Religionskritik
oder der Mensch im Abseits und seine Lebensgeschichte(n)

Religionskritik wird umso wichtiger, je mehr der Mensch eine immer geringere Rolle spielt. Es ist zu wenig, sich in eine von oben – oder besser, um die Machtkomponente der Religionen hereinzuholen: in eine top down – regierte Welt zu flüchten. Lebensgeschichten rekonstruieren das.

Pater (Foto Johanna Scherle-Illhardt)
Pater (Foto Johanna Scherle-Illhardt)

Ein Freiburger Pfarrer schlenderte Brevier betend und meditierend über den Schlossberg. Da kam er an einem Weinberg vorbei. Voll frommer Gedanken sagt er dem Winzer: Mein Sohn, da hat der HERR Dir einen schönen Weinberg geschenkt. Der Winzer antwortete: Hochwürden, Sie hätten den Weinberg mal sehen sollen, als der HERR hier noch allein wirtschaftete.

Was macht das Witzige an diesem Witz aus? Es erleichtert uns und lässt uns schmunzeln, wenn jemand (nicht nur) den Pfarrer – sagen wir: wirkliche oder selbsternannte Autoritätspersonen – auf die Schippe nimmt. Und wenn er klarmacht, dass der Mensch sehr wohl in der Lage ist, selbständig und selbstverantwortlich zu handeln. Er braucht keine himmlische Mutstütze.

Braucht man für diese Erfahrungen die Religion? Sicher nicht. Aber eine andere Perspektive ist genauso überzeugend:  Viele gelten als Atheisten, die eher humane Ansichten haben und einen liberalen Eindruck machen. Der Münsteraner Theologe Rahner bezeichnete sie darum gern als „anonyme Christen“. Atheismus im Christentum? Schlimm, was Voltaire, der große atheistische Spötter gesagt haben soll: „Ein bisschen Blut im Urin, und der Atheist geht beten.“ Religion darf nicht Lückenbüßerreligion werden.

Was machen Religionen dann? Drei Erfahrungen: Erstens, Religionen schärfen die Aufmerksamkeit für Probleme der Menschen. Zweitens, man kann sie als Dialog des Menschen mit seiner Größe sehen. So der frühere französische Kommunist Roger Geraudy (bekannter als Schriftsteller und linker Philosoph) im Disput mit christlichen Religionen. Beides ist für mich und andere sehr überzeugend. Und drittens,  Religion sollte (leider ist sie das nur selten) die „Logik des menschlichen Betonrealismus“ (S. Lewitscharoff) begrenzen.

Mein biographisches Problem: Ich war Ordenspriester und Dozent in einer katholischen Akademie. In den 70er Jahren debattierte man über ein neues Gesetz zum Schwanger-schaftsabbruch. Die katholische Kirche bekam Bundeszuschüsse, weil eine entsprechende kirchliche Beratung vorgesehen war. Mein Interesse an Moral führte dazu, dass ich zusammen mit einer Psychologin den Zuschlag erhielt für einen beruflichen Fortbildungskurs der sehr intensiven Art (Dauer: 3 Jahre berufsbegleitend, Referenten aus Psychologie, Soziologie, Gynäkologie und Theologie sowie Kurse in Gruppendynamik und kursbegleitende Supervision). Teilnehmer sollten Schwangerschaftskonfliktberater aus der ganzen Republik sein. Man erwartete Power auf die moralische Hinterachse.

Stattdessen bekam ich eine andere Rückmeldung: Teilnehmer berichteten ihren Direktoren über diesen Kurs, und einige Direktoren beschwerten sich bei ihren Bischöfen über diese liberale Moral und ihren kirchenfernen (wirklich?) Klang. Ob jemand für oder gegen Abtreibung ist, spielte m.E. eine geringere Rolle als gute Argumente und einfühlsame Entscheidungsfindung. Religion hat damit zu tun, den Menschen und seine Probleme ernst zu nehmen. Alles andere ist fromme Folklore. Ich gab meine Rolle als Ordenspriester und Dozent auf. Danach fiel ich für eine Zeit in ein Loch. Habe ich diejenigen im Stich gelassen, die mehr Freiheit in ihrer Religion brauchten? Sollte ich mich total distanzieren oder zurückrudern? Oder habe ich das Recht (theologisch gesehen eher nicht), mir meine Art Religion zusammenzubasteln? Eine (später: „meine“) Frau gab mir wieder Boden unter die Füße.

