Sexualität gibt es selten in Reinkultur, allzu oft wird sie durch Gewalt kaputt gemacht. Mit „Kaputtgemacht“ meine ich die soziale Duldung des ganz normalen Irrsinns einer mit Gewalt vermischten Sexualität. Lässt sich dagegen etwas tun?
Der Titel ist dem Film „Der Totmacher“ über den Massenmörder Haarmann mit Götz George nachempfunden. Er spielte das Gerichtsprotokoll nach. Faszinierend war die Nähe zwischen Gutachter und dem Mörder. Ich hielt für bedrückend, dass wir mit Gewalt vermischen oder an Vorurteilen scheitern lassen, was uns am Herzen liegt. Sind „wir“ dann Kaputtmacher?
Im letzten Jahrtausend habe ich einen Vortrag über Sexualität Behinderter gehalten. Dazu gehörte eine Fallgeschichte, die mir hundert und mehr zornige Gesichter von Eltern Behinderter eintrug – ein echter Karrierekiller. Die Geschichte: Ein normales Mädchen wurde schwanger und verriet nicht den Namen des Erzeugers. Alle Bekannten waren sich einig, dass der Behinderte, der in der gleichen Straße wohnte und viel mit dem Mädchen zusammen war, der Schwängerer wäre. Erst sehr spät kam heraus, dass der Behinderte, als er sterilisiert werden sollte, gar nicht zeugungsfähig war. Schlimm für den Behinderten, auch für die Eltern, die unter Druck standen. Gibt es eine Alternative für Sterilisierung oder gar Kastration? Was macht man mit Gerüchten und Druck? Mich hat wütend gemacht, dass viele Menschen den Behinderten und ihrer sexuellen Aktivität Schlimmes zutrauen, was ihre eigenen erotischen Fantasien weit übertrifft. Die Gesellschaft hat ihre Probleme mit Sexualität. Sie will Regeln akzeptiert wissen, nicht Freude. Ist Inklusion ohne Sexualität nicht eher ein schlechter Witz?
Sexualität umfasst alles, was körperliche Nähe realisiert, natürlich gehört Sex dazu, aber auch simples Schmusen. Gewalt macht Nähe kaputt. Vor allem bei Menschen, die Sexualität nie ohne Gewalt erlebt haben. Denken wir weiter an die Probleme des Beziehungsalltags: an die Me-too-Bewegung, an die Vergewaltigung innerhalb von Ehe und Partnerschaft, an die vielen Missbrauchsfälle in Kirchen, Schulen und Sportvereinen, an Vergewaltigung als vermeintliches Recht der Sieger in Kriegen, was zwar verboten ist, aber immer noch – auch heute noch – von militärischen Vorgesetzten „frei gegeben“ wird. Diese Liste ließe sich fortsetzen.
Greifen wir eines dieser Themen auf. Der Film „Spotlight“ feierte den Mut der Journalisten des Boston Globe, sie deckten den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche auf. Dafür bekam der Film einen Oscar. Aber „man“ liegt falsch, wenn man das Problem auf die Kirche(n) abschiebt. Was ist mit der Gesellschaft, die Missbrauch verheimlicht? Es geht nicht, wie ein Karikaturist formulierte, um die Theorie des eingeklemmten Schwanzes, sondern um die verklemmte Gesellschaft.
Genau hier bekommt die Gewalt ein neues Gesicht. Das Problem ist nicht nur der Missbrauch von Menschen, die sexuellen Akten nicht zugestimmt haben. So schlimm das ist. Spotlight betonte die Betonfraktion, vor der der „Boston Globe“ soviel Angst hatte. Die mutige Redaktion fürchtete sich vor Menschen, die Sexualität allzu selten als beglückend erfahren dürfen und sozusagen entkrampft leben. Genau hier liegt das Dilemma. Sexualität ist die körperliche Nähe, die glücklich macht und Glück für einen selber und den anderen bedeutet. Das sehen viele so. Dann aber kommt die Falle. Man schiebt Sexualität ins Private. Wenn öffentlich, dann sieht man sie im Film und Fernsehen. Sie ist auch in der Reklame zu sehen. Etwa das junge Mädchen mit der superengen Jeans. Sie will aber alles andere als körperliche Nähe, eher eine gute Bezahlung.
Konzentrieren wir uns auf ein paar Beispiele für Sexualität, die „wir“ kaputt gemacht haben:
Sexualität alter Menschen
scheint es nicht zu geben, oder praktischer gesagt: Sexualität z.B. der eigenen Eltern mit auffälligen Gebrechen wird von den Jungen gern ignoriert. Wieviel Sexualität gibt es etwa im Altenheim? Wird das dort eher gefördert, weil es wichtig ist, oder eher verdrängt, weil viele das für pervers halten? Warum? Den jungen, knackigen Leuten traut man das fraglos zu. Ist Sexualität ein Recht der Jungen?
