Stille
Der verwehrte Leerraum des Lebens

Stille ist für viele Menschen schwer zu ertragen, da man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Das lässt sich nutzen, meinen Google & Co und verwehren den Leerraum des Lebens.

Ruheort (Foto Marion Illhardt)
Ruheort (Foto Marion Illhardt)

In den Achtzigern fuhr ich mit meinem klapprigen Bulli vom Atlantik durch die Pyrenäen zum Mittelmeer. Schon damals liebte ich es, über Landstraßen zu reisen, kleine Dörfer zu entdecken und in Straßencafés auf einen Milchkaffee einzukehren. Irgendwo im Nirgendwo der Berglandschaft legte ich eine Pause ein. Ich parkte den bunt bemalten VW unter einem schattigen Baum und stellte den Motor ab. Hier oben in den Bergen hatte man einen weiten Blick bis zum Horizont und nur hier und da lugten Zeichen einer Zivilisation aus dem Grün und Felsengrau. Nachdem der Motor ein letztes Knacken von sich gegeben hatte, stellte ich etwas absolut Ungewöhnliches fest. Es war still hier oben: Kein Straßenlärm, kein Vogelgesang, kein Zirpen von Zikaden. Nichts. Ich erinnere mich noch gut an diesen Moment, der mir anfangs unheimlich erschien, mich aber dann immer mehr faszinierte. Erst hier wurde mir klar, dass Ruhe nicht Stille bedeutet und wie viele Geräusche existieren, die sekündlich unser Ohr erreichen, nicht selten auch betäuben, aber als solches gar nicht mehr wahrgenommen werden.

Ruheort 2 (Foto Arnold Illhardt)
Ruheort 2 (Foto Arnold Illhardt)

Vor einigen Jahren besuchte ich mit meiner Frau das Wendland, eine wunderschöne Landschaft im östlichen Niedersachen: „weit ab von Vielem und nah im Herzen“ (1). Abends saßen wir häufig mitten im Wald oder auf einer Bank in der Nemitzer Heide und ließen uns von der Ruhe berauschen. Es war der Klang des Schweigens und der natürlichen Ruhe. Nein, in Wäldern herrscht nachts keine Ruhe, vielmehr ist es ein Sammelsurium von seichten Geräuschen: Das Aneinanderreiben von Ästen; Tiere, die im Unterholz rascheln oder ein entferntes „Huh-Huhuhu-Huuuh“ eines Waldkauzes. Dennoch ist diese Waldesruh weit entfernt, von dem Getöse des Alltags und der Städte. Nach einer Weile des Eintauchens in diese natürlichen Klänge beginnt die meditative Wirkung. „Bereits seit den 1980er Jahren wurde das Waldbaden in Japan als wichtiger Bestandteil einer gesunden Lebensweise durch Politik und medizinische Wissenschaft propagiert.“ (2) Neben dem gesunden Klima und der Entschleunigung ist vor allem die Ruhe ein wesentlicher Gesundheitsfaktor. Die Wirkungen auf Körper und Seele sind gut erforscht, dennoch stimmt es nachdenklich, dass es dafür eine eigene Kultur oder politische Vorgabe braucht. Ein Teil der Menschen scheint derart entnaturiert zu sein, dass es propagiert werden muss.

Ruheort am Meer (Foto Arnold Illhardt)
Ruheort am Meer (Foto Arnold Illhardt)

Doch Stille ist nicht nur die Abwesenheit von Geräuschen und Bewegungslosigkeit, sondern auch das Fehlen von visuellen Reizen. Als ich vor über 15 Jahren das Fernsehen abschaffte, geschah dies vor allem aus einer sich steigernden Aversion gegen das Gekreische und Gelärme der TV-Glitzerwelt. Zu diesem Entschluss kam ich, als ich aufgrund einer längeren Erkrankung erstmalig nachmittags das Fernsehgerät anschaltete und Zeuge einer vor tiefergelegten Geistlosigkeit strotzenden Serie wurde. Es überfiel mich eine Art Angewidertsein vor soviel einfallsloser Primitivität. Aber darüber hinaus spürte ich allgemein einen Überdruss an dieser optischen und akustischen Kakophonie des Glitters, Grauens und sinnbefreiten Geredes. Ich ahnte damals nicht, dass es erst der Anfang war und schlimmer kommen würde.

