Anhand von Beispielen aus der Geschichte, sowie der Jetztzeit soll das Phänomen „Freuden der Pflicht“ durchleuchtet werden. Ist es wirklich nur ein folgsames Verhalten von Menschen oder sind die Hintergründe ganz anderer Art? Ein brandaktuelles Thema!
Die NS-Zeit: Ein Biotop für Pflichtbesessene

In meiner Jugend in den 70ern saß das Thema NS-Zeit oft mit am Mittagstisch. Ich fragte meine Eltern immer wieder danach, was sie mitbekommen hatten, wie sie selbst zu dieser Ideologie standen und warum Menschen überhaupt zu solchen Gräueltaten fähig waren. „Irgendwann muss es auch mal gut sein“, hörte ich oft; sie wollten nicht mehr an die Zeit erinnert werden. Gerne wurden die Prozesse auch bagatellisiert: Es sei ja nicht alles schlimm gewesen und der Hitler habe ja auch Autobahnen bauen lassen. Doch mir fiel es schwer, den Nationalsozialismus, von dem die Eltern nur auf Nachfrage bruchstückhaft erzählten, als etwas Vergangenes zu schlucken. Er war nicht vergangen, denn er lebte in vielen Menschen weiter, die wichtige Positionen bekleideten. Ich erinnere mich an Karl Castens (Präsident des Deutschen Bundestages 1976–1979, Deutscher Bundespräsident, ab 1933 in der SA), Alfred Dregger (1967–1982 Landesvorsitzender der CDU Hessen, 1982–1991 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ab 1940 in der NSDAP) oder Walter Scheel (Minister, später Bundespräsident, 1941-45 NSDAP) (1), um nur einige zu nennen. Auch in meiner Heimatstadt Telgte war bekannt, dass einige brave Bürger früher stramme Nazis waren. Aber sie waren inzwischen gut „reintegriert“. Als Jugendliche in Zusammenhang mit einem Schulprojekt Nachforschungen anstellten, gab es anonyme Drohungen. Wie soll so eine Aufarbeitung stattfinden? Wäre es nicht wichtig gewesen, die Altnazis nach ihren Beweggründen zu fragen, um eine mögliche Wiederholung vermeiden zu helfen?
Zur Erinnerung: In der NS-Zeit galt das Befehl- und Gehorsamsprinzip: Gegner wurden denunziert, festgenommen, bestraft, gefoltert und getötet. „Unter dem NS-Regime wurden Massenmorde von beispiellosem Ausmaß begangen. Die Nationalsozialisten und ihre Verbündeten und Kollaborateure ermordeten sechs Millionen Juden.“ (2) Darüber hinaus starben Hunderttausende andere Menschen, darunter Roma, Kommunisten, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle oder andere Personen, die den eindimensional denkenden Nazis nicht in den Kram passten. Dass aktuell Alice Weidel von der nationalfaschistischen AfD Hitler als Kommunisten bezeichnet, ist somit unendlich unreflektiert, denn warum sollte er dann seine eigenen Genossen umbringen oder in Konzentrationslager sperren? Wenn man schon am laufenden Band fake-news verbreitet, sollte man – und frau auch – wenigstens gewisse Kernpunkte einer Nachvollziehbarkeit berücksichtigen.
Ein kleiner Ausflug in die Philosophie der Pflicht
Ich muss gestehen, dass das Wort Pflicht bei mir nicht unbedingt positiv besetzt ist. Zum einen deswegen, weil ich ein libertär denkender Mensch bin, der sich nur ungern bis gar nicht einer äußeren Ordnung unterwerfen möchte, zum anderen weil ich zu oft erlebt habe, dass der Begriff missbraucht wurde, um Menschen fügig zu machen. In der Antike (siehe Platon und Cicero) wurden die Anforderungen an das Bewusstsein des Menschen, zu etwas verpflichtet zu sein, als natur- und vernunftgemäßes Leben angesehen. Immanuel Kant postulierte, dass moralisches Handeln nur dann etwas tauge, wenn es einem Pflichtbewusstsein folgt. Pflichtbewusstsein schien somit immer etwas Gutes, Höheres und Erstrebenswertes zu sein, was ich allerdings infrage stelle. Sollte ich mich nicht nur dann einer Sache verpflichtet fühlen, wenn mein Handeln ein reflektierter Vorgang ist und somit nicht blind erfolgt?
