Sagenhaftes England
Eine Rundreise durch die Midlands und Wales

Die Stimme Englands flüstert mir zu, dringt in mich ein und wird Teil von mir. Dieses warme Gefühl für England ist kein leichtes, flüchtiges, wie ich es bei einigen anderen Aufenthalten erlebt habe. Dieses Gefühl beeinflusst mich in meinem Denken und Handeln.

Schon von weitem leuchten uns die weißen Felsen von Dover entgegen. Den Heimkehrenden sagen sie vielleicht: „Freu dich, du bist wieder zu Hause!“ und den Besuchern der Insel: „Wir grüßen dich, Reisender! Sei uns willkommen!“ Für uns ist es von beiden ein wenig. Es wäre vermessen zu sagen, es ist unser Zuhause, aber die Freude auf dieses Land ist fast wie die eines Heimkehrenden.

Die Namen der Städte bis Reading auf dem Weg nach Oxford klingen vertraut, dann kommen wir in das für uns unbekannte Oxfordshire und die ersten anheimelnden Cottages liegen am Rande der Straße. Endlich reiht sich kein Durchgangsort mehr an den anderen, das Grün wird nur selten durch kleine Häuser und ihren bunten Gärten unterbrochen. Es ist alles so wie ich es mir vorgestellt und erhofft habe.

 

Standlake und Oxford

Standlake (Foto Arnold Illhardt)
Standlake (Foto Arnold Illhardt)

Hier und da blitzen kleine Häuser mit der für England typischen Fachwerkbauweise aus dem alles beherrschenden üppigen Grün. Kleine Flüsse mäandern durch die Weiden und die rechts und links stehenden Bäume bilden ein Dach über den Straßen. Nicht weit von Oxford entfernt liegt Standlake, ein hübsches stilles Dorf. Das, was wir brauchten um zur Ruhe zu kommen nach der anstrengenden Anreise und um aufnahmefähig zu sein für die kommenden Tage. Es wäre unmöglich mit einem abgekämpften und erschöpften Geist durch die Städte zu laufen, auf die ich mich schon seit Monaten so sehr gefreut habe. Am Ortsrand befindet sich ein kleiner aber ruhig gelegener Campingplatz, der bestimmt einer der schönsten (wenn das die passende Bezeichnung für einen Campingplatz ist) Plätze war, auf dem wir in England bisher standen. Was mich aber kindlich begeistert, sind die fast handzahmen Eichhörnchen, die uns regelmäßig zu unseren Mahlzeiten besuchen kommen und uns aus der Hand fressen.

Speiseraum Christ Church (Foto Arnold Illhardt)
Speiseraum Christ Church (Foto Arnold Illhardt)

Idealerweise befindet sich gegenüber des Platzes eine Bushaltestelle, der stündlich fahrende Bus bringt uns am nächsten Tag direkt in die Innenstadt von Oxford! Das weltberühmte Oxford ist eine der ältesten und berühmtesten Universitätsstädte. Beeindruckt wandern wir durch die ehrwürdige Stadt, vorbei an den vielen Colleges, wie, um nur drei der bekanntesten zu nennen, dem Balliol College (gegründet im Jahr 1263), das wohl die meisten ausländischen Studenten beherbergt und zu dessen Ehemaligen einige Premierminister zählen und dem Magdalen College (gegründet im Jahr 1458), eines der renommiertesten und schönsten Colleges. Nur im Christ Church College verweilen wir viel länger. Gegründet im Jahr 1546 ist es gewiss das exklusivste der 40 Colleges von Oxford. Viele berühmte Persönlichkeiten der englischen Geschichte, aber auch der jetzigen Politik besuchten die alten Hallen und Hörsäle. Umgeben ist das College von einem weit reichenden Parkgelände. Studenten und Schüler in Schuluniform spazieren zufrieden blickend über den Kieswegen oder feiern ihre bestandenen Prüfungen mit Sekt, alles wirkt so „normal“ auf mich. Auf einem kleinen abgetrennten Teil des Parks spielen einige junge Leute Cricket. Was mich eigentlich wundert, denn die großen Schilder mit der Aufschrift „Keep off the grass!“ sind nicht zu übersehen. Von wegen deutsche Eigenart! Auch das Kino machte sich Christ Church zunutze. Fast jeder, der einmal einen Harry Potter Film gesehen hat, wird im Speisesaal den von Hogwarts, der Zauberer Schule erkennen. Und was vielleicht viele nicht wissen: in diesem College unterrichtete Lewis Carroll, der Schöpfer von „Alice im Wunderland“ unter seinem richtigen Name, Charles Lutwidge Dodgson, Mathematik.

