In dem Buch „Pogofähigkeit“ von Gitta Peyn geht es um Komplexität, Polarisierung und Ideologisierung von Gesellschaft und den angeschlossenen Organisationen. Für mich „Sachbuch des Jahres 2024“
„Die Ruhe auf dem Land ist oft stille Wut“ (Nicolas Born, Schriftsteller aus dem Wendland)
Vor einiger Zeit haben mich LinkedIn-Beiträge von Gitta Peyn (die ebenso wie ich aus dem schönen norddeutschen Wendland kommt, die ich aber bisher nicht kannte) angeregt, mich intensiv mit ihren unkonventionellen Sichtweisen auf klassische Themen wie Komplexität, Kommunikation und Konflikte auseinanderzusetzen. Ich hatte für lange Zeit gedacht, meine Hausaufgaben im Bereich der Psychologie, Organisations- und sonstigen Soziologie, Ökonomie und Ökologie einigermaßen gründlich erledigt zu haben – und musste mir dennoch oder gerade deshalb ein paar Watschen in ihren LinkedIn-Texten abholen. Alles begann mit einer begrifflichen und konzeptionellen Irritation meiner bisherigen Beratungspraxis und ging über in eine wachsende Bereitschaft, mir diesen Kosmos einmal genauer anzuschauen. Nun liegt seit Ende 2024 das Buch „Pogofähigkeit“ vor. Spoiler: Der geneigte Leser sollte vor Lektüre seine Kybernetik und Systemtheorie mehr als nur geblättert haben. Der Buchtitel deutet schon an, worin mögliche Irritationen bestehen: es ist die gewählte Sprache, die auch bei geübten Lesern eine mittelschwere Rezeptionskrise auslösen kann. Pogofähigkeit, so kündet der Buchdeckel, sei „die Antwort für demokratische Gesellschaften und Organisationen, die ihre Fähigkeit, komplexitätsbewusst mit Kritik umzugehen, verloren haben oder nicht mehr zu entwickeln verstehen. Sie ist die Antithese zu Wertschätzungskultur und damit Antithese zu Erziehungsmilieus und Tone-Policing“ – puuh, dann mal los!
Die Sprache – das half schon sehr – war mir über LinkedIn-Beiträge und Online-Beiträge beim Carl-Auer-Verlag ein wenig vertraut.
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Im Buch kommen manche Begriffseinführungen ein paar Seiten später als erhofft – oder (mit mehr Geduld) auch zwei Kapitel später, das ist manchmal etwas fordernd. Wer bei der Lektüre glaubt, dass wir als Leser einen hochkonzentrierten Brühwürfel bekommen, der nur selten mit Beispielen aufgegossen wird, sollte mal ihre LinkedIn-Beiträge studieren! Das Ganze ist Programm: Die Autorin hält uns tüchtig den Spiegel der landläufigen Sprache vor und verschweigt nicht, wie unverbunden in den Gedanken und wie unscharf in der kommunikativen Tiefe wir sprechen, schreiben, lesen – ja, Sprache nachlässig behandeln wie eine routinierte Tätigkeit (beim Fahrradfahren ja gerne willkommen) – und zwar auch, wenn Routine nun für Gegenwart und Zukunft nicht weiterhilft bzw. zum Problem der Systeme wird.
