2016
Ein ganz privater Jahresendblick

2016 war ein Konglomerat von gesellschaftlichen, politischen und menschlichen Tragödien. Das Jahr erzeugte Angst, Wut und schlaflose Nächte. Die gute Nachricht: Es entfacht Fantasie zum Widerstand.

Von Marion (mi) & und Arnold (ai) Illhardt

Einblicke (Foto Arnold Illhardt)
Einblicke (Foto Arnold Illhardt)

(ai) Die gute Nachricht vorweg: Die Lilastiel-Rötelritterling (Lepista saeva) – es heißt wirklich „die“ – ist Pilz des Jahres 2016 geworden. Die schlechte Nachricht: Das Jahr ist zum Zeitpunkt der Artikelerstellung noch nicht abgeschlossen. Aber kann es noch dicker kommen? Was in 2016, dem Jahr des Affen, vor allem schlecht gelaufen ist: Es sind zu viele Menschen verstorben, deren Existenz Sinn gemacht hat: Götz George, Bud Spencer, Greg Lake, Leonard Cohen, Lemmy Kilmister, Manfred Krug, Prince oder David Bowie. Götz George war früher immer mein heimliches Vorbild; der Rest tangierte mich nur peripher. Der Jammer an diesen Nekrolog: Es war wieder keiner dieser pathologisch entarteten Monstermenschen a la Trump, Erdogan, Putin, el-Assad & Co. dabei. Ein kollektiver Flugzeugabsturz dieser Analogzeitgenossen, das wäre ein Fest. Und die Bekannte reist weiterhin an die türkische Riviera, als wäre nichts gewesen. Es muss entsetzlich prickelnd sein, in der türkischen Hotelbar abzufeiern, während Erdogan Menschen abschlachten lässt, Journalisten ins Gefängnis steckt und die Meinungsfreiheit bis auf die eigene bis zur Unkenntlichkeit stutzt. Ich plädiere für den totalen Türkeiurlaubsboykott.

Augenblick (Foto Arnold Illhardt)
Augenblick (Foto Arnold Illhardt)

(mi) Ich schau schon seit langem nicht mehr in mein Horoskop, zudem steht in jeder Fernsehzeitung oder in den diversen Klatschmagazinen eh fast immer nur blablabla. Doch hätte ich es für 2016 gelesen und unter „Gesundheit“ ein rotes Warnzeichen gesehen, hätte ich dann meinen Kopf in den Sand gesteckt nach dem Motto, ich bin nicht mehr da? Das Jahr 2015 war diesbezüglich schon reichlich durchwachsen! So manche schlechte Nachrichten von schwer erkrankten (oder gar verstorbenen) Persönlichkeiten erreichten uns dieses Jahr, doch insgeheim denkt man sich: „Gut, dass mir das nicht passiert!“ Pustekuchen! Bei einem Routinebesuch wurde 2016 bei einer Ultraschalluntersuchung der Gebärmutter etwas entdeckt, dass da zum Teufel nochmal nicht hingehört und entfernt werden musste! Vier Wochen Ungewissheit über den Charakter dieses Wabbelteiles können schon extrem an den Nerven zerren! Der nächste Knaller kam zwei Monate später beim Kauen eines Weingummis. Eine Krone hat sich verabschiedet und beim Wiedereinsetzen wurde eine Wurzelentzündung festgestellt. Alles erstmal kein großes Problem, doch die diversen Wurzelbehandlungen zogen sich bis November hin, das Ende des Liedes war eine Wurzelspitzenresektion. Ich konnte jetzt endlich mit meinen Kindern mithalten, die nach der Entfernung ihrer Weisheitszähne hamsterähnliche Gesichtszüge annahmen. Die Prophylaxetabletten gegen meine heranschleichende Arthrose habe ich wegen dem Schmerzmittel und Antibiotikum erstmal beiseitegelassen, so dass ich jetzt, kurz vor Silvester morgens wie eine mindestens 10 Jahre ältere Frau aus dem Bett krieche! Prost Gesundheit!

