Ist Nischenkultur ein gegen die Wirklichkeit der allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse abgeschotteter Lebensraum oder eher soziales Korrektiv als Prophylaxe gegen ideologische Gleichschaltung? Überlegungen
Szenarien
Szenario 1: Ein nichtssagender Mittwochabend in der westfälischen Emsstadt Telgte. Die Altstadt wirkt wie ausgestorben; das Wetter hat keine sommerlichen Ambitionen. Die Bürger werden zuhause erlebnismäßig durch ihre TV-Anlagen ferngesteuert, in ein paar wenigen Kneipen sitzen Menschen, vor allem Männer, die dort immer sitzen und über den sich reduzierenden Schaumkronen auf ihren Biergläsern sinnieren. Da wird die Abendruhe empfindlich gestört. Schon von weitem kündigt sich ein Lärm an, den man zwar sofort handelsüblichen Einkaufswagen zuordnen, allerdings a) um diese Uhrzeit und b) auf den kopfsteingepflasterten Straßen der Stadt nicht erwarten würde. Eine illustre Schar Männer und Frauen, in der Stadt zum Teil keine Unbekannten, schieben diese rollenden Metallbehältnisse vor sich her, in denen sich große Plastikblumen, sowie Proviant für ein späteres Picknick befinden. Ein paar Fenster öffnen sich, die Männer am Tresen starren verdutzt auf die Straße, vielleicht kopfschüttelnd, möglicherweise auch nicht weiter staunend, da die Wagenschieber eben für Ungewöhnliches bekannt sind. Ist ja auch irgendwie nett, Spinner in der Stadt zu haben.
Szenario 2: Ein sonniger 1. Mai. Ort: Ebenfalls Telgte. Hier und da sieht man ein paar radelnde Gruppen auf 1. Mai-Tour, von den Bootshäusern auf der anderen Seite der Ems schallt bierseliges Gegröle herüber. Ansonsten trotz Feiertag: Alltagsnormalität. Kurz vor 15 Uhr tauchen an verschiedenen Plätzen der Stadt weißgekleidete und mit Mundschutz versehene Personen auf. Sie nähern sich einer seit Tage mit schwarzer Plastikfolie verhüllten, stillgelegten Telefonzelle. Die Folie wurde unlängst leicht zerstört. Die z.T. wie Ärzte aussehenden Protagonisten bepflastern die Risse, die verpackte Zelle wird mit einem Stethoskop auskultiert und schlussendlich mit einer Kurzinfusion – gefüllt mit Wasser aus dem Fluss – medizinisch versorgt. Dann löst sich die Aktion genauso unversehens auf, wie sie begonnen hat. Am nächsten Tag liest man in den sozialen Medien Nachfragen wie: „Weiß jemand, was das sollte? Sah wie ´ne Kunstaktion aus.“ Bei der Aktion selbst blieben Leute in reichlicher Entfernung stehen, Autos fuhren langsamer und man hörte eine Frau mit Blick auf die Vermummten zu ihrem Mann sagen: „Sprech´ die bloß nicht an!“
Bei beiden Aktionen nahm ich teil und habe somit die Reaktionen verfolgen können. Urheber dieser und anderer Handlungen waren die Kulturnomaden, eine in Telgte umtriebige kleine Gruppe von Künstlern und Kulturschaffenden. Das Ziel: Die Kulturlandschaft durch kleine Aktionen bereichern, den Normalzustand stören und Diskussionen provozieren. Das Ergebnis: Ziel erreicht. Wenn auch nur in winzigen Dosen: Man spricht drüber und wundert sich! Ein Stück Nischenkultur!
Domestizierte Kunst
Bei beiden Darstellungen geht es nicht um die Frage, ob es sich dabei um Kunst handelte und wenn ja, um welches Genre, sondern vielmehr um die schlichte Klärung, was Sinn und Zweck dieser Aktionen war. Mal abgesehen davon, dass eine absolute Zweckfreiheit eher in den Bereich der seltenen Phänomene gehört, ist die Frage nach Motiven für künstlerische Betätigungen vermutlich so alt, wie die Kunst selbst. Auch bei besagten Aktionen tauchte in zumeist abfälliger oder amüsierender Weise die Sinnfrage auf.
