„Erst denken, dann schwätzen“
Redekultur im Deutschen Bundestag

Mit dem Satz „Erst denken, dann schwätzen“ reagierte der Baden-Württembergische Ministerpräsident sichtbar erbost über Parteilinien-Gerede. So die lokalen TV-Nachrichten. Mir leuchtet sein Kommentar ein. Es gibt in der Politik vor allem in der Flüchtlingsfrage viele, die schwätzen, bevor sie denken.

 

„Schwätzen“ – so im Kommentar von Kretschmann – bedeutet im Schwäbischen einfach „reden“. Die politischen Vorschläge, auf die Kretschmann wütend reagierte, waren zum Beispiel: Wie und wo registriert man Flüchtlinge? Was ist damit gewonnen? Wie und wo bringt man sie unter? Darf man einem Parteifeind wie Angela Merkel Recht geben? Schlimm daran ist, dass man solche Fragen parteiideologisch klärt und nicht mit Nachdenken, etwa mit Problemanalyse.

Warum diese Überschrift? Es geht nicht um grüne Politik.  Erst recht nicht um einen wesentlichen Beitrag zur Flüchtlingspolitik. Stattdessen soll das aufs Korn genommen werden, was in dieser Politik zu kurz gekommen ist, es soll – bewusst vergröbert – das sehr ärgerliche Denkdefizit in der Politik herausgesellt werden. Die Agenten der Politik, die Politiker, sehe ich als Vollstrecker einer Politik, die einen grundlegenden Webfehler hat: sie lässt ihre Agenten reden, aber nicht denken. Gibt es nach der Ärzte-Schelte, dem sog. doctors-bashing, eine Politiker-Schelte?

Nebenbei: Ich mag Kretschmann, weil er – was man einem Biologielehrer auch nicht anders zutrauen würde – klar und analytisch denkt, z.B. pro Asyl unterstützt usw. Versuchen wir zu zeigen, wo Politik am Denken vorbeigeht – aber trotzdem in ihrem Namen politische Reden geschwungen werden. Übrigens, ich gehe zwar regelmäßig und sehr blauäugig zur Wahl, habe aber bisher immer die falsche Partei gewählt, weil sie sich alsbald als gedankenlos, aber redefreudig offenbarte.

Wenn ich Kretschmann richtig verstehe, entpuppen sich manche Probleme als Scheinprobleme, weil man parteichinesich redet, aber das  Problem nicht analysiert. Wir erwarten keine Lösungen, wohl ernsthaftes Nachdenken. Immerhin traf das Problem alle, nicht nur die Politiker, auf dem linken Fuß, aber manche, die Besserwisser und Problemverkürzer, tun so, als hätten sie den Durchblick. Es gibt Menschen, die behaupten: Das schaffen wir. Aber es gibt auch Menschen, die Angst haben von diesem angeblichen Strom, vor allem wenn ungenaue (es gibt keine klaren Daten und kann es nicht geben) Angaben diese Angst verstärken. Politik gerät mehr und mehr zum Schlagabtausch statt zur Promblemanalyse, sie gerät in den Sog des Irrsinns.

Versuchen wir es hintersinnig und ironisch. Der folgende Vergleich stammt von einem bayrischen Kabarettisten.  Es geht bei uns allen ja um das „Wer bin ich“. Der Philosoph René Descartes – aber wie gesagt: keine Philosophie! – ging in die Geschichte ein mit seinem berühmten Satz: “Ich denke, also bin ich (berühmt lateinisch als cogito ergo sum)“. Er konnte natürlich nicht mit dem von Seehofer gern benutzten bayrischen „mia san mia“-Gefühl rechnen. Descartes war Philosoph und nicht Wahrsager oder Politiker. Die von Seehofer und der CSU strapazierte Volksseele drückte das wesentlich simpler aus mit ihrem volkstümlichen „mia san mia“. Die Folgerung daraus: Die CSU (wie viele andere politische Organisationen) kommt ohne Denken aus.