Aber immerhin: die WHO meldet, dass die Opferzahl von Malaria, Ebola und HIV sinkt. Im Guardian war zu lesen, dass die Zahl der Frauen, die weltweit an den Folgen einer Schwangerschaft starben sich seit 1990 halbiert hat.

Wollen wir nicht ein wenig bescheidener und dankbarer sein?

Installation Krönung der Schöpfung (Foto Arnold Illhardt)
Installation Krönung der Schöpfung (Foto Arnold Illhardt)

(ai) Zu Beginn des Jahres 2016 nisten wir uns einen Tag in einem leerstehenden Schleckerladen ein. Ich werde das Gefühl nicht los, hier immer noch den modrigen Atem eines verranzten Kapitalismussystems der Schlecker-Dynastie zu atmen. Wir haben in abendfüllender Vorbereitung einen ca. 100m langen Bilderstreifen erstellt und mit den Worten beschriftet, die all die weltweiten und menscheneigenen Idiotien, Schlechtigkeiten und Bestialitäten wiedergeben. Krönung der Schöpfung sollte das darauf resultierende Video heißen. Sollte ist Konjunktiv; die Fertigstellung lässt auf sich warten. Es ist alles ein Zuviel: Ein Zuviel an Eindrücken, die verarbeitet werden wollen, und ein Zuviel an Reaktionen, emotionaler und kognitiver Art. Dagegen anschreiben ist die eine Sache, doch mich verfolgen all diese Abnormitäten menschlichen Zusammenlebens bis in den Schlaf. Das ist neu! Die Brutalität mit der strammdeutsche Mitbürger z.B. gegen Flüchtlinge vorgehen, bestürzt mich und die ungebremste Zerlegung von demokratischen oder humanistischen Werten durch rechtsdrehende Parteien und Bewegungen, aber auch bei den Nachahmern in den althergebrachten Parteien, lassen mich innerlich verhärten. Dann und wann denke ich über einen Parteieintritt nach, doch die ganze politische Blase, diese lobbyistische, angepasste und intrigierende System durch alle Parteien hindurch, stößt mich ab. Gedanken ans Aussteigen nehmen zu.

Zeitverschmutzung (Foto Arnold Illhardt
Zeitverschmutzung (Foto Arnold Illhardt

(mi) Ich bin ein friedliebender Mensch und ich freue mich immer auf das gesamte Jahr mit unseren Aktivitäten, wir sind kulturell in unserer Stadt unterwegs und haben für die nächsten Jahre hier einiges geplant! Ich interessiere mich, ohne dass ich mich engagiere, für Politik, ich lese regelmäßig die taz und diverse Magazine über Philosophie aus reiner Lust am Denken. Doch in der taz wird fast täglich über die Verbrechen und Morde in Syrien und Aleppo und über Assads Folterzentren und Kerker berichtet. Wenn man immer wieder, jeden Tag aufs Neue, über all die grauenhaften, völlig absurden Ereignisse auch vom Rest der Welt (kann man eigentlich die Länder überhaupt noch aufzählen, in denen Mord und Totschlag durch Regierungsvertreter geschehen?) lesen muss, dann wird mir um unsere Zukunft Angst und Bange. Ich habe mit meinen 56 Jahren so eine Untergangsstimmung noch nie erlebt! Der Vergleich mit der Zeit um 1914 und vor dem 2. Weltkrieg drängt sich mir immer mehr auf! Ich kann es kaum fassen, dass es Menschen gibt, die so überaus machtgeil agieren, dass sie das Ausmaß ihres Tun und Handelns nicht erfassen können.

Sind diese Menschen so unglaublich dumm und haben sie aus der Vergangenheit nicht lernen können? Liegt es an deren Erziehung? Wo bei ihren Vorfahren hätte man ansetzen müssen, damit ihre Enkel und Urenkel nicht das fabrizieren, was sie jetzt mit der Bevölkerung dieser kränkelnden Welt anstellen?