Während wir durch das alte Gemäuer laufen, durch den Bogengang rund um den grasbewachsenen Innenhof, Quad genannt, versuche ich, mich Jahrhunderte zurück zu versetzen. Die Schwellen zu den verschiedenen Büros sind abgetreten, so viele Jahre dient dieses Gebäude schon der Lehre. Ich, als Frau in den 50igern, beneide die jungen Studenten um dieses Gefühl des Stolzes, in diesen altehrwürdigen Mauern zu lernen. Später sitze ich tief beeindruckt in der Christ Church Cathedral und bewundere die Architektur, die wunderschönen Glasfenster und die Holzdecke. Bedauernd verlassen wir diesen Ort, der verwunschen wirkt, aber auch gleichzeitig irgendwie real, denn: Quiet please! Exams are in work!

 

Blenheim Palace und Woodstock

Blenheim Palace (Foto Marion Illhardt)
Blenheim Palace (Foto Marion Illhardt)

Schon in meiner Kinder- und Jugendzeit zogen mich Schlösser und Burgen magisch an. Das Unterrichtsfach Geschichte hat mich fasziniert, jeder Epoche war ich den Geheimnissen und den Persönlichkeiten auf der Spur! Ethnologie war dagegen für mich weniger interessant wie auch die Archäologie. Jedoch Kunsthistorik und die Geschichte der verschiedenen Baustile beeindruckten mich außerordentlich. In den gemeinsamen Urlauben mit meinen Eltern wusste ich genau, wo welcher Adelssitz, welche Burg, ein hochinteressantes Museum lag oder historische Ereignisse stattfanden und nötigte meine Eltern, mit mir dorthin zu fahren. Überhaupt war die Landschaft eher zweitrangig, was meinen Vater so manches Mal sehr ärgerte.

England ist ein Land mit einer überaus spannenden und aufregenden Geschichte, vielen Adelsgeschlechtern und deren Sitzen! Zu den bekanntesten adeligen Familien gehören sicher das Haus Marlborough und der dazu gehörige Sitz Blenheim Palace, dem größten nicht königlichen Fürstensitz in England!

Beim Eintritt erhalten wir eine Broschüre mit Informationen über das Schloss, seinen Garten und den regelmäßig stattfindenden Veranstaltungen sowie den Führungen über das Anwesen und durch den Palast. Das Grußwort wurde vom jetzigen Herzog von Marlborough, dem 11. Duke of Marlborough, verfasst und zeigt ihn mit Frau und seinen Kindern. Es scheint eine ganz lockere „normale“ Familie zu sein! Doch, einer Familie allein gehört dieses Stück England? Was empfinden sie dabei und gibt es im gewöhnlichen Alltagsleben dieser Familie eine gewisse Normalität? Wie beeinflusst die Geschichte ihrer Vorfahren wohl ihr Leben, ihr Denken und Handeln?

Der Parkplatz liegt ca. 200 m vom ersten! Eingangstor des Schlosses entfernt. Wir folgen dem Weg, der rechts um das vor uns liegende Gebäude herumführt und befinden uns in einem verhältnismäßig kleinen Innenhof. Von hier gelangt man wiederum durch ein Tor und steht dann vor dem eigentlichen links liegenden Prachtbau, der wie ein riesiges U angeordnet ist. Ein weitläufiger Park mit auserlesenem altem Baumbestand umgibt das Haus, leicht wellig zieht er sich weit hinunter zu einem großen, leuchtend blauen See. Schmale Wege ziehen sich durch die Anlage, vorbei an kleinen Bachläufen und einem Rosengarten, die Sonne scheint und es ist ein absoluter Genuss durch diesen Park zu wandeln. Etwas abseits kann der Besucher ein Treibhaus mit seltenen Schmetterlingen besuchen und, wer sich traut, den Weg durch ein Labyrinth einschlagen.