Der Sinn von künstlerischer Betätigung liegt zunächst beim Künstler selbst. Die Kunst als ein Produkt einer Kultur ist das Ergebnis eines kreativen Schaffensprozesses. Und ich würde hinzufügen: Das Resultat einer Ventilfunktion geistiger Abläufe. Liest man Biografien bedeutender Künstler, so zeigt sich hier geradezu eine überlebenswichtige Notwendigkeit, den inneren Farbenreichtum in einen äußeren umzuwandeln. Vielfach obliegt der Entstehungsprozess auch dem Anliegen des Künstlers, beim Betrachter einen Denkvorgang zu entfachen, ihn mit einem gesellschaftlichen oder philosophischen Aspekt zu konfrontieren und dies gar durch die gewagte Darstellung zu provozieren. Ich bezweifle, dass Kunst völlig sinnfrei konzipiert werden kann, was sich bereits in der Formulierung widerspricht: Ein Konzept beinhaltet zumeist auch einen Sinn!
Warum betrachtet jemand künstlerische Ergebnisse? Bernard Berenson, eine Autorität in Fragen italienischer Kunst hatte dazu folgende Grundkonzeption: Er definiert Kunst bzw. die Betrachtung von Kunst als ästhetisches Genießen. Alles andere bezeichnete er als müßige Spekulation (ZEIT, Okt. 1959). Dieser Auffassung muss ich, was meine eigene Wahrnehmung anbetrifft, widersprechen, denn die Betrachtung von aus meiner Sicht gelungener Werke ist mehr als nur ein Genuss; es inspiriert und beschäftigt mich, so dass ich mich mit neuen Themen auseinandersetzen muss, die meinen Horizont erweitern, bestätigen oder vielleicht auch korrigieren. Ein nach allen Seiten offener Prozess.
Kunstobjekte werden in Galerien ausgestellt oder finden in Museen ihr temporäres Zuhause. Manche Menschen legen Tagereisen ein, um eine – sagen wir – Edvard Munch oder Caravaggio-Ausstellung anzuschauen. Egal wie epochal oder auch anrüchig die Exponate sind, wir assoziieren sie immer mit dem Drumherum, also einem Museum oder einer Galerie. Dort gehören künstlerische Werke hin, dort verortet man sie, aber dort stören sie auch nicht weiter. Es sind Anblicke, an die wir uns gewöhnt haben, da sie ja nicht zum Alltag gehören, sondern eben mit einem Museumsbesuch verbunden sind. Aber sollte Kunst nicht auch stören und unser tretmühlenartiges Einerlei unterwandern? Kein Mensch wundert sich noch über brennenden Giraffen oder einem kubistischen Ohr am Hinterteil. Es ist domestizierte Kunst, etwas verrückt, möglicherweise aber ohne weiteren Einfluss auf innerpsychische Prozesse. Viele Museen sind zu Palästen mutiert, in denen selbst dadaistische Werke nach niedlichen Wandverzierungen aussehen.
Nischenkunst – Mut zur Lücke
Auf der Seite Kulturkritik.net beschreibt der Autor Wolfram Pfreundschuh Nischenkunst folgendermaßen: „Im Unterschied zu einer Subkultur oder Parallelkultur ist eine Nischenkultur nicht gegen die herrschende Kultur offen oder subversiv bestimmt, sondern ein gegen die Wirklichkeit der allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse abgeschotteter Lebensraum, – ein Raum, worin das Leben geborgen werden soll, das allgemein als bedroht gilt. Sie will inhaltlich die gesellschaftliche Kultur von sich ausgeschlossen verstehen und sich auf die Form einer alternativen Kultur zurückziehen, sich im Rückzug als Romanze ihrer eigentlichen Ursprünglichkeit positiv bestimmen.“ Nischenkultur fristet, wie der Name schon zum Ausdruck bringt, in Nischen ihre Existenz; unabhängig von oftmals entseelten Museen und Hochglanzgalerien und – leider – auch unabhängig von öffentlichen Geldern. Solche Nebenschauplätze finden zum Beispiel in Hinterräumen von Gaststätten statt, an ungewöhnlichen Orten oder in leerstehenden Räumen. Einen Talk- und Musikabend, den ich mit meiner Frau in einer Autowerkstatt veranstaltete, fand zwar viel Zuspruch, erfuhr aber keinerlei Unterstützung vom örtlichen Kulturamt. Was dort zählt ist Mainstream, sozusagen Brot und Spiele der Moderne. Nischenkultur ist unpopulär, erfährt wenig Anerkennung und lässt sich als Aushängeschild einer Kulturfabrik nur mäßig vermarkten. Herausgeschmissenes Geld bringt Ärger im eindimensionalen Rat einer Stadt, in dem Verantwortliche sitzen, die nach der Heimatmelodie eines Seehofers tanzen. Und diese Melodie besteht aus höchstens zwei Akkorden.