Aber immerhin: Radovan Karadzic wird zu 40 Jahren Haft verurteilt und Österreich bekommt mit Alexander Van der Bellen einen „grünen“ Bundespräsidenten.

Wollen wir nicht statt immer nur zusehen auch mal tatkräftig helfen und hilfsbedürftigen Menschen zur Seite stehen?

Träum weiter (Foto Arnold Illhardt)
Träum weiter (Foto Arnold Illhardt)

(ai) Seit gut einem Jahr leben wir als Beinah-Vegetarier; ab und zu gönnen wir uns etwas Fisch aus dem freien Meer. Und genauso lange müssen wir Menschen ertragen, die diesen Verzicht kommentieren oder mit tiefer gelegten Witzen bedenken. Bei mir kommt nur was auf den Tisch, was Augen hatte oder Fleisch ist mein Gemüse. Glückwunsch zu dieser geistreichen Umwobenheit! Es ist nicht der erste Anlauf, das Ernährungsverhalten zu ändern. Wir können die Massentierhaltung, die Verseuchung der Tiere mit chemischen Substanzen und die qualvollen Transporte nicht mehr mittragen und ethisch verantworten. Doch geht die Spezies Mensch mit Tieren letztendlich nicht anders um als mit sich selbst? Wen wundert also das menschliche Verhalten; und manche Metzger können nicht einmal fachgerecht töten. Wir beginnen zudem, auf Plastik im Haushalt zu verzichten. Manchmal erinnern mich diese kleinen Versuche der Weltverbesserung an eine Art Greenwashing. Das macht die Apokalypse etwas erträglicher – jedenfalls für den Moment.

(mi) Mein Mann und ich unterhalten uns fast jeden Abend über das pervertierte Gesundheitssystem, in dem er arbeitet! Überhaupt bekomme ich Hitzewallungen, wenn ich mir das komplette System anschaue, nämlich die europäische Politik! Da wird geschimpft, gejammert, intrigiert, spioniert und es werden große Reden geschwungen! Letztendlich geht es leider aber immer nur darum, den anderen um Gottes Willen bloß nicht zuzustimmen oder gar mit ihm zum Wohle der Bürger, die sie leichtgläubig gewählt haben, zusammenzuarbeiten. Und wenn dann auch noch der heißgeliebte und in den europäischen Zenit gehobene Euro mit im Spiel ist, dann fallen von den Politikergesichtern sämtliche Masken. Dem Himmel sei Dank, dass die Griechenlandkrise von der Flüchtlingskrise vom Sockel geschubst wurde, so werden Seehofer und seine Kollegen von der AfD wenigstens nicht um ihre hirnrissigen menschenverachtenden Parolen gebracht.

Aber immerhin: Das Ozonloch beginnt, sich zu schließen und in der Antarktis ist das weltgrößte Meeresschutzgebiert vereinbart worden.

Sollten wir nicht langsam anfangen, selbst zu denken, Verantwortung für die Umwelt zu übernehmen und überhaupt uns genauer informieren vor der nächsten Wahl?

Informationsüberflutung (Foto Marion Illhardt)
Informationsüberflutung (Foto Marion Illhardt)

(ai) Nach längerer Abstinenz sind wir 2016 reumütig zu facebook zurückgekehrt. Nicht, dass uns etwas gefehlt hätte, ganz im Gegenteil, aber der praktische Gedanke überwog. Denn wo lässt sich grassierende Denkstarre und rechtsdrehende Meinungsdiarrhö besser studieren als im Gesichtsstudio von Zuckerberg. Bisher dachte man ja immer, die AfD sei einfach nur ein Haufen von fehlgeleiteten Psychopathen, Petry, Seehofer & Co. machtgeile Menschenverachter und Pegida ein Konglomerat von sexuell deprivierten Sonderlingen. Nach der Lektüre von facebook mit entsprechenden Besuchen auf einschlägigen Seiten, weiß man: Es ist alles noch viel schlimmer. Aber die neueste Losung ist ja, alles zu akzeptieren, weil man das in der Demokratie nun mal muss. Doch seit längerem frage ich mich: a) muss man das tatsächlich ertragen, b) wo ist die Grenze und c) ist sie nicht längst überschritten? Meine Antwort: a) nein und c) ja. Was b) anbetrifft so würde ich behaupten, dass die Grenze dort liegt, wo lange erstrittene Werte wie Gleichberechtigung, Recht auf Ausleben seiner sexuellen Neigungen, Religions- und Meinungsfreiheit eingeschränkt oder aufgehoben werden sollen. Voila, es wird Zeit für die Edelweißpiraten 2.0.