Und doch machen bestimmte Pflichten durchaus Sinn. So gibt es Elternpflichten, ohne die beispielsweise Kinder verwahrlosen würden. Auch gewisse Pflichten oder Gebote, die ich beim Autofahren oder im Umgang mit Menschen beachten sollte, sind existentiell. Die Psychologie unterscheidet in positive Pflichten, die eher mit einem „ich sollte“ verbunden sind und beispielsweise Hilfeleistungen meinen können, während negative Pflichten eher auf Ge- und Verboten beruhen. Befiehlt mir zum Beispiel jemand, etwas genau so und nicht anders zu machen, so sollte ich immer abwägen, ob dieser Befehl meiner moralischen Vorstellung entspricht. Leider ist dies ein frommer Wunsch, denn so manche Person in einer Vorgesetztenposition kann das Nichtbeachten einer Pflicht bestrafen. Daher erfolgt die Umsetzung mancher Verpflichtung aus einer Angst heraus, womit das anfangs genannte „Erstrebenswerte“ seinen Charme verloren hat.
Guter Nährboden: Die autoritäre Persönlichkeit
In Berichten von Zeitzeugen, die ich zum Teil selbst in meinem ersten Beruf als Krankenpfleger kennenlernte, wurden NSDAP- oder SA-/SS-Anhänger als autoritäre, brutale, zum Teil aber auch dumme Menschen beschrieben. Ebenfalls in meinem früheren Beruf traf ich auf Patienten, die als bekennende Nationalsozialisten verschiedene Ämter bekleideten. Aus ihren Erzählungen war herauszuhören, dass sie sich zum Teil bis zur Selbstaufgabe einem brutalen System unterworfen hatten und den ausgegebenen Befehlen blind gefolgt waren. Feststellen ließ sich bei den meisten Personen ein spezielles psychologisches Persönlichkeitsprofil, das als autoritäre Persönlichkeit beschrieben wird (3). Zahlreiche, groß angelegte Untersuchungen haben die Existenz einer solchen Charakterstruktur nach den beiden Weltkriegen analysiert. In diesem Zusammenhang sind namhafte Sozialpsychologen wie Theodor W. Adorno oder Max Horckheimer in Deutschland oder Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford in den USA zu nennen. Zusammenfassend lassen sich mehre Umschreibungen einer solchen Persönlichkeit finden, die auf der Internetseite „Gedankenwelt“ sinngemäß wie folgt aufgelistet sind:
- Blinde und unhinterfragte Loyalität gegenüber bestimmten Werten, Sitten und Idealen;
- Ethnozentrismus – eine Voreingenommenheit eines Individuums gegenüber fremden Gruppen;
- Angstkultur;
- Aussagen wie „Meine Erfolge sind immer besser als deine“;
- Aggressiver Führungsstil;
- Vorurteile und engstirniges Denken;
- Oberflächliche Argumentationen, häufig auf Verschwörungstheorien beruhend (3)
Interessant ist aber auch, dass Personen, die einer solchen Struktur entsprechen, häufig nicht zu einer Introspektion fähig sind bzw. eine solche zu vermeiden suchen. Unter Introspektion versteht man das Beobachten und Analysieren eigener psychischer Vorgänge. (4)
Auch philosophisch nicht versierte Personen haben möglicherweise schon mal vom kategorischen Imperativ nach Immanuel Kant gehört. Mit diesem Imperativ ist gemeint, dass jeder Mensch immer so handeln sollte, dass dieses Handeln zugleich als eine Art allgemeines Gesetz anerkannt werden könnte. Gehe ich aber einer Pflicht unreflektiert oder gar blind nach, ist dieser Imperativ außer Kraft gesetzt.