Es geht um nichts weniger als Komplexität, Polarisierung und Ideologisierung von Gesellschaft und den angeschlossenen Organisationen. Was aber ist nun Pogofähigkeit? Der Begriff Pogo leitet sich ab aus dem Tanzstil der guten, alten Punkmusik. Wer ihn kennt, hat sofort Kopfkino, alle anderen können ja mal Bilder googeln. Es geht bei Pogofähigkeit um die Kompetenz, ähnlich wie bei einem Pogo-Sprung mit schwungvollem Körperkontakt, immer wieder aufzustehen und dem andern aufzuhelfen, wenn der strauchelt. Es ist die Fähigkeit, mit der Andersartigkeit des Anderen interessiert umgehen zu können, auch wenn das bedeutet, dass es anstrengend wird. Denn: „Im Andersdenken des Anderen liegt die Chance für uns, uns selbst zu ändern.“ Glückskeksverdächtig, aber punktgenau ist auch jener Satz: „Selbstkritik ist die größte Freiheit, die wir haben.“ In Gesellschaften, die keine Konflikte mehr austragen könnten und nach psychologischer Sicherheit suchten, entstehe, so Peyn, nichts wirklich Neues mehr. Wer die Gegenrede nicht haben wolle, mit dem könne man über die Themen, die anstehen, auch nicht reden. Und so plädiert sie dafür, auch mal emotional werden zu können, auf dass es mal ordentlich knallt, pufft und kracht, ohne dass das wiederum als Problem aufgegriffen wird:
„Wir wissen, dass ‚Mensch, was sollte dieser Mist denn, das kannst Du doch so nicht machen!‘ ein Angebot ist, über die Sache zu streiten, nicht über den Menschen.“
Wer starke Emotionen zeigt, kann im Übrigen auch mit ihnen leben – und mit ihnen klar denken, Vertrauen offenbart sich nach dem Streit. Wenn das Gegenüber keine Fläche bietet, öffnet sich auch kein Raum zur Versöhnung und Verständigung. Fehlt Pogofähigkeit, können Kommunikationssysteme ihre Konflikte nicht kreativ nutzen und kippen in „Symmetrische Konflikte“ (Peyn), in denen sich Positionen wechselseitig ausschließen. Wer bienenfleißig und regelmäßig in sozialen Netzwerken unterwegs ist, kennt den argumentativen Filmriss solcher Diskurse. Peyn schreibt: „Es ist das Konfliktsystem selbst, das hier zum Problem wird. Es funktioniert wie ein Attraktor oder wie ein Schneeball, der immer mehr Kommunikation anzieht und immer mehr Schnee mitnimmt“. So gedacht ist das Gegenteil von Schwarz nicht binär Weiß, sondern alles andere: Blau, Rot, Gelb, vielleicht auch mal Weiß. Daher empfiehlt Peyn, sich die universellen Merkmale komplexer lebenden Systeme zu begucken und etwas darüber auszusagen, was solche Systeme unter bestimmten Bedingungen tun.
Peyn warnt jedoch eindringlich davor, den Hebel am Individuum anzusetzen. Coaching sei die falsche Verhandlungsebene für kommunikationssystemische Fragen: „Lassen wir die Menschen, wie sie sind, schrauben wir nicht an ihnen herum.“ D’accord! Doch seelenklempnernde Operationen am offenen Herzen, gegen das sich die einschlägigen Verbände der Szene (mindestens auf dem Papier) verwahren, ist gar nicht das, was Menschen üblicherweise im Coaching suchen – solange kein Chef hineingrätscht. Die Arbeit an Mustern, die einstmals nützlich waren oder nützlich schienen und nun auf den Prüfstand gestellt werden, ist nicht zwangsläufig Psychologisierung, sondern eine zulässige Selbstbetrachtung unter Erwachsenen. Trotzdem: Auf diesem marktschreierischen Tummelplatz entdeckt Peyn – zurecht! – Profiteure im Zirkus der Psychologisierung – ein Zirkus, durch den sich eine gewisse Beraterszene legitimiert und der die Fragen nach den gesellschaftlichen und organisationalen Strukturen übertüncht. Auch Auftraggeber ziehen bisweilen ihren Nutzen: „Es scheint einen direkten Zusammenhang zwischen Übergriffigkeit und Unklarheit zu geben, zwischen Deutungshoheit und Unklarheit, denn solange ich etwas bestimme und gleichzeitig unklar halte, so lange kann ich immer Macht dadurch ausüben, dass keine Transparenz darüber besteht, worum es nun eigentlich geht.“ Dass aber Pogofähigkeit die Bad Boys (sic!), welche die Kooperationsbereitschaft anderer sogar für eigene Zwecke auszubeuten verstehen, zurechtstutzt, ist unter dem Schleier des kontextfreien Nichtwissens gut gesagt. Wenn man diesen Schleier lüftet und in die gemeinten Etagen schaut, sitzen solche Typen am langen Hebel, wenn man kaum oder keine Tanzpartner hat. Zuguterletzt: Wenn ich Peyns Sicht so recht auf die Kette bekomme, finde ich einen Gedanken wieder, der mir im Kontext von Coaching und Beratung auch schon häufiger untergekommen ist, nämlich die Gefahr, dass wir als Berater Programme auflegen, die dann recht hübsch in das Betriebssystem des Neoliberalismus hineinwirken, um Leute fit zu machen für das große „Nur-Weiter-So“, die aber nicht fit gemacht werden für das dringende „Vielleicht-Mal-Anders“, für eine frische Lesart der Diskurse, die gegen den Strich bürstet.