Welt als Blaupause? Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. Genf. (Foto Johanna Scherle-Illhardt)
Welt als Blaupause? Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. Genf. (Foto Johanna Scherle-Illhardt)

Dahinter steckt eine eigenartige Entwicklung. Natürlich war mir die Spur vorgegeben, aber das ist ebenso oder so ähnlich bei vielen. Wut auf Religion hat mich gelehrt, dass in vielen Menschen etwas steckt, was wir nicht sehen. Eine seltsame Beobachtung. Nicht nur in den Religionen spielt der Mensch eine sehr untergeordnete Rolle, auch in religionsfernen Bereichen. Hier einige Beispiele: Nicht der kranke, vielleicht sogar schwerstkranke Mensch steht im Zentrum, sondern das wirtschaftlich-technische Funktionieren einer Klinik und das Ethos der Helfer. Brisante Themen wie Lebensbeendigung, Stammzellenübertragung, Organtransplantation usw. sind nicht Sache des Betroffenen, sondern werden von anderen entschieden. Nicht der Mensch steht im Mittelpunkt der Politik, sondern der Machtanspruch der Parteien. Nicht die Altersarmut zählt, sondern wirtschaftliche Interessen bevorzugter Gruppen zählen. Nicht die Zukunft jüngerer Generationen ist uns wichtig, sondern die Zukunft der Geldanlagen. Unsinn gibt’s auch ohne Religion und andersherum: Religion verhindert keinen Unsinn.

Nehmen wir als Beispiel die Religionskritiken (begrenzt auf die christliche Religion und das 19. Jahrhundert) von den wohl bekanntesten Denkern: Marx, Freud und Nietzsche. Alle revoltierten sie gegen den Verrat des Menschen. Die drei in aller Kürze: Marx beklagte die Entfremdung des Menschen, indem er der Religion vorwarf, religiöse Blumen an die Kette des Menschen zu stecken, ohne ihn zu befreien. – Freud hielt die Moral für eine Speicherung von Regeln, die das Kind in den ersten Jahren lernt und leider allzu oft für sein ganzes Leben internalisiert. Das „Eiapopeia vom Himmel“, so schrieb er zornig, verhindert, die erlernten Regeln der jeweiligen Situation anzupassen oder gar aufzugeben. – Nietzsche sah das Problem der Religion darin, dass der Mensch seine innere Größe nicht verwirklichen darf und so hinter seinem Ziel sich selber und die Abgründigkeit seines Daseins verfehlt. Der Satz „Gott ist tot“ ist seine Konsequenz.

Übrigens, vor Jahren habe ich eine Predigt gehört, in der Nietzsches berühmtes „Gott ist tot“ und die theologische Reaktion darauf (damals sehr modern) eine Rolle spielte. Am Portal standen rechts und links ein steinerner Löwe. Ein Kind, das von der Predigt nur Bruchstücke verstanden hatte, fragte seine Mutter beim Rausgehen, ob der Löwe am Ausgang den lieben Gott gefressen hätte. Leider habe ich die Antwort nicht mitbekommen. Fressen Löwen Götter? – Religionskritik als Nahrungsergänzungsmittel – das wäre doch mal was Neues …

Es gibt auch viele aktuelle Kritiker der Religion, so z.B. Imre Kertész: Als ungarischer Jude geriet er 1944 mit 14 Jahren über das KZ Auschwitz nach Buchenwald. Als die Alliierten die deutschen KZs befreiten, war er  total desorientiert, fühlte sich zugleich aber gefangen durch die Erfahrung von Grausamkeit. Er bekam 2002 den Literatur-Nobelpreis. Religionen hatten ihm niemals geholfen, und er blieb dabei, sie abzulehnen. Zum Thema Gott schrieb er in seinem Galeerentagebuch: „Es ist, um Gottes willen! doch nicht wichtig, ob es ihn gibt oder nicht, sondern einzig und allein, warum wir glauben, daß es ihn gibt oder nicht gibt.“

