinem Umfeld ging es gut, politisch und wirtschaftlich sah unsere Zukunft rosig aus, die Arbeitsplätze waren gesichert und die damalige „Bonner Elite“ wachte über uns. Als Jugendliche war es für mich selbstverständlich, dass ich diesen Ort, meine Heimat, niemals verlassen würde.
Ich zog weit weg! Viele Kilometer trennten mich von meiner damaligen Heimat und ich fand meine neue Wahlheimat und mein neues Leben so schön und aufregend, dass ich gedankenlos und – leider auch verletzend – verkündete, ich würde niemals wieder zurückkehren. Diese andere unbekannte Welt war so viel spannender als mein bisheriges Umfeld und sie versprach mir noch größere Aufstiegschancen in Beruf und Ansehen! Doch heute, angesichts der vielen Flüchtlinge, die aus Not ihre Heimat verlassen müssen, schäme ich mich fast, diesen zentralen wichtigen Teil meiner Seinsbildung so leichtfertig und auch überheblich, verlassen zu haben. Den egoistischen Blick nach vorn machte ich mir keine Gedanken um die Familie, im Großen und Kleinen, die ich zurückließ. Aufkommende traurige Gefühle wurden beiseitegeschoben und verdrängt. Meine eigenen Eltern hatten ihren sicheren Platz in ihrem Leben mir zuliebe aufgegeben und sind nach vielen Jahren in meine Nähe gezogen. Erst heute weiß ich um ihren Kummer, die damalige Heimat verlassen zu haben. Doch die „territoriale Heimat“ werteten sie nicht so nachhaltig wie die „emotionale Heimat“. Die Liebe zu ihrer Tochter war um vieles stärker als die Sicherheit ihrer gewohnten Umgebung.
Das Leben läuft nicht immer in geraden Bahnen, die Ansichten der Partner können sich ändern, man geht getrennte Wege und Familien brechen auseinander. Auch meine Familie blieb nicht verschont. Ich empfand über Jahre hinweg ein Gefühl von Heimatlosigkeit und Entwurzelung. Trotz der Nähe zu meinen Eltern und meinen Kindern vermisste ich den inneren Halt, den nur eine starke emotionale Bindung geben kann.
Das Leben ist ein Mysterium: ich begegnete dem Menschen, der mir mein Selbst-bewusst-sein zurückgab. Der Mann, den ich liebte wohnte weit entfernt; das Wort „Heimweh“ bekam ein neues Ausmaß und eine neue Begrifflichkeit! Nach so vielen Jahren nach meinem Aufbruch ins Leben verstand ich nun endlich den Begriff „Heimat“ und die verschiedenen Bedeutungen!
Definition und Bedeutung
Althergebracht ist Heimat der Ort an dem die Familie lebt und mit ihr die überlieferten Traditionen, hier wurde man geboren und im besten Falle wuchs man hier auf, die eigene Persönlichkeit wurde geprägt und die ersten Einstellungen über Politik, Gott und die Welt wurden in nächtelangen Gesprächen mit Freunden gebildet. Traditionell bedeutete es auch, dass hier die eigene Familie gegründet wurde und man letztendlich auch sein Grab fand. Nach Gerhard Handschuh ist Heimat etwas, was man vierdimensional verstehen kann. Da ist zum einen der räumliche Faktor, der Ort an dem ich geboren werde, aufwachse, lebe und sterbe. Das erfüllt dann auch über viele Jahre hinweg die zweite Dimension, die Zeit. Die Menschen, Freunde und Familie, die hier leben und mit denen ich einen regen sozialen und liebevollen Umgang pflege und der kulturelle Aspekt u.a. verwurzelt in der Tradition und im Brauchtum, vervollständigen den Begriff Heimat. Diese vier Grundelemente sind untrennbar mit der Definition Heimat verbunden.
“Heimat ist der Ort, wo ich mich wohlfühle und wo mein Zuhause ist!”
Es fällt auf, dass der Begriff „Heimat“ erst besonderen Wert erhält, je mehr Gefahr besteht, die Heimat zu verlieren oder man sie tatsächlich verloren hat, man denke an die vielen Flüchtlinge im 2. Weltkrieg. Für sie war der Verlust der Heimat zum alles beherrschenden Gedanken geworden, der sich in Gründung von Verbänden, Vereinen und Heimatliedern manifestiert hat. Viele ältere Erwachsene denken bei Heimat in erster Linie an eine unbeschwerte „paradiesische“ Kindheit, behütet und beschützt im kleinen überschaubaren Dorf, in dem die Tradition gepflegt wurde und die man erst verlassen musste durch Heirat oder Vertreibung oder Umsiedlung.
“Heimat bedeutet, die eigenen Wurzeln zu kennen!”
Was ist passiert, dass der Begriff „Heimat“ nicht mehr den gleichen Stellenwert besitzt wie noch vor ca. 50 oder 60 Jahren? Was verbindet man mit der Vorstellung Heimat? Schon das Wort allein ist konservativ belegt und der Ausdruck „Vaterland“ drängt sich auf. Viele Wörter können innerhalb von Jahren aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwinden. Augenscheinlich verschwand der Begriff „Vaterland“ um damit die negativen Erinnerungen auf die Kriegsjahre zu vermeiden. Heimat hat eine nur positive Besetzung und setzt man dem Begriff „Heimat“ den Gegensatz „Fremde“ entgegen und dem Begriff „Vaterland“ = „Feindesland“ so kommen Erinnerungen an Marschmusik und Bilder der Aggression gegen fremde und andersdenkende Menschen hoch, sei es in der heutigen Zeit oder zur Zeit des 2. Weltkrieges.
