Butscha und der Spiegel
Der Ukrainekrieg und unser Spiegelbild

Es ist schon viel über den Ukrainekrieg berichtet worden. Leider wurde auch allzu viel ausgeblendet. Vor allem haben wir übersehen, dass Butscha ein Spiegelbild von Bagdad und dem Zweiten Irakkrieg ist. Jede Unebenheit im Spiegel oder erst recht ein Prisma macht Verzerrungen. Was folgt daraus?

„Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge

und nimmst  nicht  wahr den  Balken in  deinem Auge?

Matthäus 7,3

In der Bibel finden wir viele weise Sprüche, auch den Spruch über uns, die wir das Böse bei den anderen sehen, aber nicht das – vielleicht noch größere – Böse in uns selber.

Wieder einmal »Moral«? Wir sprechen zwar viel über den bösen Putin. Aber was ist eigentlich das Böse in uns selbst? Und unser Selbstbild? Von der deutschen (im amerikanischen Exil) von der New York Times entsandte Philosophin Hannah Arendt kennen wir den Kommentar aus dem Eichmann-Prozess: „die Banalität des Bösen“: Eichmann, Mörder im Auftrag Hitlers, war immer noch der „kleine“ Verwaltungsangestellte mit Anzug und Ärmelschoner, der 1000fache Ermordung organisierte. Der Verbrecher ist nicht nur Putin, sondern auch der, der – so heute – die Mio.-fache Ermordung militärisch organisieren würde.

Nicht Banalität ist die Essenz des Bösen. Wir sind es, die das Böse banal macht, also zu Menschen, die das Böse als etwas betrachten, das uns fremd ist, es gleichsam als etwas Schreckliches, Teuflisches ansehen. Kommentatoren und Politiker überschlagen sich mit Bezeichnungen des Grässlichen über den Krieg. Aber wir vergessen, dass dieses Grässliche auch in uns liegt.

Butscha ist eine Stadt vor Kiew – man sagt, heute war sie die schönste Stadt der Ukraine. Jetzt denkt man nur an die vielen toten Zivilisten, die die russischen Soldaten hinterlassen haben. Kurz darauf stellte man fest, dass Putins Kriegswaffen der Hunger in der ganzen Welt, auch und vor allem in den armen Ländern Afrikas ist. Nicht zu vergessen Kälte, Tod, zerstörte Häuser und Traumata aller Art in der Ukraine.

Kann man das hinnehmen? Militärisch Zurückschlagen oder Diplomatie? Wie auch immer eine solche Entscheidung ausfallen würde: Sie ist auf der „Moral“ der schmutzigen Hände gebaut. Unmoral auch bei uns selber. Militärisches Zurückschlagen, aber auch Diplomatie gehören auf den Misthaufen der bereits geopferten Prinzipien.

Und zwar zweifele ich an der Rechtfertigung des Krieges, weil der eine nachmacht, was der andere vorgemacht hat – wie bei den Lemmingen: Sie stürzen einer nach dem anderen – an die Tausende – die Klippen hinunter und sterben. Komisch – Lemminge können nicht denken. Putin und die westlichen Präsidenten ticken wie die Lemminge? Der Vergleich von Lemmingen und Präsidenten – ist der nicht ein bisschen banal? Mag sein. Aber sie sind verstrickt in das Böse und ziehen andere mit hinein. Insofern sind wir alle infiziert.

Was erleben wir, wenn wir Butscha sehen? Wir sehen die viele tote Zivilisten – selbst Kinder, Alte, Gefesselte, vergewaltigte Frauen – auf den Straßen liegen. Und wir wissen, dass Putins Krieg ein geistloses Unterfangen ist – Butscha zeigt „das reine Böse“ (Oksana Timofejewa). Aber er tat, was er von westlichen Mächten – wir Alten haben es miterlebt – „gelernt“ hat. Ist Butscha wirklich neu, gewissermaßen ein eimaliges Symbol des Bösen, oder gab es dieses Symbol schon einmal?

