Hohe Straße in Köln
Haben statt Sein

Hohe Straße (Köln): Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die in großer Zahl reibungslos funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen, deren Geschmack standardisiert ist und leicht vorausgesehen und beeinflusst werden kann. (E. Fromm)

Hohe Straße in Köln (Foto Arnold Illhardt)
Hohe Straße in Köln (Foto Arnold Illhardt)

Es sei der kürzeste Weg, antwortet ein junger Mann auf meine Frage nach einem bestimmten Ziel in Köln. Und damit meinte er die Hohe Straße, die Shoppingmeile No. 1 in der Domstadt. Nun lebe ich nicht im Wald, somit sind mir Einkaufsstraßen durchaus geläufig, doch schon nach kürzester Zeit stellt sich bei mir ein Gefühl ein, dass ich das letzten Mal beim zufälligen Durchqueren des Bielefelder Partyboulevards verspürte: existenzielle Leere. Es ist ein in-die-Masse-Geworfensein, das mir die Luft zum Atmen, zum Fühlen und wohl auch zum Denken nimmt. Man wird hier getrieben, hin- und hergestoßen, gedrängt und von jeglichem Selbst befreit. Das Ich existiert hier nur noch als ausgedörrte Persönlichkeitspelle, die verwahrlost aus den Augenhöhlen baumelt. 2015 zählte man 11.190 Passanten pro Stunde auf dieser Zeile des Konsumterrors. Mir scheinen diese 11.190 Personen just in diesem Moment zugegen zu sein und etwas erinnert mich ihr Entgegenströmen an eine Autofahrt bei eingeschaltetem Fernlicht im ärgsten Schneetreiben.

Mir tuen plötzlich Aliens leid!

Vielleicht fällt es meiner in die Tage gekommenen Wahrnehmung etwas schwerer, aus dem Gesamtbild Einzelheiten zu lösen, denn erst nach und nach gelingt es mir, all den entsetzlichen Krach, all das Stimmgewirr, all die optischen Einschläge zu minimieren und dem Ganzen Detailaufnahmen zu entlocken. Das Ganze ist ja immer mehr als die Summe der Teile. Auch auf die Gefahr hin, aus der temporären Entschleunigung grob herausgerissen zu werden (Verweilen ist hier nur den unzähligen, auf dem Boden kauernden Bettlern vorenthalten), verringere ich meinen Schritt. Da das dichte Nebeneinander der sogenannten Flagship-Stores enorm ist, was bei den horrenden Ladenpreisen nicht verwundert, hat der potentielle Bummler ca. vier Sekunden Zeit, um einen Soundfetzen, der aus den Ladenboxen wummert oder schräpt, von dem nächstfolgenden zu unterscheiden. Unbedarft Nebenbeihörende könnten denken, wenn sie es denn täten, alle Geschäfte würden von ein und derselben Musik beschallt, doch der zuhörend Anwesende merkt alsbald: Das sind verschiedene Sequenzen. Verschiedene Sequenzen eines industrialisierten Musiksurrogats, bei dem es nicht mehr um Zuhören geht. Es ist der Soundtrack zum Konsumieren. Fahrstuhlmusik der Moderne, nur kakophonischer.

Ich meckere nie wieder über Andrea Berg!

Doch auch die akustische Kulisse ist nicht das, was mich schon nach kürzester Zeit überfordert, physisch wie psychisch, sondern es sind die Menschen. Es ist ihr getriebenes, unreflektiertes und vom Ich entkerntes Sein. Viele von ihnen, vor allem die jungen erinnern mich an Bluthunde, abgerichtet auf die konsumgerechte Hatz. Ich schaue in nichtssagende Gesichter, leere Augen, die nur für einen Moment aufblitzen, wenn sie die Fährte aufgenommen und den Tand in den Auslagen gerochen haben. Sie sind abgerichtet auf Schnäppchenjagd, nach all dem Ramsch, der billigproduziert und in überteuerter Wertlosigkeit die Regale und Kleiderständer zum Bersten bringt. Und dabei folgen die Konsumjäger einem universellen Code, der das Haben zum Sein macht.

Das höchste Ziel im Habenmodus ist MEHR HABEN. Und davon kann man gar nicht genug haben. Scheint mir!