Menschen als Monster?

1977 fuhr ich mit einem Teil meiner Klasse, die sich kurz vor dem Abi befand, nach Polen. Hier besuchten wir u.a. das Konzentrationslager in Auschwitz. Nach der Besichtigung herrschte lange Zeit Stille im Bus – eine be- und gedrückte Stimmung. Erst später diskutierten wir über das Gesehene, wobei uns vor allem eine Frage beschäftigte: Wie konnte es sein, dass Menschen bereit waren, die grauenhaften Aufgaben des staatlich angeordneten Massakers zu übernehmen? Was mussten das für Menschen sein? Ungeheuer? Monster? Tiere? Idioten? Es ging ein Raunen durch die Nachkriegsgesellschaft, als die Philosophin Hannah Arendt, die als Beobachterin an dem Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen deutschen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann teilnahm, den Angeklagten als „…banalen, erschreckend normalen Menschen…“ bezeichnete. Er sei ein Mann, „der aus Zufall zur SS kam und keineswegs ein überzeugter Antisemit gewesen sei… der sich aber, dem Zug der Zeit folgend, willig unterordnete, seine Pflicht tat und niemals, der Größe seiner Verbrechen entsprechend, aus seiner Banalität herauskam.“ (5) Arendt wurde vielfach vorgeworfen, Eichmanns Verhalten bagatellisieren zu wollen; lieber wäre es den Kritikern gewesen, sie hätte den Verantwortlichen für Millionen Judenmorde als Monster beschrieben. Auch in der Boulevardpresse findet man bei Gräueltaten Umschreibungen, die sie als nicht menschlich deklarieren, doch steckt dahinter eher ein Schutzmechanismus: Der Mensch, „die Krönung der Schöpfung“ möchte nicht einsehen, dass das Brutale, Grauenhafte und Kriminelle Teil des Wesens ist, das mit viel Brimborium als Werk Gottes glorifiziert wird. Auch wenn Menschen wie Eichmann das eigene Handeln offensichtlich nie reflektiert haben, so scheinen sie ihre bestialischen Tätigkeiten mit einer gewissen Freude an der Pflicht nachgegangen zu sein. Auch das wurde mir von Zeitzeugen oft berichtet: Nazi X oder Y empfand eine Art tiefe innere Befriedigung in seinem Tun. Aber handelt es sich dabei tatsächlich um Freude oder eher um einen psychologischen Prozess der Verschiebung?
„Verschiebung ist ein Vorgang, der Übertragung von starken Vorstellungen oder Emotionen (z.B. Ärger, sexuelle Erregung) vom auslösenden Objekt auf ein anderes Objekt beschreibt. Verschiebung ist ein unbewusster Abwehrmechanismus, der stattfindet, wenn das ursprünglich die Gefühle erregende Objekt potentiell gefährlich ist bzw. wenn es Gefahr bringen kann, seine Gefühle ihm gegenüber zu äußern.“ (6)
„Die Deutschstunde“
Der Begriff „Freuden der Pflicht“, den ich als Titel und Inhalt meines Textes gewählt habe, erhielt eine ganz besondere Bedeutung und damit auch Bekanntheit durch das Buch „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz. Der Einfachheit halber nutze ich eine kurze Zusammenfassung aus fremder Quelle (7):
„Siggi Jepsen sitzt in einer Besserungsanstalt für schwer erziehbare Jugendliche und soll einen Aufsatz mit dem Titel „Die Freuden der Pflicht“ schreiben. Er erinnert sich an seinen Vater, Jens Ole Jepsen, der während der NS-Diktatur als Polizist arbeitete. Eines Tages erhielt er den Befehl, dem Maler Max Ludwig Nansen ein Malverbot zu erteilen, da die Bilder nicht dem Weltbild der Nazis entsprachen.