Spiegelbild (Quelle-Pixabay)
Spiegelbild (Quelle-Pixabay)

Es irritiert uns, wenn wir auch an der Diplomatie zweifeln. Auf den ersten Blick scheint sie etwas Gutes zu sein: Frieden schaffen ohne Waffen – biblische Utopie der alten Propheten (Jesaja). Aber auch Diplomatie kann auf der „Arroganz der Klugen“ (wieder Oksana Timofejewa) beruhen, die nicht das Böse bei sich selber sehen, nur das Böse bei den anderen. Wir mussten uns an das Böse und die Unmoral der schmutzigen Hände fast gewöhnen. Warum? Er zeigt, dass das Böse und unsere Unmoral schon lange zu unserer Welt gehört. Das Böse ist gewissermaßen unser Spiegelbild.

Sagen wir es ganz einfach: Nicht nur Putin ist ein Verbrecher. Wohl ein schlimmerer als Bush, weil Putin nach dem Beschluss der Duma lebenslang Präsident im Kremel bleibt. Die westlichen Verbrecher treten ab, aber wohl anders, obgleich ähnlich wie Putin werden sie nie bestraft.

Also mein Beispiel von Putins Krieg im Spiegel des Westens:

 

Noch einmal: Der Krieg in der Ukraine ist schrecklich. Allzu oft haben wir selber – nicht nur Wladimir der Schreckliche – Kriege gutgeheißen, nicht nur den Irakkrieg. Die fünf westlichen Länder mit den gewaltsamen Konflikten nach 1945, die tatsächlich oder beinahe zu Kriegen geführt haben, sind: Frankreich (mit 28 gewaltsamen Konflikten, abgek.: GKs), das Vereinigte Königreich (mit 27 GKs), Russland (mit 25 GKs), die USA (mit 24 GKs) und Indien (17 mit GKs).

Was sind die Anlässe? Nur ein paar können gelistet werden.

  • Gebietszuwachs
  • Meerzugang
  • Ideologische Konflikte
  • Aufrüstung der anderen Seite
  • Vorbeugung von Aggressionspotential

Was hilft uns aus der Misere? Weder eine Gegenoffensive starten noch ein Ende des Krieges durch Diplomatie. Ersteres brächte ein unwägbares Risiko mit nicht einschätzbaren Opferzahlen mit sich. Letzteres wäre eine Diplomatie, die zum üblichen Repertoire des auswärtigen Amtes gehört. M.E. hilft nur eine Art Diplomatie-Plus, also eine Diplomatie, die auf wirklicher Einsicht und einer effektiven Neuordnung der „befriedeten“ Gebiete aufbaut. Dazu ein paar Überlegungen:

  1. „… Doch die im Dunkeln sieht man nicht“ (Bert Brecht)

Das ist eine Zeile aus Brechts „Dreigroschen Oper“, Gesangsstück „Mackie Messer“. Natürlich sieht man normalerweise die Gangster und meidet die gefährlichen Orte. Was aber die Gangsterbosse entscheiden, die man nicht sehen kann, also im Dunkel bleiben, ist die eigentliche Gefahr. Wer sind die im Dunkel? Passt das auf den Ukrainekrieg?

Die Otto-Brenner-Stiftung (angeschlossen an die Uni Mainz) hat die wichtigsten deutschen Medien untersucht. Das sind Bild, FAZ, Süddeutsche Zeitung, Spiegel, Zeit sowie die Hauptnachrichtensendungen von ARD, ZDF und RTL. Einer der Fragepunkte war: Welche Quelle informiert am meisten über die Partei, die militärische Interventionen ausgelöst hat? Mich interessiert nicht, wer schuld war und wer was tun sollte. Mich interessiert, ob die Information so ausreichend war, dass wir uns wirklich entscheiden können. Hier einige der Ergebnisse aus der Studie:

Interessant, dass Russland eindeutig mehrheitlich die jeweiligen Kampfhandlungen ausgelöst hat. Was warum Russland getan hat, lehnt sich an die Informationen der Ukraine an, kommentierte die Otto-Brenner-Stiftung. Haben die nationalen Journalisten überhaupt die Möglichkeit, in Putins Schatten – es sei denn im Hoheitsgebiet der Ukraine – eine objektive Berichterstattung zu übermitteln?

Mein zweiter Gedanke ist, dass die Nachrichtensendungen des Fernsehens am un kritischsten über den Ukrainekrieg berichten, objektiver als Bild, was etwas heißen will. Vor allem berichten sie nicht über die Tatsache, dass der Westen genügend Kriege vom Zaun gebrochen hat, sich aber moralisch – gab es bei den westlichen Kriegen keine Moral? – überlegen fühlt. Keine Frage? Wir sind die Guten – oder?