Politik-Schelte ist en vogue, aber trifft sie auch? Ich versuche eine Analyse. Es ist ein Zeichen von Verblödung, wenn man „schwätzt“, bevor man denkt. Hier die wichtigsten Denkdefizite:

  1. „Die Partei, die Partei, die hat immer Recht“ 

… so die Lobeshymne der SED-Führung der früheren DDR. Peinlich daran ist, dass auch andere diktatorische oder zumindest ideologisch geprägte Systeme diesen Slogan zwar verdeckt halten, aber, wenn man näher hinsieht, internalisiert haben. Wie kann man am besten immer Recht haben? Indem man immer die anderen Fehler machen lässt. Dann steht man als makellos da.

An den großen Parteitagen der SPD und der CDU wurde natürlich über das Flüchtlingsproblem diskutiert. Das Parteivolk erwartete gereizt eine Antwort auf die Frage, wie das Problem zu lösen sei, aber was kam? Die große Versöhnung von Merkel und Seehofer mit kompromisslerischen Pseudo-Lösungen. Beim SPD-Parteitag wurde ebenfalls keine Lösung präsentiert, sondern der Parteichef Gabriel abgestraft.

Beide Parteitage haben – zumindest in diesem Punkt – das Denken vergessen, ihnen ging es im Wesentlichen um Parteiräson, sogenannte Parteilinien, nicht um Problemanalysen – so die Karikatur aus der Badischen Zeitung vom 13.10. 2015. Übrigens, die Aufgabe der Regierung ist nicht identisch mit der Aufgabe einer Partei, auch bei einer Regierungskoalition nicht. Es geht nicht darum, welche Parteiparolen durchgesetzt werden, sondern wie der sogenannte Souverän, das Volk, mit seiner Angst, aber auch mit seiner Zuversicht leben und zurechtkommen kann. In einer Betreuungsgruppe für Flüchtlinge in meinem Heimatort hört man sicher nicht auf das, was die Parteien sagen, das irritiert nur.

  1. Machtfragen passen nicht zum Denken

Politiker seien Machtmenschen, analysiert F. Ott in der Zeitschrift für Politikwissenschaft (12/2015). Das Ergebnis überrascht nicht, wohl aber die Präzision der Analyse einer Politikerbefragung mit dem psychologischen Strukturtest. Was sind Merkmale der Macht, was noch nicht bzw. nicht mehr (z.B. schon Gewalt? Mein Grundproblem ist, dass Ausüben von Macht nichts mit Denken zu tun hat. Denken setzt auf die stärkeren Argumente. In der Politik scheint das anders zu sein, stärkere Argumente hat der, der Macht hat.

Die Süddeutsche Zeitung (2./4. Okt. 2015) zitierte im Beitrag zur Flüchtlingsfrage „Wir sind am Limit“ den stellvertretenden Vorsitzenden der SPD. Die Bürger behielten, so meinte er, „nur dann Vertrauen in die Politik, wenn der Staat handlungsfähig bleibt“. Die Aussage ist abenteuerlich. Keine Rede vom Vertrauensverlust aufgrund von Politikverdrossenheit, nicht gehaltenen Wahrversprechen, Geldverschwendung usw., die den Verlust des Vertrauens in die Politik herbeigeführt haben könnte.  Vielleicht beruht die Handlungsunfähigkeit der Regierung ja auf der immer wieder demonstrierten Denkunfähigkeit der Politik. Ist die angebliche Sorge um den Vertrauensverlust der Bürger nicht eher fokussiert auf die Wiederwahl der Partei, also Machtinteresse statt Denken?

  1. Denken, ohne nach den Ursachen zu fragen, ist Unfug.

Interessant ist, dass seit einiger Zeit Flüchtlinge aus Afrika nicht mehr erwähnt werden, auch wenn es zigtausend davon gibt. Viele von ihnen gelten jetzt als Wirtschaftsflüchtlinge, die man in Europa nicht haben will. Aber was sind die Ursachen für die Perspektivlosigkeit jener Menschen, denen nichts mehr übrig blieb als die riskante Flucht? Was immer verschwiegen wird – auch denen verschwiegen wird, die Angst haben -, dass die Ursachen der Flucht viel mit dem Desaster zu tun haben, was die europäischen Kolonialmächte etwa in Afrika, sogar noch in jüngster Zeit nach der offiziellen Beendigung der Kolonialsysteme, angerichtet haben: Ausbeutung von Bodenschätzen für westliche Industrien, Ausbluten der Emanzipationsversuche in den afrikanischen Ländern …, um nur die bedeutenden Eckpunkte zu benennen. Jean Ziegler hat für diese Ideen- mögen sie auch übertrieben gewesen sein – in der Schweiz Gerichtsprozesse durchfechten müssen und verloren.