Man muss bei ihrem Text auf der Hut sein, nicht der Idee des Elitären, des Esoterischen (im ursprünglichen, nicht im spirituellen Sinne des Wortes) zu verfallen. So verlangen kantige Zwischenbemerkungen eine Portion Distanznahme, um nicht flott in den Honigtopf der eingeweiht Wissenden zu purzeln: „Die meisten Menschen (sind) noch nicht in der Lage, auf einer Metaperspektive über Kommunikationssysteme nachzusinnen oder mit ihnen konstruktiv zu arbeiten.“ – Das sitzt! Oder: „Eine Erfahrung, die ich als Forscherin häufig mache, ist dass sich viele massiv darin überschätzen, zu wissen, wie kognitiv Anspruchsvolles transportiert werden kann. Sie gehen dabei oft nur von sich aus, wann sie sich wohl fühlen, wenn sie etwas lernen müssen, und sie übersehen dabei, dass nur derjenige, der sein Fach kennt, wissen kann, wann jemand es gelernt hat und wann nicht (…). Dunning-Kruger ist keine böse Absicht, das müssen wir festhalten.“
Solche gelegentlich hingeworfenen Provokationen können bisweilen irritieren. Hier und da klingen Ausführungen sehr distanziert, wirken wie die Mauerschau einer griechischen Tragödie: Gesellschaft wird dann wie außerhalb der persönlichen Bühne beschrieben.
Zu den wirkmächtigen Wörtern, die in der deutschen Sprache (zurecht) in Ungnade gefallen sind, gehört mit Sicherheit das Wort „Masse“. Daran stößt sich vielleicht der eine oder andere Leser und muss sich vor dem Verdachtsmoment des Elitären, der kalten Metaebene bewahren, damit die Gedanken von Peyn erträglich und wirksam werden. Und es ist eine gute Übung, beim Lesen des Buches nicht allzu eilfertig zuzustimmen, um zur gemeinten Community zu gehören, die sich auf den anderen Weg macht. Sartre wusste mit seinem vortrefflichen Satz zu beschämen, weil die anderen zugleich auch stets wir selbst sind: „Die Hölle, das sind die anderen“. Wenn es schlecht läuft, wirkt das Buch der roten Kapsel aus dem Film Matrix ähnlich: Wer diese Kapsel wählt, verlässt die vertraute Matrix. Wer die blaue Kapsel wählt, kehrt in die komfortabel wirkende Realität zurück. Aber: Die Autorin ruft – Gott sei’s gedankt – immer wieder höchstselbst dazu auf, die eigenen liebgewonnenen Gewissheiten aufzubrechen, es mit der fremden Perspektive zu versuchen, sie ernsthaft anzuhören, nach-(!)zudenken und im Konflikt mitzunehmen. Peyn empfiehlt uns Pogofähigkeit, um dem Wärmetod sozialer Systeme zuvorzukommen.
Und wie bekomme ich das als Organisationsberater für Schulen auf die Vorderbühne? Ich sage den Schulen bei einem frischen Beratungsprozess zwar, solche Prozesse verlaufen nicht durchweg als „feel-good“-Veranstaltung, bisher fehlte mir aber das rechte Fundament um den Knäuel an Kommunikation drumherum gut zu fassen. Hier kommt Peyn ins Spiel und anempfiehlt, nicht Modell gegen Modell auszuspielen, sondern an den Anfang eine zentrale Frage zu stellen: Wie funktioniert das Kommunikationssystem und wie folgt Kommunikation auf Kommunikation? Das ist der Urknall von allem. Zunächst das Besteck zur Betrachtung des Kommunikationssystems herausholen. Wenn diese Frage fürs erste beantwortet ist, lassen sich, so die Autorin, gängige Modelle zur Intervention durchaus anwenden. Um aber nicht den Schlüssel dort zu suchen, wo ich als methodenbesoffener Berater ihn vermute, sondern dort, wohin der Lichtkegel des Kommunikationssystems fällt, ist diese Reihenfolge dringend einzuhalten. Die Autorin warnt, dass „Menschen unter Komplexitätsdruck psychologisch werden. Sie fangen an, sich auf Beziehungsebene und Psyche zu konzentrieren, weil sie genau dort diesen Druck besonders deutlich merken. Folglich neigt man dann auch dazu, dort die Lösungen zu sehen, ohne mitzubekommen, dass es sich dabei um einen Bias handelt: Es fehlt das nötige systemtheoretische und Strukturwissen, häufig auch gesellschaftstheoretisches und ökonomisches Wissen, und dann wird persönlich attribuiert.“