Ein alter Mann (ca. 80) erzählte, dass er seiner Frau mit Parkinson und Lungenstörung die Beatmungsmaske abnahm, um sie zu küssen. Er betonte, dass er nichts getan hätte, was man normalerweise „so“ denken würde. Niemand hat die Stalllaterne gehalten, aber alte Liebe rostet nicht.
Verschiedene Formen der Sexualität
Sexualität ist längst nicht mehr ein Thema, das Frau und Mann betrifft. Es betrifft Menschen, die nach ihrer Identität suchen oder sich in gleichgeschlechtlichem Verhältnis verwirklichen. Homosexualität und lesbische Beziehungen sind nur dann ein konfliktreiches Feld, wenn man körperliche Nähe und Autonomie der Beziehungsgestaltung ausblendet. Ein ganz ähnliches Problem sehen wir, wenn Transsexualität (unterschieden, aber ähnlich Transgender) Schwierigkeiten mit Aufbau der eigenen Identität und beglückender Beziehung bedeutet. Ob die offene Feststellung nur zu korrigierter Statistik oder auch zu mehr Freiheit führt? Dann muss die Schranke – oder besser: der Schrankenwärter – anders werden.
Viele öffentliche Institutionen (EU, UNO o.ä.) haben das als Menschenrecht formuliert. In der Geburtsstatistik werden Geburten auch nicht mehr ausschließlich und sofort nach weiblich und männlich sortiert, so zumindest das aktuelle EU-Recht. Die Neugeborenen werden auch längst nicht immer in weibliche oder männliche Rollen gezwungen. Selbstverwirklichung ist das oberste Prinzip. Ob sich die gesellschaftliche Praxis daran orientiert, ist zumindest nicht selbstverständlich, solange Zwänge und Vorurteile noch existieren.
Zärtlichkeit und Sexualität
Eine französische Komödie (2014) trug den Titel „Verdammt nochmal! Wo bleibt die Zärtlichkeit?“. Beobachtet wurden Erotik, Phantasien, schüchternes Anhimmeln, gockelhafte Überheblichkeit, selbstlose Zuneigung, verklemmtes Zaudern usw. Wie auch immer: Sexualität kommt nicht ohne Zärtlichkeit aus. Fernsehen belegt oft das Gegenteil, wenn Sexualität sich koital gibt. Kaum ein Krimi ohne Bettszene oder Schauspieler, die nicht schnell genug aus ihren Klamotten kommen, um auf dem Schreibtisch oder sonst wo … Ist das Zärtlichkeit oder eher Libidoabfuhr? Welche (Vor-)Bilder werden uns vermittelt?
Sexualität und Behinderung
Das ist ein weiteres Diskussionsthema. Natürlich gibt es verschiedene Grade von geistiger und/oder körperlicher Behinderung (meist Mehrfachbehinderung), Unterbringung im Heim, Wohnung zu Hause, reiche oder arme Eltern, Alter usw. Vor allem: Behinderung ist keine Krankheit. Sexualität ist somit gesunde und normale Körperfunktion und ein Recht aller, auch behinderter Menschen. Trotzdem ist das Thema Sexualität Behinderter ein Randthema, nur die Grünen plädieren für ein entsprechendes Gesetz.
In einem Ethik-Seminar, von dem ein mir bekannter Heimleiter 2 Terminen durchführte, entspann sich eine interessante Diskussion. Pro Jahr kämen ca. 6 Schwangerschaften von Heiminsassen vor, wobei die Schwängerung immer durch Pflegepersonal passiert sei. Was könnte man dagegen tun, fragte der Gastdozent. Eine Studentin schlug vor (was sie nicht ernst, aber wütend meinte), alle männlichen Pfleger sterilisieren zu lassen. Dieser seltsame Vorschlag führte zu dem eigentlichen ethischen Punkt, ob Sexualität Behinderter vor der Öffentlichkeit gern verschwiegen wird und wie sie praktisch gelebt werden kann. Die Pfleger waren keine Monster, sondern Menschen, die wie fast üblich Behinderte nicht als gleichberechtigt ansehen. Wie gehen „wir“ mit solchen Dramen um? Das ist nicht eine Frage des Einzelnen, sondern eine der Gesellschaft.