Zinnsoldaten Blenheim Palace (Foto Arnold Illhardt)
Zinnsoldaten Blenheim Palace (Foto Arnold Illhardt)

Der feudale protzige Wohntrakt mit einer Wohnfläche von ca. 12.000 qm wurde für den 1. Duke of Marlborough von Queen Anne für seine Verdienste bei der Schlacht von Höchstädt an der Donau (1704) erbaut. Auch heute noch ist im Palast in jedem Winkel der Krieg gegenwärtig, sei es durch die vielen Vitrinen bestückt mit Zinnsoldaten, die die damalige Schlacht nachstellen oder die unzähligen riesigen Gemälde der erfolgreichen Kriegsherren aus dem Hause Marlborough. Oder ist es vielleicht dem berühmtesten Sohn der Familie geschuldet, dass Blenheim Palace mit Krieg und Politik in Verbindung gebracht wird: Sir Winston Leonard Spencer-Churchill, Enkel des 7. Herzogs von Marlborough der am 30. November 1874 in Blenheim das Licht der Welt erblickte. Er war der Premierminister von Großbritannien, der es durch den 2. Weltkrieg führte und von dem folgender Ausspruch stammte:

We shall go on to the end, we shall fight in France, we shall fight on the seas and oceans, we shall fight with growing confidence and growing strength in the air, we shall defend our island, whatever the cost may be, we shall fight on the beaches, we shall fight on the landing grounds, we shall fight in the fields and in the streets, we shall fight in the hills; we shall never surrender.“

Doch insgesamt sind hier die Relationen etwas aus den Fugen geraten. Der Rundgang endet in der gewaltigen Bibliothek des Hauses, an dessen Kopf eine riesige Orgel steht. Diese Orgel wäre einer Kathedrale würdig, doch sie wurde für den 8. Duke of Marlborough gebaut und ist mit ihren 2.300 Orgelpfeifen das größte in Privatbesitz befindliche Instrument!

Im 1. Weltkrieg wurde die Bibliothek übrigens als Sanatorium für verwundete Soldaten genutzt.

Tierischer Begleiter Park Blenheim Palace (Foto Arnold Illhardt)
Tierischer Begleiter Park Blenheim Palace (Foto Arnold Illhardt)

Im Cafe des Innenhofes kann man sich nach der Besichtigung wunderbar erholen, das internationale Publikum beobachten, sehr gut essen und im angrenzenden „Gift-Shop“ schon die ersten Weihnachtsgeschenke erwerben. Ein Artikel schöner und exklusiver als der andere. Von Porzellan, Glas, Literatur, Haus- und Eingemachtes, herrliche Tücher und erlesene, typisch englische Garderobe ist alles käuflich zu erwerben.

So prächtig der Bau auch ist, prächtig bedeutet ja nicht unbedingt, dass das jeweilige Objekt dem Betrachter auch gefällt, so klein, gemütlich und hübsch ist der dazugehörige Ort: Woodstock! Außerordentlich nette kleine Boutiquen, Pubs und reizende Häuser warten auf den Besucher, der der Pracht und dem Protz überdrüssig ist und dem jetzt nach Ruhe und Anmut ist. Übrigens: Nicht zu verwechseln mit dem legendären Festival-Ort von 1969 im Staate New York!

 

Die Cotswolds

Cotswolds Bibury (Foto Arnold Illhardt)
Cotswolds Bibury (Foto Arnold Illhardt)

Die Cotswolds ist eine Gegend im Herzen des Landes, die für mich als Synonym für das liebliche und verträumte England steht. Dort stehen die typischen Häuser und Cottages mit ihren von Blumen überschäumenden Gärten umgeben von der sanften grünen Landschaft. Sehen und verlieben ist eins. Der erste Ort den wir anfahren ist das idyllische Bibury. „The most beautiful village in England“, so steht es im Reiseführer. Das mochte zu der Zeit als William Morris dies sagte, auch so gewesen sein, jedoch wird heute das Schöne empfindlich durch die Massen der Touristen (hier tun sich vor allem asiatisch aussehende Menschen hervor) gestört. Die kleinen geduckten „Hobbit“-Häuser mit den herrlichen bunten Gärten sind fast auf jeden Blumenkalender zu finden. Die bekannteste Straße Biburys und dazu die meistfotografierte ist sicherlich Arlington Row. Jedenfalls war uns kein Foto ohne einen störenden Besucher gegönnt.

