RACHE … Es war schon überaus eindrucksvoll als die drei riesigen Sattelzüge mit der Aufschrift W:O:A, was für Wacken Open Air steht, in das Stadtzentrum einfuhren. Ich musste an einen Science-Fiction-Film denken, wie die Angst einflößenden Gefährte langsam durch die engen Straßen Richtung Marktplatz rollten. Dort angekommen wurden die Laster so positioniert, dass sie eine Art U bildeten. Das Gehupe genervter und wild gestikulierender Autofahrer, die sich im Rückstau befanden, ging im Gedröhne der LKW-Motoren unter. Aus dem einen stieg ein Hulk von Kerl und kam auf mich zu. „Hast du den Kram hier bestellt?“, fragte er mich. „Klar, Mann“, erwiderte ich freudestrahlend und schüttelte ihm die Pranke. Er reichte mir einen Wisch und ließ mich unterschreiben, dass jegliche Verantwortung für diese Aktion von mir getragen würde. Dann zogen die drei Fahrer an allen Seiten der gigantischen LKWs die Planen hoch und dahinter kamen Ungetüme von Lautsprechern zum Vorschein; sicherlich 20 davon waren Bassboxen von der Größe eines Mittelklassewagens. Etwa in der Mitte des Platzes hatte ich mir mit gutem Blick in die Seitenstraßen einen schweren Campingsessel bereitgestellt. Die über ein monströses Stromaggregat betriebene Anlage wurde auf „On“ gestellt. Allein dieses Geräusch führte dazu, dass zwei Blumenampeln vor der Apotheke aus der Halterung brachen und das Zeitige segneten. Ich war zufrieden; in etwa so hatte ich mir das vorgestellt. Der Hulk reichte mir eine Art Board, über das ich per Bluetooth von meinem Handy die Musik einspielen konnte. Ich hatte mich gut vorbereitet. Cannibal Corpse, Deicide, Obituary und anderen metallischen Krach – Deathmetal der übelsten Sorte . Hauptsache laut, böse und bloß kein Klargesang. Die Musik sollte vor allem eins: niemanden gefallen – außer mir! Ich selbst wurde mit einem Spezial-Sicherheitsgurt festgebunden, der mit Heringen im Boden verankert war. Einmal atmete ich noch durch, ein Zurück gab es jetzt eh nicht mehr, zudem hörte ich in der Ferne Polizeisirenen. Jetzt musste es schnell gehen. Ich klickte auf „Code of the Slashers“ und drückte auf „Start“. Eine extreme Druckwelle brach über die Stadt herein, die Markise vom Café schräg gegenüber wickelte sich auf, der Maibaum stürzte ein, ein Jugendlicher, zu cool für diese Welt, raste mit seinem verdammten E-Scooter in eine Stuhlreihe hinein und von den ersten Häusern prasselten Dachziegel herunter. Neugierige stieben auseinander, manche flüchteten in umliegende Geschäfte, die hupenden Autofahrer verließen panikartig ihre Fahrzeuge, während ich selbst von dem Wall Of Sound ein paar Zentimeter in die Luft gehoben wurde. Es war ein ungemein, im wahrsten Sinne des Wortes erhebendes Gefühl, sich inmitten eines musikalischen Hurrikans zu befinden. Vermutlich war ich der einzige, der selig lächelte. Das ultrafiese Growling des Sängers fegte durch die anliegenden Straßen und trieb rumliegenden Müll wie Tumbleweeds vor sich her. So Leute, dachte ich, das hier ist meine Rache für all die musikalische Scheiße, die ich mir die letzten Jahre von Euch anhören musste. Für all die Radio-Bollerwagen-Musik auf den Baustellen dieser Stadt, für all das mit Bass unterlegte Hip-Hop-Gesabbel aus den fetten Boxen, die von pickeligen Jungspunten durch die Straßen getragen werden, für das Gejohle und Gekreische zu Marianne Rosenberg aus der Nachbarkneipe, für das ultrafiese Schlagerfestival ausgerechnet auf dem Platz hinter unserem Haus, für die Jagdhornbläsertruppe neulich und all die Abi-Partys mit der beschissenen Atzen-Mucke „Hey, das geht ab…Wir feiern die ganze Nacht, die ganze Nacht…“ Was hier abgeht? Hier kommt die Rache, ihr Arschgeigen. Als später Feuerwehr und Polizei eintrafen und sich einen Weg zu mir bahnen konnten, waren immerhin gute zwanzig Minuten vergangen. Der Hulk hob aus dem LKW den Daumen hoch und grinste mich an.
Sicher, man kann einen Lottogewinn auch anders einsetzen, aber selten so unvergesslich – für alle!