“Heimat ist der Ort, wo ich am liebsten bin!”
Den Begriff „Heimat“ umschließt eine nostalgische Aura, ursprünglich im bäuerlichen Bereich angegliedert, bedeutete Heimat nicht nur der Ort, an dem ich lebe und sterbe, hier wurde mir auch Schutz und Recht durch Geburt und Heirat gewährt. Hier erlebt der Mensch seine ersten Sozialisationserlebnisse, gute oder schlechte Beziehungen zu anderen Individuen. Im neuen 21. Jh. besteht die Heimat nicht mehr aus der Dorfidylle, sie greift nun über in die Großstadt, mit ihren Ballungsräumen und Industriezentren. Kaum jemand bleibt seinem Geburtsort noch so verbunden wie noch zu Beginn des 20. Jh. Die stetig wachsende Wirtschaft erfordert, dass die Menschen sich anpassen, ihre Sesshaftigkeit aufgeben, sich woanders einrichten und versuchen, sich eine neue „Heimat“ zu erschaffen.
“Heimat ist der Ort, nach dem ich Heimweh bekomme!”
Heimat im 21. Jahrhundert
Kommen wir zurück zu dem Begriff “Vaterland” und der Brisanz, die hinter diesem altmodischen Begriff steht. In den letzten Monaten wird das Thema “Vaterland” und “Heimat” in rechtsradikalen Kreisen in ausgrenzender Weise genutzt. Die Grundannahme vieler Gruppen bzw. verschiedener Aussagen besteht darin, dass das Prinzip Heimat nicht auf das einzelne Individuum bezogen wird, sondern auf eine in sich geschlossene Gemeinschaft mit einer starren Kultur. So ist es also zu verstehen, dass Tausende von Flüchtlingen, die in den letzten Monaten nach Deutschland gekommen sind, als Bedrohung für das Heimatempfinden betrachtet werden. Jede fremde Sprache, jedes “Andersverhalten” wird als Anschlag auf die unwandelbare Heimat wahrgenommen. Und somit ist es auch nicht verwunderlich, dass Hetze und Angriffe nicht nur Flüchtlinge erfahren, sondern auch die Vermittler und die Befürworter der Willkommenskultur.
In den letzten Tagen habe ich mich oft mit meiner Mutter unterhalten, deren Familie zum Ende des 2. Weltkrieges aus ihrer Heimat fliehen musste. Auch in verschiedenen Büchern fand ich Tatsachenberichte von Fluchterlebnissen, zum großen Teil sogar von Kindern, die sich elternlos auf den Weg machen mussten. Die gemachten Erfahrungen waren oft so schrecklich, dass viele sich einfach weigerten, weiter darüber zu berichten! Aber ich las und hörte nie, dass sie mit feindseligen Worten oder Taten, wie sie sich in den letzten Monaten in Deutschland zutragen, empfangen wurden!
Alle Menschen verbindet eine tiefe Sehnsucht nach Beständigkeit und Tradition, nach wiederkehrenden Ritualen und Geborgenheit. Sicherlich stellt sich den armen Menschen, die aus Notsituationen und gewiss nicht leichtfertig, ihre vertraute Heimat unter schrecklichen Bedingungen verlassen mussten, angesichts dieses einschüchternden “Klimas” die Frage: „Bin ich hier angekommen, ist das der für mich richtige Platz und kann er mir Heimat werden?“
Demgegenüber steht die Aussage der jungen Generation, die von Job zu Job wandert, in Heimat etwas Altbackenes sieht und selbstbewusst behauptet: „Heimat ist da, wo ich gerade bin!“ Klingt das nicht angesichts der traumatisierten Flüchtlinge überaus naiv? Oder steht dahinter ein ganz anderes Denkmuster? Bin ich mir vielleicht selbst Heimat, trage ich sie in mir durch meine Kultur, meine Sprache und durch meine Selbstwerdung? Ist Heimat vielleicht gleich Seele? Wäre das nicht eine bessere Erklärung für den Begriff Heimat, der sich nur geographisch umschreiben lässt? Sind wir in der Zeit des „Internationalismus“ angekommen und ist der Begriff „Heimat“ vielleicht bedeutungslos geworden?
In der Zeit meiner Recherche für diesen Artikel überkam mich ein Unbehagen; je mehr ich über dieses Thema erfahre, desto schwieriger finde ich es, Heimat genau zu definieren und festzulegen. In vielen Artikeln sehe ich eine sehr naive und melancholische Sicht auf den Begriff, dabei auch voller Wertschätzung. Doch ist der Abstand zur „heimattreuen“ rechten Definition oft nicht weit genug.
Das Wort Heimat findet man nicht im Plural!
Schlussendlich stelle ich mir die Frage auch: Was ist mir denn jetzt Heimat? Ist es der Ort an dem ich geboren wurde und aufwuchs? Oder habe ich nun hier meine Heimat gefunden? Für mich ist Heimat nun der Ort hier. Der Ort, an dem meine Seele zur Ruhe gekommen ist, wo ich tief durchatmen kann und ich mich jeden Tag aufs Neue freue zu leben. Der Ort, an dem ich auch nach wunderschönen Urlauben gerne nach Hause komme, an dem ich mit lieb gewordenen Menschen durch die Straßen gehe, den wunderschönen Marktplatz, unseren Fluss und immer wiederkehrende Begegnungen genieße.