Während Jepsen wie besessen davon war, Nansens Bilder zu zerstören und das Malverbot zu überwachen, wollte Siggi den Maler schützen. Siggi begann, zwanghaft Nansens Gemälde zu stehlen, um sie vor seinem Vater in Sicherheit zu bringen. Als er bei einem der Diebstähle erwischt wird, kommt Siggi schließlich in die Haftanstalt.“
Der Ausdruck „die Freuden der Pflicht“ war für das gesellschaftskritische Umfeld, in dem ich damals als Jugendlicher aufwuchs, eine gängige Umschreibung für die autoritäre Erwachsenenwelt um uns herum geworden. Der cholerische Mathelehrer, der mit aller Härte vorgehende Polizist bei einer Demo gegen Atomkraftwerke oder der linkische Offizier, von dem Gleichaltrige erzählten, die zur Bundeswehr eingezogen worden waren; sie alle waren in unseren Augen Vertreter, die ihr abwertendes Verhalten mit den Freuden der Pflicht ausübten.
Machtgefühle

Als Jugendlicher trampte ich mit meiner damaligen Freundin in die Niederlande. Kurz vor der Grenze, die wir zu Fuß überqueren mussten (damals wurden noch an der deutsch-niederländischen Grenze Kontrollen vorgenommen), wurde meine Freundin von einem freilaufenden großen Hund gebissen, so dass sie stark blutete. Also eilte ich mit ihr zum nächsten Kontrollposten, um dort um eine Wundversorgung zu bitten. Der deutsche Beamte reagierte mit deutlichem Desinteresse und einer widerlichen Arroganz; erst wolle er unsere Rucksäcke und Taschen überprüfen. Meine Einwände, dass hier ein Notfall vorliege, stießen auf Beton. Er beendete sein Pflichtwerk mit den Worten: „Und nun sieh zu, dass du deine Freundin in ein Krankenhaus schaffst, sonst hast du nicht mehr viel von ihr.“ Man riet mir später davon ab, den Polizisten zu verklagen, da dies keinerlei Sinn mache. Aber auch hier stellt sich die Frage: Waren es die Freuden der Pflicht oder hatte der arme Kerl Probleme mit Frauen? Oder spürte er in dem Moment der Erniedrigung ein Machtgefühl?
Lange Zeit wohnte ich als Mieter bei einem Professor, der in einer Polizeiakademie in der Nähe von Münster tätig war. So manchen Abend unterhielten wir uns über die Beweggründe von jungen Polizisten, eine solche Tätigkeit auszuüben. Zudem verwies er immer wieder auf wissenschaftliche Untersuchungen in diesem Zusammenhang. Während die meisten Polizisten nachvollziehbare Gründe angaben (für Sicherheit sorgen, Demokratie verteidigen, anderen helfen etc.), berichtete der Professor durchaus auch von Aspekten, die mit der Ausübung von Macht und damit positionaler Autorität zusammenhingen.
„Bei der positionalen Autorität hat die Autoritätsperson dank ihrer Position, ihrem Amt oder ihrer sozialen Stellung die Macht, andere zu beeinflussen. Diese Form der Autorität hat eigentlich nichts mit der Person an sich zu tun, sondern nur mit der Position, die sie repräsentiert.“ (8)
Interessant in diesem Zusammenhang war auch, dass einige Polizisten in Interviews von überstarken Vätern berichteten, unter denen sie übermäßig leiden mussten. Über ihre neue Machtposition besaßen sie nun die Möglichkeit, die erfahrene Erniedrigung durch eigene massive Autoritätsausübung auszugleichen. Auch hier kann man resümieren, dass die Freuden der Pflicht nicht nur ein Verhalten sind, das mit „Freude“ im klassischen Sinn einhergeht, sondern eher einen defizitären psychologischer Prozess darstellt: Die Machtausübung gleicht die in der Kindheit oder Jugend erfahrene Minderwertigkeit aus.