Bioladen in Broadway (Foto Arnold Illhardt)
Bioladen in Broadway (Foto Arnold Illhardt)

Im nächsten Ort Bourton-on-the-Water, wurden wir schon von den Bussen erwartet, die kurz vor uns Bibury verlassen hatten. Auch hier emporgestreckte Handys mit Stange und die obligatorischen Regenschirme, die die Reiseführer erkenntlich machten. Der Ort selbst ist fürwahr sehr attraktiv, ein kleiner Fluss windet sich hindurch, über den fünf schmalen Brücken, die dem Ort den Spitznamen „Venedig der Cotswolds“ gegeben haben, kommt man in den Ortskern, der eher klein ist. Überhaupt haben die Hälfte der Dörfer der Cotswolds nicht mehr als 300 Einwohner.

Einige unserer japanischen Cotswold-Begleiter habe ich dann im dritten Ort, Broadway, schon von weitem erkannt. Und das ist schon eine Leistung! Der Name des Ortes kommt nicht von ungefähr, denn nur eine breite, von Kastanien gesäumte, Straße zieht sich durch den Ort! Eben ein Broadway! Es ist eine elegant wirkende Stadt mit teuren Boutiquen und Antiquitätenläden und, das muss unbedingt erwähnt werden, dem schönsten Bioladen, den ich je gesehen habe! In einem alten Fachwerkhaus, mit verschiedenen völlig schiefen kleinen Ebenen, knarrenden Fußböden und einem angenehmen Geruch nach Käse, frischen Brot und Gewürzen und einem jungen Angestellten, der nicht verbergen konnte, dass sein Herz für das Schlagzeug schlägt!

 

Stratford-upon-Avon bis zum Peak District

Anne Hathaway´s Cottage (Foto Arnold Illhardt)
Anne Hathaway´s Cottage (Foto Arnold Illhardt)

Von Stratford-upon-Avon, schon um einiges nördlich der Cotswolds und bekannt durch seinen weltberühmten Bewohner Shakespeare, haben wir nicht viel gesehen. Ab diesem Abschnitt unserer Reise fing das schmuddelige Wetter an, zudem konnten wir auf dem anvisierten Campingplatz nur eine Nacht bleiben und so wurden wir das erste Mal vor eine Wahl gestellt: Die Stadt anschauen oder Anne Hathaway‘s Cottage? Wir wählten das Cottage und es war goldrichtig! Das reetgedeckte bezaubernde Fachwerkhaus, in dem Shakespeares Frau vor ihrer Heirat lebte, ist typisch für diese Gegend und wirkt so harmonisch auch durch den entzückenden Garten, dass man sich nur schwer von dieser Postkartenidylle trennen kann. In dem kunterbunten Garten, der aufgeteilt ist in Obst-, Gemüse-, Kräuter- und Blumengarten gibt es viele unbekannte Gewächse und Blumen zu entdecken und verschiedene Ruhepunkte laden zum Verweilen ein. Insgesamt war es ein Highlight unseres Urlaubes.

Mylady (Foto Arnold Illhardt)
Mylady (Foto Arnold Illhardt)

Eine Besichtigung von Warwick Castle sollte man sich genau überlegen, vor allem dann, wenn man beabsichtigt mit Kindern dort hin zu fahren. Wir mussten ca. 60 Pfund bezahlen, Kerker exclusive! Warwick Castle ist eine sehr romantische Burg, die später schlossähnlich umgebaut wurde und von einem weitreichenden Park umgeben ist. Heute gehört das Gebäude Madame Tussaud’s und natürlich sind Teile der Wohnräume mit Wachsfiguren ausgestattet. Die Szenerie der wächsernen Protagonisten wirkt so lebensecht auch durch die Gespräche, die man durch verborgene Lautsprecher mithören kann, es ist direkt ein wenig erschreckend. Furchtbar und heftig abstoßend sollen die Kerker der Burg sein, hier hat sich Madame Tussaud ebenfalls wirklichkeitsgetreu ausgetobt. Kinder sollten den Kerker meiden, die „gefolterten Darsteller“ sollen grauenhaft aussehen.