Kein Glück für Arschlöcher (Foto Arnold Illhardt, Hintergrundbild web.de)
Kein Glück für Arschlöcher (Foto Arnold Illhardt, Hintergrundbild web.de)

Und dann IS! Überall IS! Hinter den zwei Buchstaben steckt nicht die Abkürzung für infernaler Schwachsinn, sondern Islamischer Staat. Und das ist ungefähr so, als würden sich Päderasten als Kindergärtner ausgeben. Ziel dieser Terroristen ist es einerseits, Angst und Schrecken zu verbreiten, möglichst viele Frauen zu missbrauchen und gleichzeitig einen Gottesstaat aufzubauen. Wenn diese kretinistischen Wichtigtuer mit besagtem Gott, dem sie ihren Staat widmen wollen, Allah meinen, so muss bei ihnen eine gehörige Portion breitgetretener Stumpfsinn vorliegen, der die kognitive Verständnisebene auf das Fruchtbarkeitsniveau der Wüste Gobi verelenden ließ. Wer lesen kann ist im Vorteil und so würde man in so mancher Sure des Korans fündig, dass besagter Prophet Gewalt ablehnte und selbst Gewaltlosigkeit lebte. Aber vermutlich ist das alles postfaktisch! Dummheit hat tatsächlich keine Grenzen!

(mi) Wenn ich all das, was in diesem Jahr passiert ist (eigentlich schon im letzten Jahr), die Kümmernisse in der Familie, bei Freunden und die politische Situation betrachte, Herr im Himmel, mich wundert, dass ich so fröhlich bin!

Und wollen wir nicht endlich die Augen aufmachen und offenhalten für den Menschen uns gegenüber?

Liebe Lust Leidenschaft (Foto Arnold Illhardt)
Liebe Lust Leidenschaft (Foto Arnold Illhardt)

(ai) Beim Lesen diverser Schriftstücke und Zeitungen, die ich ohne Einhaltung der zeitlichen Reihenfolge zu studieren pflege, stieß ich neulich auf einen Satz von Arthur Schopenhauer bzw. der ihm zugedacht war: „Es ist unglaublich, wie nichtssagend und bedeutungsleer, von außen gesehen, und wie dumpf und besinnungslos von innen empfunden, das Leben der allermeisten Menschen dahinfließt. Es ist ein mattes Sehnen und Quälen, ein träumerisches Taumeln durch die vier Lebensalter hindurch zum Tode, unter Begleitung trivialer Gedanken.“ Warum schimpfe ich eigentlich so auf 2016, ich Narr? Ich habe leidenschaftliche Liebesnächste, -abende und -nachmittage genossen, bin über winzige Straßen durch die englische Berglandschaft gefahren, habe unzählige Rotweine verköstigt, habe mit meiner Frau an unserem Fluss philosophiert, habe auch im achten oder neunten Jahr das Fernsehen nicht vermisst, habe bei Massive Attack im Kölner Palladium gebebt und habe Sonnenuntergänge in den Telgter Klatenbergen erlebt. Das Leben war auch 2016 bedeutungsvoll, sinnenhaft und frei von Trivialität. Und in mir ist die Sehnsucht nach einer leidenschaftlichen Résistance entbrannt – die Fantasie zum Widerstand.

Jahresendzeitstimmung (Foto Arnold Illhardt)
Jahresendzeitstimmung (Foto Arnold Illhardt)