Um auch den Islam ins religionskritische Boot zu holen: Kamel Daoud hat ein vielgerühmtes Buch geschrieben „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“. (Camus‘ Stoff: Meursault als versehentlich ermordeter Algerier). Darin der Satz: „Die Religion ist für mich wie öffentliche Verkehrsmittel, ich benutze sie nicht. Ich bewege mich gern hin zu Gott, auch zu Fuß, wenn es sein muss, aber nicht in einer organisierten Gruppenreise.“ Daoud bekam die Fatwa. Mit organisierter Gruppenreise meint er das Freitagsgebet, den Ramadan usw.

„Mit der Freiheit flirten, aber mit der Tyrannei schlafen“? So hinterfragte Kertész Camus‘ Problem der Atheismus-Revolte, meines auch. In der Religion, in der ich groß geworden bin und der ich wieder, aber nicht total identifiziert angehöre, regen mich zwei Dinge auf: Die abstruse Sexualmoral, zum anderen – damit zusammenhängend –  die Rolle des Menschen.

Nahe beim Müll? Antikmarkt in Saint Louis, Frankreich (Foto: Franz Josef Illhardt)
Nahe beim Müll? Antikmarkt in Saint Louis, Frankreich (Foto: Franz Josef Illhardt)

Zunächst die Sexualmoral. Wir denken an Familienplanung, Abtreibung, Scheidung, Homosexualität usw. Man darf das alles nicht vom ideologischen Standpunkt aus sehen. Man muss es vom Strandpunkt dessen sehen, der sich für eine bestimmte Art des Lebens und Zusammenlebens entschieden hat und sich Gedanken gemacht hat, warum er das tut. Auf das Warum gibt es tausend Antworten. Aber eine Antwort wird oft angeblich humanwissenschaftlich gesichert – Humanwissenschaften finden nur zu oft die Ostereier, die sie sich selbst versteckt haben und möbeln gern Religionen auf. Das alles – und mag es noch so religiös sein – ist Unfug. Um es biblisch ausdrücken und ein powerplay gegen das Christentum der Kirchen zu vermeiden: Moral ist für die Menschen da, und nicht der Mensch für die Moral – sagt der Evangelist Markus (prüfen? Mk 2, 27). Wie konnte man das übersehen? Haben die Religionskritiker fromme Verbündete?

Mein zweiter Kritikpunkt ist die seltsame Konstruktion im Glaubensbekenntnis der Kirche(n): Das so ungeheuer wichtige Bekenntnis zum Menschen kommt da nicht vor, obwohl es in der Bibel davon wimmelt. Stattdessen legt man hohen Wert auf die Jungfrauengeburt. Warum diese verklemmte Anthropologie? Und warum die Schwächung der Rolle des Menschen? Es wäre großartig, wenn ein menschlicher Akt – mäßig fromm ausgedrückt: ein menschlicher, von Gott bevollmächtigter (echt?) Akt – eine epochale Bedeutung bekommen würde. Aber nein, meinen  – im Gegensatz zur Bibel – die Kirchen, dass der Mensch nichts Bedeutendes zu Wege bringt, es sei denn: Gott ist am Werk? Protest! Also:

Nicht den Kopf „in den metaphysischen Sand“ stecken (F. Nietzsche)

Bei der Notierung dieser Gedanken kam mir der alte Fassbinder-Film „Angst essen Seele auf“ in den Sinn. Eine 60jährige bayrische Putzfrau lernte einen 20 Jahre jüngeren marokkanischen Mann (sein Ausspruch wurde Filmtitel) in einer Kneipe kennen und lieben. Das große Missverständnis der Umwelt wegen dieser seltsamen Beziehung war der Auftakt

einer schwierigen Leidenszeit der Beiden. Der Trauschein verbesserte die Lage zunächst. Aber dann begannen die Eheprobleme und Kulturprobleme der Beiden. Der mutige Schritt der älteren Frau bestand darin, dass Beide die ungleiche Beziehung bejahten, aber jeder dem anderen die Freiheit einräumte, die er brauchte, um gut und einigermaßen glücklich leben zu können, weil man sich “brauchte“. Man bedenke, dieser Film war von 1974.