Pflicht als „Einverleibung“ einer Machtperson
Während ich diesen Text schreibe, haben in Amerika die Wahlen stattgefunden und Millionen von Menschen haben sich für einen Autokraten der untersten Sohle, wie mein Vater zu sagen pflegte, entschieden. Die US-Schriftstellerin Siri Hustvedt beschreibt Trump folgendermaßen: „Zum zweiten Mal haben US-Amerikaner einen offen rassistischen, frauen- und fremdenfeindlichen Marktschreier zum Präsidenten gewählt“, … der in seiner „amoralischen Welt narzisstischer, kommerzieller Selbstdarstellung“ (9) als authentisch wahrgenommen wird. Hustvedts Beschreibung zu Trump fällt meiner Meinung nach geschönt aus, denn mir ist in all den Jahren, in denen ich Politik beobachte (und ich bin aktuell 65), kaum ein widerwärtigerer Mensch begegnet. Doch in der Presse liest man unzählige Beispiele, dass sich zumeist fachlich komplett inkompetente Personen anbiedern, um in seinem Schatten an einem Ausschnitt der Trumpschen Macht teilzuhaben. Verfolgt man die Bericht erstattenden Medien, so scheint in US-Amerika ein Haufen Speichellecker damit beschäftigt zu sein, dem „Raubtierkapitalisten“ bis tief in den Dickdarm zu kriechen. Schmeicheln sie dem großen Führer, so erhalten sie die Macht, in der sie sich gewinnbringend sonnen können. Ein Drama mit höchstem Fremdschämmodus. Die Freuden der Pflicht werden künftig europaweit spürbar sein, denn überall wachsen Machtboliden aus dem Boden, die sich einen Dreck um eine gewachsene Demokratie kümmern. Und überall gibt es sie: Menschen, die sich nicht zu schade sind, für Diktatoren, Menschenschlächter und Großverbrecher selbst widerlichste Aufgaben zu übernehmen. Das Gejammer unter den Schergen war groß, als sich der syrische Führungsbarbar Baschar Hafiz al-Assad vom Acker machte, um bei seinem Gesinnungsgenossen in Russland Unterschlupf zu finden. Offensichtlich war die Freude der Untergebenen an ihrer Pflichterfüllung plötzlich geschmälert und sie fürchteten – mit Recht – den Zorn des Volkes.
Im Zusammenhang mit der Ernennung von Trump zum Präsidenten kann man recht gut beobachten, wie im Grunde talentfreie und für die Politik unbegabte „Jemande“ alles Erdenkliche unternehmen, um ein Stückchen vom Machtkuchen abzubekommen. So titelte das Nachrichtenmagazin MSN „Und plötzlich wird er umgarnt: Amerikas Eliten unterwerfen sich Donald Trump.“ (10) Die Rede ist u.a. von Personen, die noch vorher ablehnend und kritisch Trump gegenüberstanden, aber bedenkenlos die Kehrtwende einleiteten, sobald sie einen Job unter Trump witterten. Die Freuden der Pflicht können somit mit einer Art Einverleibung der übergeordneten Machtpersonen erklärt werden. Indem ich für den Herrschenden arbeite, bin ich ein Teil von ihm und verlasse damit meine Unbedeutendheit.