Robin Hood haben wir vergebens gesucht. Selbst der Sherwood Forest, im Ausland das bekannteste Waldgebiet Englands, ist auf einen kümmerlichen Rest geschrumpft. In Edwinstowe steht ein Besucherzentrum mit Souvenirs und allen möglichen Dingen, die man mit dem vogelfreien Edelmann Robin von Locksley und seiner Marian Fitzwalter in Verbindung bringen könnte, doch für uns, die wir mit dem Held unserer Jugend mitgekämpft, gelitten und geliebt haben, war es letztendlich sehr ernüchternd und wirkte eher billig. Selbst in der St. Mary’s Church, wo angeblich Robin seine Marian geheiratet haben soll, ist von dieser Legende absolut nichts zu finden. Desillusioniert nahmen wir Abschied von unserer heißgeliebten Sagengestalt und somit auch einem Teil unserer Jugend, doch Robin wird bei Warner Brothers weiterleben, die ihn wohl letztendlich vermarktet haben.

Wales we are coming (Foto Marion Illhardt)
Wales we are coming (Foto Marion Illhardt)

Von den Midlands zur Küste nach Wales geht es durch den südlichen Ausläufer des Peak District, Englands ältestem Nationalpark. Hier finden wir das, was wir uns vom Sherwood Forest erhofft hatten: dichte Wälder mit einem sagenhaften Grün, wilde Schluchten mit reißenden Bächen und überspannt mit hohen, gefährlich aussehenden Aquädukten. Kleine versteckte Bauernhäuser wechseln sich ab mit lieblichen Hügeln und einer unglaublichen Fernsicht. Eine Landschaft, die auch vor hunderten von Jahren so hätte aussehen können, mit Wäldern, in denen Feen und Druiden lebten. Vor unserer Windschutzscheibe läuft ein fantastischer Naturfilm ab, in unserem Kopf verbindet sich die Realität mit unserer Fantasie, unsere Gespräche verstummen und wir tauchen ein in dieses grandiose Panorama!

 

Wales

Und plötzlich: Wales! Der Übergang von Mittelengland zu Wales verlief schleichend, wir sind hier wie dort durch großartige Landschaften gefahren. Doch vielleicht ist die Landschaft in Wales etwas abwechslungsreicher und die Bergdörfer etwas kleiner und originärer.

„Wer den Norden von Wales nicht gesehen hat, hat Wales nicht gesehen!“ So steht es in unserem Reiseführer (Michael Müller Verlag). Ja mag sein, doch ich bin wales-infiziert und werde mit Sicherheit irgendwann zurückkehren, daher brauche ich mir darum keine Sorgen machen.

Railroad Llangollen (Foto Arnold Illhardt)
Railroad Llangollen (Foto Arnold Illhardt)

Llangollen ist die Endstation der längsten Museumsbahn in Wales, zwölf Kilometer kann man mit der Dampflok am Dee-Fluss entlang bis nach Carrog fahren. Der dazugehörige kleine Bahnhof ist dem Zug entsprechend historisch eingerichtet und alte Reisekoffer und riesige Überseekoffer stapeln sich auf dem Gleis. Es ist wahrlich ein Erlebnis, wenn sich die schnaubende Dampflok mit ihrem Pfeifen und dem weithin sichtbaren Dampfwolken langsam in den Bahnhof hereinschiebt und dann mit einem gewaltigen Ruck zum Stehen kommt. Ein kleiner Junge mit kurzen Hosen, einem blauen Matrosenhemd und Strohhut läuft an mir vorbei, in der rechten Hand einen Stock mit dem er seinen Reifen treibt. Ein anderer vorwitziger Knabe trabt auf seinem Steckenpferd um die aufgestapelten Koffer einer etwas blasiert aussehenden Dame mit einem riesigen Strohhut, auf dem eine Straußenfeder prangte. Aufgeregt wedelt sie mit ihrem parfümierten Taschentuch und beobachtet den schwitzenden Dienstboten, der sich mit dem restlichen Gepäck abmüht. Nur schwer kann ich mich in die Realität zurückbeamen… Ach, da ist wohl die Phantasie mit mir durchgegangen.