Ruhe in der Natur (Foto/Bearbeitung Arnold Illhardt)
Ruhe in der Natur (Foto/Bearbeitung Arnold Illhardt)

Inzwischen sind wir an einem gesellschaftlichen Punkt angekommen, an dem Stille bzw. auch ansatzweise ein Zustand der Ruhe eine Art Dinosauriertum einer vermeintlich verkorksten Ära darstellen. So ganz ohne Handy und Fernsehen? Da bekäme ich die Krise, kommentierte dies eine Jugendliche entsetzt. Allgegenwärtig und im Staccato-Modus läuft ein Bombardement mit visuellem und akustischem Bullshit. Und dennoch sind all die Reels (Kurzfilme), Videos und Bilder, die bei jedem Besuch im Internet unser Hirn infiltrieren, stets so gemacht, dass sie die Aufmerksamkeit fesseln. Abends sitzen Gruppen von Jugendlichen auf Bänken und starren auf blau flackernde Smartphone-Bildschirme, auf denen sie sich am menschlichen Siechtum ergötzen. Ruhe – und ich rede hier nicht von Stille – ist verpönt, geradezu unerträglich. Hinzu gesellt sich eine neue Krankheit, die sich FOMO (Fear of missing out) nennt, was soviel wie „Angst etwas zu verpassen bedeutet. Auch wenn es wie eine Verschwörungsformel klingt, so ist diese Störung durch einen neuzeitlichen Medienkonsum genau so gewollt. In einem Interview in der TAZ beschreibt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (Universität Tübingen) diese mediale Überdrehtheit: „Wir, die Bewohner einer privilegierten Welt, sind in eine Atmosphäre der totalen Gleichzeitigkeit eingetreten, sehen alles, leiden unter einer Überdosis Weltgeschehen, schwanken zwischen Erregungserschöpfung, Panikschüben, Mitgefühl, Ignoranz-Sehnsucht. Dieses Gefühl der Überforderung ist das Stimmungsschicksal vernetzter Gesellschaften, die einen klug dosierten Umgang ihren Affekten noch nicht beherrschen.“ (3)

Immer auf Empfang (Foto Arnold Illhardt)
Immer auf Empfang (Foto Arnold Illhardt)

Die Zeiten sind vorbei, in denen man in Fahrstühlen mit nichtssagender Musik berieselt wurde. Deshalb sprachen wir früher abwertend von Fahrstuhlmusik, wenn der Sound zu lahmarschig daherkam. Heute findet diese Berieselung überall dort statt, wo konsumiert wird. In den Fahrstühlen, die ich in den letzten Jahren genutzt habe, war es bis auf die Etagenansagen, angenehm still. Und Konsum braucht Lärm, Geräusche, Sound, Beschallung. „Das Marketing sagt der Stille eine konsumhemmende Wirkung nach. Um den Konsum zu motivieren, wird deshalb in Verkaufsräumen Stille oft mit Hintergrundmusik überdeckt (4).“ Das Aussetzen von Reizen entwickelt einen Leerraum, in dem wir plötzlich auf uns selbst zurückgeworfen sind. „Wenn wir dem üblichen Hamsterrad entkommen, merken wir, wie wir schmecken, hören, fühlen.“ (5) Dieses Aufsichselbstbezogensein ist schlecht fürs Geschäft und deshalb geben Industrie und Medienriesen Unmengen an Geld aus, um unsere Wahrnehmung zu lenken. Mit großem Erfolg!