Ein Szenario und ein Fazit

Die Idee, über die Freuden der Pflicht zu schreiben, hat einen recht unspaßigen Hintergrund. Als Putin und seine Blood&Honour-Horde den menschenverachtenden Krieg gegen die Ukraine begannen, wurde und wird in vielen Medien spekuliert, dass daraus ein Weltkrieg entstehen könne, der auch auf Deutschland übergreift. Die Russen stehen schon seit Jahrzehnten vor der Tür, was mir schon als Kind von meinen Eltern eingebläut wurde. Nun kam mir folgendes Szenario in den Kopf: Wie wäre es in dem Fall, dass Russland Deutschland besetzt? Denkt man das Szenario zu Ende, müsste für jeden Ort, also auch für das kleine Telgte, in dem ich wohne, einen Stadthalter bestimmt werden. Also jemand, der streng darüber wacht, dass alles mit russischen Dingen vor sich geht. Da man ja nun nicht alle Russen auf Europa verteilen kann, müsste man also Deutsche rekrutieren, die diese Pflicht übernehmen. Mir fallen auf Anhieb eine ganze Hand voll an sich bislang unbedeutende Personen ein, die ihre Hände oben hätten. Die Freuden der Pflicht würden sie zu Glanzleistungen treiben, um ein Stückchen vom Machtkuchen abzubekommen. Allerdings kommen mir da auch galante Einfälle, wie man dem pflichtversessenen Stumpfsinn mit zivilem Ungehorsam entgegenwirken könnte.
Wir leben in miserablen politischen Zeiten. Der Philosoph Noam Chomsky, einer der – wie ich finde – wichtigsten Denker der Gegenwart, sprach von einer Dystopie (11).
„Eine dystopische Gesellschaft ist oft charakterisiert durch eine diktatorische Herrschaftsform oder eine Form repressiver sozialer Kontrolle. Typische Charakteristika einer Dystopie: Dem Individuum ist durch mechanisierte Superstaaten jegliche Freiheit genommen, die Kommunikation der Menschen untereinander ist eingeschränkt oder anderweitig gestört und das Bewusstsein der eigenen Geschichte oder eigener Werte gekappt.“
In solchen Zeiten spielen Menschen, die unreflektiert und blind Gehorsam leisten und die Freuden der Pflicht genießen oder – wie in diesem Text dargestellt – genießen müssen, eine große Rolle. Ich denke, dass es wichtig ist, sich über den Begriff „Pflicht“ Gedanken zu machen und vor allem darüber, ob es der eigenen Wertigkeit entspricht, den „Herren der Menschheit“ (11) Folge zu leisten. Ich habe in meinen Seminaren mit jungen Menschen, die ich als Psychologe in einer großen Klinik abgehalten habe, immer wieder auf die Wichtigkeit des SELBSTdenkens und Hinterfragens von Autorität hingewiesen.
Vor ein paar Jahren habe ich in den sozialen Medien einen Satz veröffentlicht, der sehr viel Zuspruch bekam:
„Ich weigere mich, Gefolgschaft zu leisten. Mir sind bisher keine Menschen begegnet, denen ich zu folgen bereit gewesen wäre. Und die wenigen, deren Größe ich anerkannte, wollten nicht, dass ich ihnen folge, sondern dass ich neben ihnen gehe.“
Das Leben ist keine Pflichtveranstaltung, sondern sollte dem freien Willen und in reflektierter Weise erfolgen. Sollte das bei dem Leser angekommen sein, so hat der Text viel erreicht.
Quellenverzeichnis
- Liste ehemaliger NSDAP-Mitglieder, die nach Mai 1945 politisch tätig waren – Wikipedia
- Wie viele Menschen wurden von den Nazis ermordet? | Holocaust-Enzyklopädie
- Autoritätshörigkeit – (QUERZEIT)
- Introspektion – Suchen
- Hannah Arendt und der Mensch im totalitären Staat | APuZ 45/1964 | bpb.de
- Verschiebung – Lexikon der Neurowissenschaft
- Deutschstunde – Zusammenfassung • Siegfried Lenz · [mit Video]
- Autorität • Was bedeutet Autorität? Formen und Beispiele · [mit Video] (studyflix.de)
- Siri Hustvedt in: DIE ZEIT, No. 52 – 5. Dezember 2024.
- Und plötzlich wird er umgarnt: Amerikas Eliten unterwerfen sich Donald Trump
- Noam Chomsky: Kampf oder Untergang! Warum wir gegen die Herren der Menschheit aufstehen müssen. Westend Verlag, Frankfurt (2021)