Über Dunning-Kruger, schreibt Peyn, ist bekannt, dass es auf die Umgebungskultur ankommt. Die Mitarbeitenden in Schule glauben sich nicht selten gewiss, was Schule benötigt, um sich als Organisation den vielen Herausforderungen zu stellen, Ministerien verstehen sich gut darauf, Schulen in diesem Glauben zu belassen. Schulen jedoch, die Unterricht weiterhin als vereinzelte Kunstform pflegen wie ein Haustier inmitten einer Bildungslandschaft, das auf Mittelmaß und Konditionierung geeicht ist (Erfolgsquoten, vorgefertigte Lernpfade etc.), werden – PISA-Schocks, die gar nicht mehr schocken, hin oder her – mit diesem Geschäftsmodell eine komplexe Gesellschaft, die nach komplex denkenden Menschen ruft, nicht länger hinhalten können. So lässt sich Schule mit Peyn in Zeiten von KI denken, “wenn wir begreifen, dass menschliche Arbeitskraft und künstliche Arbeitskraft zwei völlig verschiedene Einsatzgebiete haben, menschliche Arbeitskraft endlich so freigesetzt wird, dass sie besseren und leichteren Zugang zu ihrer eigenen Kreativität bekommt, um sich darüber gesellschaftlich konstruktiver einzubringen.“ Das muss allerdings auf größere Füße gestellt werden. Schulen, die sich als einzelne Organisationen von innen heraus auf den Weg machen sollen, frustrieren darob, dass sie systemgefangen nicht über den eigenen Tellerrand schauen können. Denn natürlich rhythmisiert sich Schule über die gängigen Kulturen. Ich habe Schulleitungen und ihre Kollegien erlebt, die sich gegenseitig vor einer konstruktiven Aussprache schützen wollten, die das System beim Change wohlmeinend überdrehten.
Vielleicht kommt das Buch zu passender Zeit, da Konzepte mit Klarheit in der Sprache, in den Referenzen und in der Analyse ein sehr basales Bedürfnis von Menschen in dieser entrückten Welt stillen, denen die Kraft der alten Rezepte und Parolen (der Ideologien sowieso) abhandengekommen ist. Peyn bespricht mit glaubwürdiger Leidenschaft Krise und Ausweg aus unserer gestörten und selbstähnlichen Kommunikationsökologie. Sie segelt dabei anspruchsvoll durch System- und Spieltheorie, Punk und Kybernetik, nimmt Mitreisende gerne an Bord, wenn die geistig mit einer ordentlich Prise Offenheit und Kompromisslosigkeit anpacken. Die Autorin meint ernst, was sie schreibt, und sie sitzt in derselben Tinte wie wir. Überhaupt scheint Peyn Wasser zu trinken, wo sie es predigt. Dass sie für Dinge, über die sie schreibt, leidenschaftlich einsteht, dass sie manches offenbar selbst erlebt, gar durchlitten hat, macht sie angreifbar, zugleich aber auch glaubwürdig, weil sie sich als Subjekt (wörtlich ja „das Unterworfene“) hergibt.
Gegen Ende schreibt Gitta Peyn: „Danke, dass Sie mir bis hierhin soweit gefolgt sind“, und da wurde mir das Stück Arbeit klar, mit dem ich mir die Weihnachstage verbittersüßt habe. Waren die LinkedIn-Beiträge für mich Versatzstücke zur ersten gedanklichen Anregung und ihre Video-Seminare hingegen hochverdichtete Veranstaltungen, so liefert das Buch einem Neu- und Quereinsteiger wie mir eine angenehm lesbare, sprachlich gut verflüssigte Version. In der Podcast-Reihe “Business Carpool” von Maria Kühn wird sie liebevoll und ganz sicher anerkennend als „Krawallbürste aus dem Wendland“ tituliert. Ich weiß nicht mehr zu sagen, woher der folgende Satz stammt (Herbert Marcuse?), der mir passend scheint: „Was die Gedanken so außerordentlich erscheinen lässt, sind nicht die Gedanken selbst, sondern die gesellschaftlichen Widerstände, die ihnen entgegenstehen“. Neugierig? Dann ist hier der Titel:
Gitta Peyn: Pogofähigkeit. Formwelt Media Verlag 2024.
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