Narrow Boat (Foto Arnold Illhardt)
Narrow Boat (Foto Arnold Illhardt)

Von unserem Standort etwas außerhalb des Stadtzentrums spazieren wir an einem kleinen befestigten Flußlauf entlang, nicht ahnend, dass es sich hier um den zweiten Bonuspunkt von Llangollen handelt: Dem Llangollen Canal, der mit seinen 66 km zu den schönsten Kanälen in Großbritannien gehört. Diese Erkenntnis kommt uns ca. einen km später, als wir einen kleinen Hafen passieren. Sonderbarerweise gibt es hier auch Pferdeställe, deren Grund uns erst nicht so richtig einleuchten will. Bei näherer Betrachtung der langen Kähne (Narrow-Boat), die durchaus 22 m lang sind, aber allerhöchstens 2,50 m breit und extrem flach sind, geht uns ein Licht auf: es sind Treidelkähne, die rechts des Kanals auf einem Pfad von Pferden gezogen werden. Mit diesen Booten hat man früher größere Mengen an Gütern von einer Stadt zur anderen transportiert. Heute wird der Kanal größtenteils nur noch touristisch genutzt.

Uhrturm Machynlleth (Foto Arnold Illhardt)
Uhrturm Machynlleth (Foto Arnold Illhardt)

Auf die Stadt Machynlleth waren wir schon zu Hause gespannt. Sie gilt als „grüne Hauptstadt“ von Wales und zudem als Zentrum der Hippiekultur. Auf den ersten Blick ist die Stadt eher enttäuschend, fast schon schäbig anzusehen. Doch man darf ihre Aussage nicht vergessen, es lohnt sich, einen zweiten Blick zu wagen! Als Besucher oder Touristen, die wir ja wirklich sind, auch wenn wir uns in Wales nicht so fühlen, und mit einem gewissen Anspruch zuhause „residieren“, erwartet man den gleichen Standard vorzufinden. Doch so ist Wales einfach nicht. Das haben wir schon in 2014 feststellen können. Das Äußere ist hier nur in dem Maße wichtig, als es Gefühl und Wärme rüberbringt. Ob die Farbe der Haustür nun langsam abblättert oder ein neuer Hausanstrich dringend nötig ist, egal! Doch bahnt sich zwischen den Fugen der Terrassenplatten eine Petunie ihren Weg, wird sie gegossen wie die anderen Blumen auch! Altes Mobiliar wird so lange genutzt bis es auseinanderfällt, man kann die Schäden ja mit Plaids zudecken. Kleine Cafés werden liebevoll mit gebrauchten Möbeln kunterbunt eingerichtet, die Kuchen sind auf jeden Fall selbstgemacht und, wie es in Machynlleth überall gehandhabt wird, das Obst und Gemüse kommt vom nahen Biobauern oder aus dem eigenen Garten. Es ist eine kleine Stadt, die im Grunde nur durch zwei t-förmig angelegte Straßen besteht, doch diese Stadt sprüht nur vor Lebendigkeit und Freundlichkeit. Die Waliser sind ein überaus herzliches und freundliches Volk und total stolz auf ihre Sprache. Heute ist das Kymrische voll akzeptiert und wenn man im Gespräch nur versucht ein paar Worte auf walisisch zu sagen, macht man sich Freunde. In den drei Tagen, die wir dort waren, haben wir mehr Gespräche führen können, wie in keiner anderen Stadt in England. Überraschenderweise auch Gespräche auf Deutsch, man freute sich diebisch darüber uns auf einer Frage in Deutsch zu antworten. Auch über die Jacke meines Mannes war ein alter Veteran so entzückt, dass er uns über die Frage nach dem Design der Jacke hinaus fast seine bisherige Lebensgeschichte erzählte, angefangen von seiner Militärzeit in Deutschland. Bioläden, Biobäcker und zahlreiche Antiquitätenleiden säumen die Straßen und dazwischen Cafés und urige Pubs. Das wir keine Hippies gesehen haben, lag eindeutig daran, dass die Hippies von damals, genau wie wir, älter und gesetzter wurden. Doch dem einen oder der anderen sah man das gelebte Leben an.