Dass aber gerade Nischenkultur – ich bleibe einmal bei dem Ausdruck, auch wenn er vielleicht kunsttheoretisch unpassend ist – ein gesellschaftliches Korrektiv sein kann, fällt vor lauter Nischendasein möglicherweise gar nicht auf. Ich möchte aber beschreiben, warum ich davon überzeugt bin, das es so ist.
Nischenkultur – soziale Chance
Ich fange einmal dort an, wo es am meisten weh tut: Im Kinder- und Jugendalter. In meinen unzähligen Gesprächen mit Jugendlichen im Rahmen meiner psychotherapeutischen Tätigkeit erfahre ich natürlich viel über Schul- und Freizeitbedingungen. Es stimmt mehr als bedenklich, dass in vielen Schulen Kreativität von den jungen Menschen ferngehalten wird. Musik und Kunst sind vielerorts nicht mehr vorgesehen, damit die Eichung auf sachorientierte Bürger leichter fällt. Schule, bzw. weite Teile davon (es gibt rühmliche Ausnahmen) sind marode, wenn nicht gar morbide Systeme, die von talentfreien und kreativlosen Menschen verantwortet werden. Selbst motivierteste Lehrer laufen dort gegen Betonwände, da die Curricula von schulfernen Personen bestimmt werden. Die aktuelle Bildungsministerin kommt aus dem Bankwesen und ist Diplom-Kauffrau!
Angesprochen auf die Freizeit berichtet der überwiegende Teil der Jugendlichen aus kleineren Städten von Sport-, Karnevals und Schützenvereinen als potentielle Anlaufstelle für die Gestaltung der freien Zeit. Die Rolle solcher Vereine mag löblich sein, aber man hört selten etwas von Angeboten wie Theatergruppen, freien Kunstwerkstätten, Theater- und Kulturringen oder anderen kreativen Möglichkeiten. Eine diesbezügliche Unterstützung von den Eltern ist oftmals nicht zu erwarten, da sie kulturell über allabendlichen Fernsehkonsum nicht hinauskommen.
Erfährt ein junger Mensch eine solche Eindimensionalität des kreativen Lebens und man darf nicht vergessen, dass Parteien wie AfD & Co die Gleichschaltung der Kultur im Programm führen, so ist es nicht verwunderlich, wenn auch das Denken, aber auch das soziale Miteinander eine eindimensionale Entwicklung nimmt. Kennt man nur Schützenfeste und die auch ansonsten uniformierte Eintönigkeit eines Dorfes oder einen kleinen Stadt, so wird dies die Blaupause für den weiteren Werdegang sein. Kunstevents, Happenings, Literatur- und Talkabende, kleine Konzerte, multikulturelle Veranstaltungen, thematische Führungen oder Kooperationen verschiedener Kulturbereiche machen den Erfahrungshorizont bunt und lassen Jung und Alt erleben, dass es mehr Lebensbereiche, Lebensformen und Lebensexperimente gibt, als mir in meiner kleinen Welt bewusst geworden ist. Dazu bedarf es keiner Museen, sondern vieler Kräfte, die eine mannigfache Nischenkultur gestalten.
Bei unseren Aktionen (s.o.) wurden wir während der Durchführung, aber auch im Anschluss von Jugendlichen angesprochen, die z.T. irritiert nach dem Sinn unseres Wirkens fragten. Es war mehr als interessant, ihre Reaktionen mitzubekommen. So bemerkte ein Mädchen, das mich nach dem Sinn einer Schaufensterpuppe, die mit in Plastiktütchen eingepacktem Straßenmüll behängt war, und in der besagten Telefonzelle (s.o.) stand: „Das ist interessant. Vielleicht denken ja einige Leute mal drüber nach, wie sie die Stadt vermüllen.“
Sieht man also das nächste Mal eine oder mehrere Person(en) einen Einkaufswagen nebst Plastikyuccapalme durch die Stadt schieben, so sollte die Frage nicht lauten, was das bewirken soll, sondern eher zu der Feststellung führen, das auch so etwas in einer Stadt möglich ist. Man sollte sich über die Artenvielfalt und die Tatsache, nicht im Reich der behördlich verordneten Grautöne zu leben, freuen. Nischenkultur ist Teil einer freien und offenen Gesellschaft und fördert die Toleranz und Akzeptanz gegenüber Ungewöhnlich- und Andersartigkeit. Es hat eine Art Korrektivfunktion und löst die Verstopfung durch das Gewohnte und Normative.