Etwa zeitgleich lese ich einen Artikel von Sibylle Berg: „Auf einmal sollten Menschen nicht mehr irgendwie sein, sondern sie mussten total und unbedingt individuell sein, und dieses Gefühl der Einzigartigkeit mit dem Erwerb von Produkten sichtbar machen. Milliarden individueller Menschen tragen jetzt also irgendwelche aussagekräftigen Scheißturnschuhe, Jacken, Mützen, Kopfhörer – sie warten in Schlangen auf irgendwelche neuen Scheißturnschuhe und erleben einen Moment der Gemeinsamkeit mit anderen Individualisten. Der verliert sich zum Glück wieder schnell, dieser Moment. (Spiegel-Online 4.3.2017)

Auf einer Uhrenwerbung finde ich Worte – wie gesucht: Wer sich ständig mit anderen vergleicht, wird vor allem eines – gleicher. Nur das nicht!

Und in all den Scheißturnschuhen und -shirts mit Glitzerapplikation und ganzoberkörperabdeckenden Logos der umsatzintensiven Geschäftsketten, für die die Käufer als Werbeträger fungieren, sehen sie aus – Männer wie Frauen -, als seien sie geklonte Lebewesen einer aus den Fugen geratenen Zellsubstanz. Mutationen, die ihre Lebensmottos freiflottierend offen oder symbolisch vor sich her tragen: Schlafen, Smartphone glotzen, Burger fressen, arbeiten, konsumieren, koitieren, fernsehen, schlafen. Und in all den vereinheitlichten, normierten Lebensabläufen Kommunikationen auf Teletubbie-Modus: Ach du heilige Scheiße, ey Alter, Laughing My Ass Off. CU!

On Repeat #∞

Da drängen sich unzählige brustumwobene Nippel, gepierct und naturbelassen, durch plastinierte Oberteile und Hinterbacken zittern rhythmisch beim Schlendern in den semitransparenten Leggins. Doch von Sexappeal keine Spur; bei Tausenden gleichgeschalteten Brüsten hört der Reiz auf; es sind nur noch kalt gestellte Eindrücke in Endlosschleifen. Nur hormongesteuerte, gelbehaarte Jungmänner geifern hinter den Wackelärschen her und imitieren in ihrem Gangstil goldkettenbehängte Rapper. Dabei wähnt man sich eher in der Urologie: postoperatives Gehverhalten nach fortschreitender Hodentorsion. Die analogmaskulinen Wesen tragen coole, inhaltslose Gesichter mit tiefergelegten Trieben vor sich her; die Zigaretten hängen malboroesk aus den ausdrucklosen Mundwinkeln. Augen hinter reflektierenden Sonnenbrillen, Typen wie aus einem Guss. Da gibt es keine Abweichungen, da ist der Trend das Muss. Und selbst Abweichungen sind bereits im Trend inbegriffen.

Alles total berechenbar.

Dann und wann lande ich bei Ausweichmanövern in Geschäftseingängen, rieche den Geruch von Plastik und Kinderarbeit und es verwirrt mich, dass es im Hamburger Point genauso stinkt wie im Sushiladen. Alles vereinheitlicht, alles verdichtet auf blanken Kommerz. Für einen Moment denke ich an Revolution. Stalin meinte, die gäbe es nicht in Deutschland, da man dazu den Rasen betreten müsste. Nein, Revolution wird es nicht geben, weil man das Shoppen unterbrechen müsste. Es reicht ja schon, dass man sonntags den Hahn des sinnbringenden Lebenselixiers abdrehen möchte.

Es gibt übrigens auch eine crazy Makeup Marke Revolution. Ist denen denn nichts heilig?

In einer Seitenstraße, die ich später als Fluchtmöglichkeit nutze, parkt ein weißer Ferrari (meine Frau meinte, es sei ein schwarzer Maserati gewesen), als sei sein Vorhandensein der bebende Höhepunkt der Hohen Straße, sozusagen die Krönung kommerzieller Sinnhudelei. Mannsbilder rotten sich um das Gefährt, und spüren den verlängerten Schwanz sich ihrer bemächtigen. Ach, es ist alles so vorhersehbar, so klischeebehaftet, denn selbstredend setzt sich betont gequält dreinschauend ein urbaner Hipster ans Steuer und bietet den Orgasmus des heutigen Tages: Das Röhren des Motors, das Getöse des Auspuffs und das Beschleunigen sind das verspritzte Ejakulat auf dem ausgetretenen Kopfsteinpflaster.

Und dann Ruhe – frei von Sex, Ferraris und Primark-Gestank.

Zum Zeitpunkt meiner Beobachtung bin ich leicht angeschlagen: ein grippaler Infekt hat meine Sinne betrübt und meine Geduld mit den Menschen verhagelt. Vielleicht war alles ganz anders; vielleicht war alles noch schlimmer.

Ich - überall (Foto Arnold Illhardt)
Ich – überall (Foto Arnold Illhardt)