  1. Das Darknet der Politik

Warum Darknet? In der Politik wird vieles nicht offengelegt. Etwa die Hintergründe politischer Entscheidungen wie die Lieferung schwerer Waffen, mit denen das Leben der Ukrainer geschützt werden könnte. Ist Olaf Scholz, wie die SZ schrieb, wirklich der kleine Bruder von Joe Biden ohne den Scholz nichts tut, nicht einmal Marder liefert. Will er nicht oder kann er nicht? Wir wissen es nicht.

Etwas tun, obwohl man nicht recht weiß, was die Hintergründe sind und wohin das führt? Einmal abgesehen von dem, was in den Medien berichtet wird und wie wir, die Leser und Zuschauer, das Berichtete verstehen. Und da liegt das Problem in einem Komplex von Kriterien.

Hier meine Skizze.

Kontext Absicht Situation Erfahrung Tradition   >>>  Verstehen

All die Momente, die zum Verstehen führen, sind uns weitgehend unbekannt. Verstehen bleibt somit im Dunkel

Mich beunruhigt eins: Diplomatie bleibt auch im Dunklen. Niemand weiß, was da als Diplomatie eingesetzt wurde. Ist Putin wirklich unzugänglich zu jeder Art von Verhandlungen? Haben sich westliche Teilnehmer von Verhandlungen als »die Guten« aufgespielt oder Putin sich als jemand geoutet, der glückliches Zusammenleben verhindert hat?

Wissen? Wieder einmal: Fehlanzeige. Deswegen ist Transparenz so wichtig. Je mehr offengelegt und mit alltäglichen Worten (und nicht auf Parteichinesisch) verständlich gemacht wird, desto vernünftiger, weil auf Wissen basiert, sind unsere Entscheidungen. Und selbst wenn es zwei Parteien gibt, also diejenigen, die für militärische Interventionen sind, und diejenigen, die für Diplomatie sind, spricht das für Vernunft, weil beides nicht nur das Outing der Schlechtinformierten ist.

  1. Breaking the silence

Die kleinen Schritte der politischen Moral

Der beste Beweis für Geist ist Wissen und Klarheit. Recht hat Francesco Petrarca das geschrieben. Nur geht es beim Ukrainekrieg wirklich um Wissen und Klarheit? Wenn nicht, ist unsere Berichterstattung eher geistlos, würde Petrarca sagen.

Die erste Option der politischen Moral ist: Breaking the silence (= das Schweigen durchbrechen). Schweigen ist Stehenbleiben bei dem, was man besser nicht sagt. Schweigen ist z.B. nicht sagen dürfen/sollen – Vorsicht Whistleblower -, was die Opfer sind, was warum organisiert wird, wieviel Emotion mitschwingt und Rationalität ersetzt, in welche Sackgassen man geraten würde usw. Nur wenn das alles publik werden darf, bekommen alle militärischen Aktionen und insbesondere der Diplomatie den Geschmack der Wahrheit.

Was sind die kleinen Schritte der Verhandlung? Ich berufe mich auf die vergleichbare Diskussion der Rechts- und Politikphilosophin Véronique Zanetti (Uni Osnabrück).

  • Die Wahrheit über die Geschichte kennenlernen
  • Ziele definieren, die man zunächst militärisch durchsetzen wollte
  • Rollentausch, d.h. Kommentieren der Ziele des anderen (z.B. Russen kommentieren die Ziele der Ukrainer und Ukrainer die Ziele der Russen)
  • Keine wichtigen Annahmen über Ziele und Durchsetzungsmethoden für unvernünftig halten und sich selbst als Besserwisser aufspielen
  • Einigung auf eine Verhandlungsprozedur
  • Analyse der Machtasymmetrie
  • Zusammenleben mit anderen für wichtiger ansehen als die eigene Moral
  • Definition einer Berufungsinstanz

Das Erste, was in einem Krieg kaputtgeht, heißt es, ist die Wahrheit. Natürlich sind die realen Kriegsfolgen (Tote, Elend, Hunger usw.) schlimmer, gehören aber in eine andere Kategorie. Aber Wut hilft nicht, weder der kaputten Wahrheit, noch der kaputten Realität. Nur Unterstützung hilft.