In den 50er Jahren war Machynlleth einer der Favoriten in der Entscheidung, welche Stadt Hauptstadt von Wales wird. Grund hierfür war wohl ein historischer: der Nationalheld Owain Glyndwr ließ sich hier 1404 zum Prince of Wales krönen.

Teatime (Foto Arnold Illhardt)
Teatime (Foto Arnold Illhardt)

Die alte profanisierte Kapelle Y Tabernacle beherbergt heute das MOMA Cymru, das Museum of Modern Art Wales. Zu sehen sind hier vor allem Künstler aus Wales. Auch für kulturelle Veranstaltung wird das Museum genutzt, der nicht mehr benötigte Kirchenraum wurde kurzerhand zum Theater umgebaut. Auch das bedeutet nachhaltig leben: Leerstand sinnvoll nutzen und ihm eine andere Verwendung zu geben.

Außerhalb der Stadt ist 1973 das Center for Alternative Technology entstanden. Ursprünglich eine Ökokommune ist es nun eine der größten Attraktionen in Wales, ein Erlebnis- und Experimentierzentrum für die ganze Familie. Vieles was hier entwickelt und weiterentwickelt wurde, entstand durch die Notwendigkeit. Spannende Projekte für den ökologischen Gartenbau, für die Solarenergie, Biomasse und Wasserentsorgung- und versorgung werden hier vorgestellt. Siehe auch: https://querzeit.org/gesellschaft/stadt-der-hippies

Blick auf Aberystwyth (Foto Arnold Illhardt)
Blick auf Aberystwyth (Foto Arnold Illhardt)

Aberystwyth wollten wir uns schon vor zwei Jahren anschauen, doch die Entfernung von unserem damaligen Urlaubsort war recht weit. Ich hatte im Vorfeld schon den Eindruck, dass so viele Orte in Wales überhaupt nicht berücksichtigt werden. Welche Orte fallen einem als erstes zu Wales ein? Cardiff und Swansea! Wenn man diese Orte überhaupt mit Wales in Verbindung bringt. Wales wird eher mit Landschaft, wilder Küste und dem Prince of Wales assoziiert. Doch diese Orte, die wir in diesen zehn Tagen besichtigt haben, gehören zu den vornehmlichsten Städten von Wales. Aberystwyth ist der größte Ort in Wales und die Hauptstadt von Mittelwales. Man sagt, Aberystwyth ist die walisischste aller walisischen Städte.

Die Stadt war ehemals Seebad, heute sitzt hier die erste Universität des Landes mit 13.000 Studenten und die National Library. Die Stadt brodelt vor Lebendigkeit, hier findet ein unglaubliches Kulturleben statt.

Von unserem Stellplatz wandern wir über den Constitution Hill in die Stadt hinein. Oben am Gipfel des nur wenige hundert Meter hohen Hügels hat man einen fantastischen Blick auf die Cardigan Bay und die Stadt. Auf der Stadtseite führt eine Railway-Seilbahn den Gipfel hoch, die ca. 280 m fährt man mit nur vier Meilen pro Stunde den Gipfel hoch. Es ist die am längsten betriebene elektrische Seilbahn in Großbritannien. Als wir mit ihr einen Teil unseres Heimweges antreten wollten, funktionierte sie allerdings nicht. Doch im Alter darf das durchaus auch mal passieren, so geht es uns auch hin und wieder.

zweckentfremdet (Foto Marion Illhardt)
zweckentfremdet (Foto Marion Illhardt)

An der Promenade entlang flanieren wir am Old University College entlang zum Castle, von dem allerdings nur noch Ruinen vorhanden sind. Auch die edwardianischen Häuser mit Blick auf die Bucht haben sicherlich schon viel bessere Tage gesehen, doch überall in der Stadt wird tüchtig renoviert. Übrigens hat man von hier aus bei schönem Wetter durchaus mal das Glück, Delphine zu beobachten.

Es sind auffallend wenige Reisegruppen unterwegs, dafür ist die Stadt voll mit den unterschiedlichsten Studenten: orthodoxe Juden sind hier genauso vertreten wie ultrakonservative EngländerInnen oder Dreadlocks-TrägerInnen. Die Stadt ist überaus bunt, überall finden sich flippige Läden, die schönsten Antiquitäten-Geschäfte und in jeder Straße finden sich mindestens zwei Second-Hand-Läden.