Nicht zu vergessen: Unser resignierter Bundespräsident Horst Köhler hatte Afrikas Wirtschaft zum präsidialen Programmpunkt machen wollen. Aber dann gab er auf – manche sagen: Dank Merkel, andere sagen, er sei zu empfindlich gewesen.

Zaun mit Stacheldraht

Stacheldraht[ (Foto A. Illhardt)
Stacheldraht[ (Foto A. Illhardt)
Und die Flüchtlinge aus Syrien? Die Ursachen zu bekämpfen, wird von vielen Politikern gefordert, aber ihnen fällt bestenfalls ein, dass die Zäune erhöht werden sollten. Soviel Trivialität ist nahe am Schwachsinn. Das Problem ist lange – der Krieg dauert jetzt fast 5 Jahre – bekannt, auch die Problemebenen, etwa der Aufstand des syrischen Volkes, das Aushebeln der Opposition durch den IS, die Unterstützung Assads durch die Russen, durch  Saudi-Arabien und den Iran. Auch vom Ausland (vor allem Saudi-Arabien und Iran) wird der Konflikt von Sunniten (inklusive Wahabiten und Salafisten) und Schiiten geschürt, aber unsere Politik hält nicht einmal einen Plan bereit.

Jetzt ist das Problem so hochgekocht, dass  Interventionen weder effektiv, noch möglich sind. Aber Ursachen des Konflikts bedeutet natürlich auch Vermittlung von Interessen. Das aber würde Denken als Problemanalyse voraussetzen. Nur, kennen wir die Problemursachen? Politiker bekämpfen gern, was sie nicht kennen, was so wirksam gegen Gespenster ist wie das Pfeifen im Wald. Also wieder einmal kein Denken, stattdessen Stacheldrahtfantasien. Das also ist die Konsequenz des Kausaldenkens unserer Politiker. Sie sollten dafür mit einer Diätenerhöhung belohnt werden.

  1. 4. Volkswirtschaftliches Rechnen darf nicht an der Oberfläche bleiben

10 Milliarden Euro wurden, so sagt man, für Flüchtlinge ausgegeben. Leider sagt man nicht, dass ein großer Teil dieses Geldes für inländische Angestellte ausgegeben wird, die nur angestellt wurden, weil es dieses Flüchtlingsproblem gibt. Sonst wären sie arbeitslos. Jetzt bringen sie zumindest Steuern in die Bundeskasse, sonst hätten sie nur was gekostet.

Denken wir auch an ein weiteres Beispiel: Druckerzeugnisse. Man drückt sie Kursleitern für Flüchtlinge in die Hand, etwa Texte mit englischen Untertiteln. Aber von den 75 Flüchtlingen in meiner Heimatstadt gibt es nur 5 Männer, die Englisch können. Wem helfen diese Erzeugnisse? Sicher nicht den Kursleitern und Flüchtlingen, wohl dem Verlag und dann auch dem BIP.

Ein anderes Beispiel: Das gedruckte, und leider nicht erklärte Wort „Tja“ ließ die Flüchtlinge in meinem Kurs an einen Mädchennamen denken. Warum die Menschen erst in die Irre schicken? Mich hat dieser Unfug wütend gemacht. Gott sei Dank war ein Lehrer dabei, wenn auch nur ein ehrenamtlicher. Das betrifft nicht die Politik, warum eigentlich nicht? Sind ihre Agenten etwa zu sehr mit Denken beschäftigt?

Der Flüchtlingsstrom in Deutschland hat auch volkswirtschaftlichen Nutzen. Auch das sagen Politiker selten. Erst denken, dann schwätzen?