Fazit
All diese Punkte haben eins gemeinsam: Sexualität wird nicht mit der nötigen Offenheit und Selbstverständlichkeit gelebt, die uns aufgeklärten modernen Menschen zugetraut wird. Die soziale Einschätzung der Sexualität verkommt. Sie wird gern hinter Schranken und Barrieren klein gehalten. Was nicht offen sein kann, wird – notfalls mit Gewalt – versteckt. Nebenstehendes Bild zeigt eine Welt im Griff der Gewalt: Menschen ohne Kopf, ein General (ausnahmsweise mit Kopf), jemand, der ihm zuflüstert (auch mit Kopf), ein blutverschmiertes Schwert, ein Esel mit Scheuklappen und leerer Futterkrippe … Eine offene Gesellschaft hat Grosz nicht kennengelernt.
In einem Roman von François Garde („Was mit dem weißen Wilden geschah“, deutsch 2017) ist ein schiffbrüchiger junger Franzose. Er wurde von australischen „Wilden“ aufgenommen und 18 Jahre später wieder in die französische Kultur „zurückintegriert“, was jedoch katastrophal endete. Ein gelegentliches Problem war, wie der ehemalige Wilde in Frankreich mit Sexualität und ihren Spielarten umging, Befremden und Ablehnung auslöste, weil Sexualität für ihn früher nichts Geheimes, stattdessen etwas sozial Selbstverständliches war. Zwar ließ der Autor das alles im 19. Jahrhundert spielen, ging so aber den heutigen Problemen auf den Grund.
Das ist „unsere“ Herausforderung. Sie kostet Zeit, Nachdenken, offene Gespräche, Besinnung auf ein gemeinsames Ziel. Dazu einige Vorschläge:
1.Die Bedürfnisse des Anderen verstehen
Natürlich ist der Andere ein Anderer und nicht eine Kopie. Andersheit heißt erkennen, was der Andere will und für Bedürfnisse hat. Die Bedürfnisse des Anderen zu erfahren, setzt Mit-einander-Sprechen voraus. Nur so erfährt man, was der andere will und wie man auf einen gemeinsamen Nenner kommt. Spätestens nach der Phase der Verliebtheit ist genau diese Gemeinsamkeit überlebenswichtig. Übrigens, auch „ich“ bin für den Partner ein Anderer.
Wird Sexualität so gehen oder ist mein Sexualpartner nur mein Double?
2. Mit Verschiedenheit leben
Was geschieht, wenn die beiden, die sich nahe sind, etwas wollen, was dem einen nicht passt, z.B. der eine ein Ja erwartet, und der andere Nein sagt? Auf keinen Fall die Andersheit des Anderen zum Konflikt hochspielen. Ziele festhalten, Gründe benennen, eventuell Lebenskonzepte anerkennen, Kompromisse aushandeln, Dominanz vermeiden usw. Meine Mutter hatte ein Gebet (Was auch sonst?) in ihrer Küche hängen: „… Einer von Dir ist genug.“ Andersheit ist die Bedingung des gemeinsamen Lebens. Ohne Andersheit wäre das Ganze ein Heimspiel. Genau das wollen wir nicht. Wir halten Verschiedenheit aus, tolerieren sie, wachsen mit ihr. Aber – wie seltsam – im Umgang mit Flüchtlingen haben wir Probleme. Toleranz? Wachsen? Wirklich Verschiedenheit (oder doch nur leicht verfremdete Ähnlichkeit) akzeptieren?
Ist das nicht auch die Barriere in der Sexualität, die zur erotischen Routine entgleist
3. Eckpunkte einer „offenen Gesellschaft“
Sir K.R. Popper (gebürtig in Wien, englischer Soziologieprofessor) hat aufgezeigt, was eine offene – im Vergleich zur geschlossenen – Gesellschaft ist und was ihre Offenheit ausmacht. Ganz einfach: Das ist eine Gesellschaft mit Menschen, die „vernünftig“ denken, also niemals Alternativen und eventuell das Gegenteil der eigenen Meinung ausschließen.
Ein paar Beispiele: Hobbydenker aus diktatorischen Kreisen wie Putin, Xi Jinping, Orban, Seehofer usw., um wieder aufs Thema Sexualität zu kommen, verdammen ohne gültige Gründe (gibt es die?) Homosexualität. Rechte Kreise in Deutschland (und leider nicht nur dort beeinflussten die Ärztekammer und schränkten die Information über den Schwangerschaftsabbruch ein, die sie für Werbung hielten. Sie schließen die Gesellschaft zu, und viele von uns aus, die eine offene Gesellschaft wollen. Sollte Sexualität in seiner ganzen Spielbreite nicht Normalfall werden?
Ich möchte nochmals betonen: Sexualität von Gewaltanwendung frei zu machen, kann gelingen, wenn man die Gesellschaft offener macht.