Ruhebank (Foto Arnold Illhardt)
Ruhebank (Foto Arnold Illhardt)

Auf meinen abendlichen Spaziergängen beobachte ich oft, wie Menschen vor dem laufenden Fernsehschirm sitzen, aber nicht hinschauen. Während im Off bewegte Bilder laufen, blicken viele gleichzeitig auf ihr Smartphone oder blättern in einer Illustrierten. Manche sagen, durch die Geräuschkulisse eines Fernsehers das Gefühl zu haben, nicht allein zu sein. Für viele ist Ruhe und damit auch das Alleinsein (es ist nicht die Rede von Einsamkeit) kaum mehr zu ertragen. Und das mag vielleicht an dem Overkill an Reizen liegen, die jeden Moment zu hören, zu sehen oder sonst wie wahrzunehmen sind. Es sind ja nicht nur die Überreizungen, die uns auf digitalem Weg die Ruhe stehlen, sondern die allgegenwärtige Reklame, alle der Lärm durch Straßenverkehr, die Dauerberieselung mit Handygepiepe, aber auch das ständige und zum Teil völlig aus dem notwendigen Rahmen herausgefallene Gequatsche der Menschen. Selbst in Kirchen, in denen sogar überzeugte Atheisten das Schweigen tolerieren, wird geredet, als gäbe es kein Morgen mehr. Ein Bummel durch eine fremde Stadt führte mich zu einer Kirche, aus der Musik von einer Querflöte drang. Ich trat ein und lauschte eine Weile dem meisterhaften Spiel des Musikers, bis die „Quatscher“ die Kirche betraten. Es waren Kirchenkenner, die sich ohne den besonderen Moment der Flötenmusik zu würdigen in einer impertinenten Weise über irgendwelche architektonischen Besonderheiten unterhielten. Reden ist oft nicht mehr reiner Austausch, es erscheint mir mehr und mehr das Ausradieren von Stille zu sein.

Nachtspaziergang (Foto Arnold Illhardt)
Nachtspaziergang (Foto Arnold Illhardt)

In seinem Buch „Zeit – Der Stoff aus dem die Träume sind“ schreibt der Autor Stefan Klein über eine Sucht nach Stimulation und stellt die Vermutung auf, dass der Mensch unbegabt für die Entsagung von ständiger Kommunikation ist. „Die genetische Programmierung unseres Gehirns entstand in einer Zeit, in der neue Reize rar waren und, wenn sie doch auftraten, eine möglicherweise lebenswichtige Bedeutung hatten. Was sich in unserer Umgebung verändert, weckt die Aufmerksamkeit, ob wir es wollen oder nicht. Automatisch wird der Blick dorthin gezogen. So mögen wir heute vor dem Computer noch so genau wissen, wie belanglos die meisten per E-Mail eintreffenden Botschaften sind – wir stürzen uns dennoch mit derselben Intensität darauf, mit der ein Savannenbewohner beim Rascheln im Laubwerk die Ohren spitzte.“

Ort der Stille (Foto Arnold Illhardt)
Ort der Stille (Foto Arnold Illhardt)

Genauso wie allerorts die Produktion von unnützen Dingen auf Hochtouren läuft und den potentiellen Kunden suggeriert, dass der Kauf das Leben bereichern, zumindest weniger langweilig machen könne, ist auch das Bombardement von Unnützinformationen immens. Doch dass es sie gibt, liegt allein daran, dass die Menschen sie konsumieren, um ihrer inneren Stille zu entfliehen. Genauso lärmig und entsetzlich grell sind die Aufforderungen der sozialen Medien, nur nicht zur Ruhe zu kommen, nur nicht zu schweigen und bei jeder Debatte mitzumischen. Und hat man für einen Moment das Gefühl, eine vernünftige Diskussion zu führen, nutzen rücksichtslose Zeitgenossen die Gelegenheit, um mit unlustigen Bildchen oder sinnentleerten Reels den bislang interessanten Prozess zu primitivieren. In dem TAZ-Artikel mit dem Titel „Einfach mal schweigen“ spricht die Autorin Gunhild Seyfert davon, dass die Kommunikationsströme von Milliarden von Menschen von wenigen „Digitalgiganten“ reguliert würden, „die eines definitiv nicht wollen: das Schweigen, die Stille, die Nichtkommunikation, sondern die Überhitzung der Kommunikation, um Menschen weiter auf ihren Plattformen zu halten“. (6) Es ist erschreckend, wie gut es funktioniert, obschon uns diese Prozesse längst bewusst sein müssten.