Beeindruckend war dieser Film, weil beide die Schwierigkeiten nicht einfach umgingen und sich nicht einfach in das übliche Normschema flüchteten. Sich in Normen flüchten ist eine der dunklen Ecken, die uns die Gesellschaft – also wir – bereithält. Es gibt Alternativen. Man darf nur die Schwere des Daseins nicht religiös verbrämen – dieser Gedanke stammt übrigens von dem anfangs erwähnten Theologen Rahner. Er wagte sogar die religionskritische These, dass Welt-Gestalten so etwas wie Gott in die Welt-Bringen bedeutet. „Die vergänglichen Dinge sind tiefer als die ewigen.“ (Kertész)

„Mir reicht's. Ich geh' beten“. Meine Interpretation einer Skulptur aus dem Chorgestühl in der Abbaye de Fontenay. Foto: Johanna Scherle-Illhardt
„Mir reicht’s. Ich geh‘ beten“. Meine Interpretation einer Skulptur aus dem Chorgestühl in der Abbaye de Fontenay. Foto: Johanna Scherle-Illhardt

„Schwere des Dasein“ bedeutet nicht nur einen elenden Zustand. Nietzsche prägte ganz im Gegenteil die Formel: „Lust will Ewigkeit, tiefe, tiefe Ewigkeit“. Ähnlich  schrieb Kertéz: „Das Göttliche spiegelt sich in der Freude“. Freude ist kreativ. Wer die Freuden – dann auch die Leiden – des Lebens wirklich ernst nimmt, sieht hinter den Dingen Mehrwert und Bedeutendes, nicht nur das „es ist, wie es ist“. Ist das Religiöse dann nicht eine Art Treue zur Realität?

Treue zur Realität? Man stelle sich darunter nichts Mystisch-Abgehobenes vor. Treue zur Realität ist: Bei den Dingen-Bleiben, ein Gesetz des Zen, beinahe wortgleich bei Meister Eckhard, leider exkommuniziert, der den feinen Unterschied machte: Nicht in den Dingen aufgehen, sondern bei den Dingen bleiben. Also zur Zen-Regel: Schüler fragen den Meister, wie man meditieren kann, ohne gedanklich abzudriften. Die Regel ist ganz einfach: Den Augenblick auskosten, z.B. duschen und nicht überlegen, was man gleich anzieht. Sich anziehen, ohne zu überlegen, was in der Arbeit  als erstes auf einen zukommt … Man konzentriert sich auf nichts wirklich, Gegenwart ist später. Nichts hält man für so bedeutsam und wertvoll, einen Moment dabei zu verweilen. Dabei ist Wasser schön. Sich anziehen auch. Aufgaben bei der Arbeit auch (gemeint sind nicht die Chefs) … Treue zur Realität ist möglich.

W. Benjamins Gedanken fand ich großartig. Halb Neomarxist, halb Zionist, gefangen von den Nazis, erhoffte er hinter allen Dingen die erlöste Menschheit und hinter allem eine freie Wirklichkeit: hinter Musikorgeln auf dem Marktplatz, hinter Melancholie, hinter Dingen des Wohnens, hinter dem Flanieren in schönen Städten usw. Sein Satz, jenseits der bierernsten Religionskritik, war imposant „In den Rüschen eines Brautkleides ist mehr Metaphysik als in allen Religionen“. Es wäre schlimm, wenn wir uns von Religion verabschieden, ohne die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit und die bedeutende Position des Menschen darin wahrzunehmen.

Religionsgemeinschaften verführen leicht zum Ausbruch aus der Realität, aber wer Religion – vor allem nach kritischer Betrachtung – ernst nimmt, nimmt die Schwere des Daseins  ernst. Wer religiös sein will, tut, was sein Leben zumindest für ihn und viele Mitmenschen bedeutend macht. Religion hat nichts mit Eskapaden in höhere mythische Sphären zu tun. Sind das etwa Trumps alternative Fakten? Um Gottes willen!