5. Denken kümmert sich um Betroffenheit

Schwatzen (Foto A. Illhardt)
Schwatzen (Foto A. Illhardt)

Lassen wir, wie oft nicht nur von Politikerseite behauptet wird, die Deutschen wirklich alleine – mit ihrer Angst zum Beispiel? Ja. Keiner nimmt ihnen die Angst. Die selbsternannten Korankenner kennen meistens weder die Bibel noch den Koran. Komisch, dabei hat man den Eindruck, die Politiker wüssten wenigstens das. Der Deutschlandfunk interpretiert einmal pro Woche drei Suren interpretiert von einem Islamwissenschaftler. Ein Schnellehrgang für Politik? Kann man Angst nehmen, wenn man wenig Ahnung von der Sache hat? Warum reden alle von der Flüchtlingskrise, nicht von der Flüchtlingschance?

Übrigens, Ehrenamtliche werden sehr selten von den Medien und den Politikern erwähnt. Dass Flüchtlinge auch eine Chance für Altruismus sind, wird auf diese Weise verheimlicht. Wie es aussieht, gehen Freiheit und Einheit Europas in die Brüche, was wir sicher nicht nur dem IS zu verdanken haben, sondern auch der inneren Verblödung unseres Europas, das sich eher um den Krümmungsgrad des Stacheldrahts kümmert als um unsere Freiheit und Einheit.

Nennen wir die Betroffenheit beim Namen: Wir sind betroffen,

* weil wir mit der Fremdheit unserer Flüchtlinge auch das Wahrnehmen des Fremden in uns selber verlernen.

Das Fremde in uns wird leider oft auf Nebensächliches – etwa aus Aggressivität wird Gereiztheit (und wer kennt die bei sich nicht?) – reduziert, damit Fremdheit bei anderen umso deutlicher hervorsticht und abgelehnt werden kann.

* weil Fremde, also auch Flüchtlinge, nicht akzeptieren vor allem bedeutet: Grenzen nicht überschreiten, das heißt dahinter stecken bleiben.

Wer Flüchtlinge als Ballast betrachtet, übersieht, dass wir, auch wenn die EU (noch) offene Grenzen hat, Gefangene unserer Grenzen sind. Offenheit ade.

In dem Film „let‘s make money“ hieß es, dass Europa noch so hohe Zäune errichten könne, die Afrikaner – an Syrer dachte man damals noch nicht – würden Schlupflöcher finden

* weil die Welt, in der wir leben, uns nicht gehört.

Wer hat die Schenkungsurkunde ausgestellt? Dass einem eine Welt oder ein Teil davon „gehört“ bedeutet, dass diese Welt dazu da ist, verstanden und nicht besessen, etwa dann auch ausgebeutet zu werden – die kommenden Generationen scheinen nicht zu interessieren. Auch wir selber sollten uns in unserem Land besser verstehen.

Warten auf die Barbaren (Quelle www.fischerverlage.de)
Warten auf die Barbaren (Quelle www.fischerverlage.de)

Das klingt weniger akademisch, wenn man den Roman des Literaturnobelpreisträgers von 2003 J.M. Coetzee (geb. 1940 in Kapstadt) „Warten auf die Barbaren“ liest. Seine Geschichte: Der Chef einer militärischen Grenzsicherungstruppe – Coetzee nennt kein Land, es könnte irgendwo in seiner Heimat Südafrika spielen – behandelt die Barbaren, als sie schließlich kamen, als Menschen, also nachsichtig und nicht überfordernd, obwohl er sie als Feind betrachten müsste. Seine Regierung bewertet das als Verrat. Er wird daraufhin entmachtet und gefoltert. Die Regierungstruppe führt sich auf wie eine Truppe von Barbaren. – So leicht kann es kommen, aus Fremden werden Barbaren, und Menschen, die gegen das Fremde angehen, werden oft selber zu Barbaren.

Das sollte Politik im Auge behalten. Das Abrutschen ihrer Bürger in Barbarei sollte sie verhindern. Dazu braucht man keine Parteiparolen, sondern vor allem Denken.