Vor einigen Jahren erstellte ich eine Installation in einer ehemaligen Telefonzelle meiner Heimatstadt. Auf ein schwarzes Bastrollo schrieb ich in weißen Buchstaben ein Gedicht, das dort mehrere Wochen hing.

Stille (Foto Pixabay)
Stille (Foto Pixabay)

Mehrfach wurde ich auf diesen Text angesprochen. Interessant dabei war die Tatsache, dass viele die Aktion inhaltlich nicht verstanden. Warum Stille? Warum frei von Regeln und Vernunft? Erklärte ich den Hintergrund, erlebte ich bei den Gesprächspartnern oftmals eine große Nachdenklichkeit. Viele fühlten sich nahezu erwischt, dass sie sich zu Sklaven besagter Digitalgiganten, aber auch der gesamten Bewusstseins- und Zerstreuungsindustrie gemacht hatten. War der Abend und die Nacht früher dazu da, sich von den Mühen des Tages zu erholen und sich dem geheimen Sinn dieser stillen Zeit hinzugeben, so entsteht heute eher der Eindruck, dass abends die Regler der Beschleunigung erst richtig hochgeschoben werden. Nur nicht zur Ruhe kommen, nur nicht rasten, the Show must go on und der Kommerz funktioniert auch zu schlaftrunkener Stunde. Der moderne Kapitalismus wirkt am besten ohne Stille und Zur-Ruhe-kommen. Und parallel dazu versuchen Entschleunigungsexperten in Regenbogenpresse und Apothekenratgebern auf die Gefahren der Ruhevermeidung und 24/4-Rastlosigkeit mit Entspannungs- und Mediationsangeboten hinzuweisen: Gut gemeint, aber vergebliche Rettungsversuche.

Meditation am Fluss (Foto Arnold Illhardt)
Meditation am Fluss (Foto Arnold Illhardt)

Und selbst? Was ist mit der eigenen Stille? Trotz eines eher zurückgezogenen Lebens ohne Fernsehen und Verzicht auf den überwiegenden Teil der gesellschaftlichen Rummeligkeit stecke ich knietief im Sumpf. Mir ist meine Sehnsucht nach Stille bewusst, aber die medialen Störfaktoren lassen auch mich nicht zur Ruhe kommen. Erst das Zusammenleben mit einem Hund hat mich trainiert, wieder auf das Wesentliche zu achten. Auf unseren Spaziergängen nachts oder frühmorgens genieße ich es, durch Waldabschnitte zu laufen, wo keine Laterne brennt, keine Menschen unterwegs sind und meine Augen wieder das Vortasten üben müssen. Und manchmal verweile ich im Dunklen auf einem Friedhof, nur hier und da ein Grablicht und freue mich über die Stille. Hier hat das Quatschen endlich ein Ende.

 

Quellenangaben

  1. wend.land
  2. Waldbaden: Wirkung & Anleitung | gesundheit.de
  3. Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit: Wege aus der kollektiven Erregung“ (2018)
  4. Medienexperte über Krisen-Erzählungen: „Wir träumen in Geschichten“ – taz.de
  5. Lukas Bärfuss in Philosophie Magazin4/2014 „Gibt es ein Recht auf Faulheit?“
  6. Einfach mal gar nichts sagen: Sei doch mal still – taz.de