Eindrücke von einer walisischen Stadt, die im Reiseführer als Zentrum der Hippiekultur angekündigt wird. Und die Erkenntnis: Hippie ist man vor allem im und nicht auf dem Kopf.
Busfahrerwechsel an einer der immer etwas improvisiert aussehenden Haltestellen. Man begrüßt sich mit einem kleinen Scherz über das Wetter, dann zeigt der abzulösende Fahrer auf uns: „Die Zwei müssen am CAT aussteigen.“ Wie fürsorglich! Der Nachfolger grüßt zu uns rüber und man schiebt noch eine belustigende Bemerkung in unsere Richtung nach. Beim CAT handelt es sich um ein Zentrum für alternative Technik. Vielleicht sahen wir so aus, als müssten wir dort aussteigen. Genau verstanden habe ich die Konversation allerdings nicht, denn wir befinden uns im Herzen von Wales und da klingt Englisch immer so, als habe man chronischen Rachenkatarrh.
Ort dieser kleinen Begegnung ist Machynlleth, ebenso ein sprachlicher Zungenbrecher. Hier gibt es sogar einen kleinen Ableger des Museum Of Modern Art (MOMA). In unserem Wales-Reiseführer vom Müller-Verlag heißt es: „Bekannt ist Machynlleth als die „grüne Hauptstadt“ von Wales und als Zentrum der Hippiekultur. Diese Mischung aus Alternativszene und überwiegend ländlicher Bevölkerung gibt der Stadt einen besonderen Flair.“ Ich muss gestehen, die Beschreibung hat mich neugierig gemacht, allerdings besteht die Befürchtung, dass es sich mit den Hippies ähnlich verhält, wie mit den Elchen in Schweden: Bei meinem letzten Schwedenurlaub habe ich keinen einzigen Schaufelgeweihträger gesehen. Doch was glaubte ich, würde ich in der besagten Stadt antreffen: dreadlockbehängte Sandalenträger, friedensliederspielende Gitarrieros und jointrauchende Schönheiten in wallenden, gebatikten Gewändern, wohin das Auge schaut? Es sei vorausgeschickt: ich war an dem Tag der Mann mit den längsten Haaren in Mac, wie man die Stadt liebevoll und in Anbetracht der Unaussprechlichkeit nennt. An den Haaren scheint das Hippiemäßige wohl nicht auszumachen sein. Oder besser gesagt: Nicht mehr!
Ich selbst bin in der Tradition der Posthippiekultur aufgewachsen; Literatur, Musik und lange Haare prägten auch noch den Lebensstil der Mittel- bis Endsiebzigerjahre. Vor allem aber faszinierte mich die Philosophie des Auf- und Ausbruchs aus den einfallslosen und verkrusteten politischen und gesellschaftlichen Strukturen. Die ersten waren längst unterwegs nach Goa, um sich dort mit wie auch immer erstandenen Drogen das Bewusstsein wegzublasen, während eine Schar Heimatverbundener versuchte, die sanfte Revolution in Telgte, Ostbevern oder Gelmer zu initiieren. Genauso wie die Urhippies hatten auch wir uns mit dem Establishment rumzuschlagen, die in ihrer grenzenlosen Einfältigkeit Langhaarige als Gammler, Nichtstuer und Nichtsnutze bezeichneten, dabei existierte durchaus ein politischer und gesellschaftlicher Aktionsgeist. Das hippiereske Denken basierte vor allem auf einer Enthierachisierung, einem Abbau von autoritären Strukturen und einer Entschleunigung von Zeit. Den sogenannten Blumenkindern war all die grassierende „Rationalität, die kalte Logik der Leistungs- und Warengesellschaft“ (aus Bundeszentrale für politische Bildung) zuwider. Stattdessen entsannen sie die „spirituelle Intensität = Fühlen statt Denken als Gegenmittel“ (s.o.). Noch heute wird allzu viel Emotionalität und Schöngeistigkeit mit Amüsement seitens der Rationalisten bedacht und allenfalls zu Karneval wird die eigene Steifheit und emotionale Insuffizienz durch eine fantasielose Hippieverkleidung inklusive unvermeidlicher Plastiklanghaarfrisur aus der Verkleidungsabteilung von Karstadt retuschiert.