In einem dieser „bunten“ Restaurants, die keine reinen Lebensmittelläden sind, aber auch keine Restaurants, essen wir zu Mittag. Es ist ein schmales altes Haus, vier Stockwerke hoch und in jeder Etage kunterbunte Sitzmöglichkeiten, von Biedermeier bis hin zu 70er-Jahre-Stil ist alles vorhanden. Die Fenster sind weit geöffnet und statt Einheits-Blumenkästen gibt es alte ausgediente Blechdosen für die Balkonblumen. Ein ordnungsloses aber liebenswertes Durcheinander auch an den Wänden und unter der Zimmerdecke. Künstlerisches und Na ja-Kunst sowie Handgearbeitetes von Oma führen hier eine friedliche Koexistenz. Ob die junge Mutter nun gerade ihren Säugling stillt oder das alte Ehepaar Zeitung liest, alles ist hier möglich! Auf jeder Etage findet sich eine chaotische Spielecke, doch nicht nur für Kinder! Und auf dem nächsten Dach zwischen den Schornsteinen nisten die Möwen und versorgen ihre Küken.

Es fällt mir schwer diesen Ort zu verlassen, doch das Wetter wird schlechter und wir müssen nun langsam an die lange Heimfahrt denken. Doch für diesen Abschnitt haben wir uns noch etwas ganz besonderes vorgenommen. Es ist zwar nicht der direkte Weg zurück, doch diese Stadt ist es wert einen Umweg zu nehmen! Hay-on-Wye! Das Königreich der Bücher!

Bücher-Trockenraum (Foto Arnold Illhardt)
Bücher-Trockenraum (Foto Arnold Illhardt)

Es gibt auf der Welt keinen Ort in dieser Größenordnung, der annähernd so viele Buchantiquariate besitzt wie Hay! Zudem besitzt die Stadt einen selbsternannten König mit Pferd als Premierminister und will nicht mehr Mitglied der EU sein. Wenn die Bücher schon nicht Grund genug sind hierher zu kommen, dann doch diese Tatsache! Alles begann damit, dass der Engländer Richard Booth 1962 nach Hay kam und dort einen Buchladen eröffnete, später ein Buchantiquariat, dem weitere folgten. Seine Bestände kaufte er bei aufgelösten oder insolventen Bibliotheken und Buchläden. Mittlerweile verfügt der kleine Ort über ca. dreißig Buchläden verschiedener Genre. In den 70ern war Hay-on-Wye bereits weithin als Bücherstadt bekannt, doch seinen Höhepunkt erlebte es, als Booth sich 1977 zum König erklärte und sein Pferd zum Premierminister. Es ist nicht bekannt, ob es reine Publicity war oder ob ihm der Bücherstaub zu Kopf gestiegen ist. Mittlerweile lebt er zurückgezogen außerhalb der Stadt.

Jedes Jahr gibt es hier übrigens ein Bücherfestival, das weit über die europäischen Grenzen bekannt ist und auch schon viele Ableger gefunden hat. Die Unterkünfte in Hay sind häufig schon über Jahre hinaus ausgebucht, wenn das Hay Festival of Literature and the Arts stattfindet. Hier gibt es genauere Informationen: www.hayfestival.com.

Hay-on-Wye(Foto Arnold Illhardt)
Hay-on-Wye(Foto Arnold Illhardt)

Doch auch wer sich nichts aus Bücher macht, wird an Hay seine Freude haben. 3s ist ein hübscher beschaulicher Ort, mit liebevoll gepflegten viktorianischen Häusern und kleinen schmalen Gassen. Schöne Antiquitätenläden, duftende Bioläden und Boutiquen der Extraklasse warten auf die Touristen. Und dazwischen die vielen kilometerlangen Reihen an Bücherregalen, die 365 Tage im Jahr zum Verweilen einladen!

Überall ist Farbe und Licht und manchmal verschlägt es einem den Atem! Dieses Land öffnet die uns gegebene Fantasie und Inspiration!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alle Bilder der Galerie (Fotos: Marion & Arnold Illhardt):