Doch wo sind sie hin, all die Hippies? Wo sind sie geblieben? In seinem Buch „Die Stadt der Sehenden“ beschreibt der portugiesische Autor Jose´ Saramago dieses Phänomen sehr prägnant: Es sind heute Männer und Frauen, „…die früher als Achtzehnjährige, nicht nur heitere Frühlingspflänzchen waren, sondern vor allem stolze Revoluzzer, wild entschlossen, das System ihrer Eltern niederzureißen und stattdessen das Paradies, nun ja, der Brüderlichkeit zu errichten, sich heute jedoch mit derselben Überzeugung auf Positionen und Verhaltensweisen zurückgezogen haben, die nicht mehr nur dem gemäßigten Konservativismus zuzurechnen sind, der diente nämlich nur zum Aufwärmen, sondern dem rücksichtslosesten, reaktionärsten Egoismus….diese Männer und Frauen spucken vor dem Spiegel ihres Lebens Tag für Tag dem, was sie einst waren, das, was sie heute sind, ins Gesicht.“
Zurück nach Machynlleth. Schon beim Aussteigen aus dem Kleinbus bietet sich unaufgefordert ein älterer Nichthippie an, uns die Bushaltestelle für den Rückweg zu zeigen. Er beendet seine Ausführungen mit einem warmen „Welcome“, das wir an dem Tag noch häufiger hören werden. Aus einem vorbeifahrenden Auto winkt mir ein unbekannter Langhaarträger zu und zeigt mit dem Daumen nach oben. Man versteht sich hier länderübergreifend! In den vielen ungewöhnlichen Geschäften treffen wir zahlreiche etwa gleichaltrige Geschäftsleute, denen ihr Exhippietum durchaus noch anzusehen ist. Neben einer gewissen Verlebtheit liegt in ihrem Verhalten so etwas ungewohnt Ungehetztes, Nichtkonformistisches und gleichzeitig Persönliches. Man hat fortdauernd das Gefühl, es besteht eine authentische Beziehung zwischen dem Verkäufer und dem Kunden. Man ist hier nicht Mittel zum Zweck, sondern ein konkreter Kunde, dem für die Zeit des Aufenthalts im Laden alle Aufmerksamkeit geschenkt wird. In einem Antiquitätenladen riecht es etwas nach Cannabis. Die Bäckersfrau mit deutschen Wurzeln und weit entfernt von jeglichem Hippietum beginnt ein freundliches Gespräch mit uns über Paderborn und ein Exsoldat, vor Jahrzehnten in Dortmund kaserniert, spricht mich auf meine von meiner Schwiegermutter geschneiderte bunte Jacke an, die ihm gut gefalle. Er wünscht uns eine schöne Zeit.
Geprägt ist Machynlleth vor allem durch das nahgelegene CAT, ein Zentrum für alternative Technik. Auch in vielen Läden ist dieses alternative Element präsent. Obschon es sich bei der Stadt eher um einen kleinen Ort handelt, der aus zwei T-förmig aneinander liegenden Straßen besteht, gibt es hier einen Bioladen und ein Café, in dem ausschließlich biologisch angebaute Produkte aus der Umgebung angeboten werden. Hier trifft man Exhippies, Noch- und Neuhippies, sowie Nichthippies in trauter Gemeinschaftlichkeit. Mein Nachbar draußen am Tisch nickt mir freundlich zu und fragt, ob ich mir eine Zigarette von seinem Tabak drehen möchte. Beinah finde ich es schade, dass ich nicht mehr rauche. Eine der jungen Frauen, die im Cafe bedienen, frage ich nach einem Campingplatz in der Nähe. Die ständig sympathisch lächelnde Frau hat keine wirkliche Ahnung, aber sie fragt so lange bei ihren Kolleginnen und Kunden nach, bis sie eine halbwegs zufriedenstellende Antwort gefunden hat. Irgendwie werde ich den Gedanken nicht los, dass sich die Machynllether vor allem darin hervortun, eigenständige Persönlichkeiten zu sein, die ihr reales Selbst leben, anstatt es sich vorleben zu lassen. Sie wirken lebendig und nicht wie zu Lebzeiten erstarrte Mumien.
Wir verlassen den Ort beide sehr nachdenklich. Ob es sich mit den Hippies tatsächlich so verhält wie mit den Elchen in Schweden erscheint uns nachrangig, dass aber unserem Leben außerhalb des Urlaubs eine gewaltige Portion Hippietum nicht schaden könnte, wird zu einem der „allurlaublichen“ Vorsätze, von denen die meisten übrigens umgesetzt werden. Vielleicht bräuchte man in so kalten Zeiten wie diesen viel mehr Orte wie Machynlleth.