Brasilien ist nicht nur Samba, Karneval, Fußball und halbnackte Mulatas an der Copacabana. Oder Drogenkriminalität, Favelas, Straßenkinder und die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes. Wer weiß schon, dass es viele deutsche Auswanderer dorthin verschlagen hat, oder dass es in São Paulo, dem 20-Millionen-Moloch im Südosten des Landes, unzählige Niederlassungen und Tochtergesellschaften deutscher Firmen und Konzerne gibt? Sechs Jahre habe ich in diesem wunderbaren Land verbracht – und beinahe wäre ich ganz dageblieben …
Es ist bereits eine Weile her, dass ich in dem größten Land Südamerikas gelebt habe, aber meine Erinnerungen daran sind noch immer frisch. Alles, was ich hier berichte, beruht auf meinen persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen. Ich stelle meine ureigene Sicht der Dinge dar, erhebe also keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Die Mehrheit der Fotos ist entstanden, als analoge Fotoapparate noch häufiger verwendet wurden als Digitalkameras. Ich habe viele Papierfotos abfotografiert, von daher sind die Bilder etwas unscharf, was ihrer Aussagekraft hoffentlich keinen Abbruch tut. Als Urheber ist jeweils die Person erwähnt, die das Foto gemacht hat.
Warum Brasilien?
Meine Faszination für Brasilien begann schon im Kindesalter dank Else Urys Nestkäkchen-Buchreihe, die erstmals im Jahre 1928 veröffentlicht wurde. Nesthäkchen, die eigentlich Annemarie Braun heißt, ist die Tochter eines Arztes in Berlin. In 9 Bänden kann man ihren Lebensweg von der Einschulung bis zum hohen Alter verfolgen. Im 7. Band lernt Nesthäkchens hübsche, aber ziemlich widerspenstige Tochter Ursel den feschen Brasilianer Milton Tavares kennen, der in Berlin Musik studiert. Sie heiratet ihn und zieht mit ihm auf seine große Kaffeeplantage im Bundesstaat São Paulo…
Viele Jahre später, als ich längst erwachsen und Lehrerin an einem Gymnasium war, erwachte mein Interesse an Brasilien erneut. Im Lehrerzimmer lagen ein paar vergilbte Jahreshefte herum, die mich neugierig auf die Geschichte der Schule machten. Somit fing ich an nachzuforschen. Die Schule und ihre Vorgänger wurden über 100 Jahre lang von den Schwestern von der Göttlichen Vorsehung geleitet, die im Jahre 1895 auf Wunsch eines Paters aus Warendorf einige Ordensschwestern nach Brasilien, genauer in den Bundesstaat Santa Catarina im Süden des Landes entsandten, um die dortigen deutschen Auswanderer als Krankenschwestern und Lehrerinnen zu unterstützen. Auf die ersten Pionierinnen folgten weitere Schwestern, so dass immer mehr Ordensfilialen entstanden. Mir kam die Idee, ein Buch über deutsche Auswanderer in Brasilien zu schreiben. Ich beschloss, das Land in natura kennenzulernen und buchte eine Gruppenreise für die Osterferien 1998. Danach war ich endgültig vom Brasilienvirus infiziert und bewarb mich erfolgreich für den Auslandsschuldienst in diesem Land.
Ankunft in São Paulo
Im Januar 2001 war es dann so weit: Fast mein gesamter Hausrat war in Umzugskartons verpackt und eingelagert worden, nur ein paar Kisten mit Büchern, Kleidung etc. hatte ich als Luftfracht nach Brasilien aufgegeben. In der Nacht vom 17. auf den 18. Januar fiel meterhoher Schnee, so dass sich mein Bruder um 5 Uhr morgens im Schneckentempo durch die Schneemassen bis zum Flughafen kämpfte. Von Münster-Osnabrück flog ich dann nach Frankfurt, und von da nach São Paulo, wo ich für die nächsten sechs Jahre an der dortigen deutsch-brasilianischen Begegnungsschule Colégio Humboldt unterrichten sollte.
Nach über 11 Stunden Flug kam ich um 19 Uhr Ortszeit an (in Deutschland war es mittlerweile Mitternacht). Als ich aus dem Flugzeug stieg, schlug mir tropische Sommerhitze entgegen. 30 Grad Celsius! Aufgrund der Tatsache, dass Brasilien jenseits des Äquators liegt, sind die Jahreszeiten natürlich vertauscht. Ich dachte damals, dass ich die dicke Winterjacke, die ich trug, nie wieder anziehen würde, aber da täuschte ich mich gewaltig. Im brasilianischen Winter (Juni – August) kann es in São Paulo empfindlich kalt werden, da die Stadt auf einem ca. 800 m hohen, hügeligen Hochplateau liegt. Zwar fallen die Temperaturen nicht unter 0 Grad, aber auf 5 Grad können sie schon heruntergehen. So oft kommt das nicht vor, aber man friert auch schon bei 15 Grad ganz schön, da die Häuser keine Heizungen haben. Zudem sind sie schlechter isoliert, das heißt Außentemperatur ist dann oft Innentemperatur. Ich erinnere mich noch, dass ich mich einmal in meiner ersten Wohnung direkt vor die geöffnete Ofentür des Gasherds in der Küche setzte, um mich etwas aufzuwärmen.
Am Flughafen wurde ich von einer Kollegin in Empfang genommen. Sie schleppte mich dann gleich ins Edifício Itália, das mit 46 Stockwerken (165m) zweithöchste Gebäude Brasiliens. Im obersten Stockwerk gibt es ein Restaurant und eine Bar, von wo man einen phantastischen Überblick über die Stadt hat. Hochhäuser, wohin man schaut! Ein glitzerndes Lichtermeer! Ich war völlig begeistert.
Der Moloch São Paulo
São Paulo gehört zu den Städten, die man entweder liebt – oder hasst. Es gibt nichts dazwischen. Der Großraum São Paulo hat um die 20 Millionen Einwohner, somit ist diese Stadt die größte in Südamerika. In den Straßenschluchten dieses Molochs, der vom Reiseführer Lonely Planet gar als „Monster“ bezeichnet wird, tummeln sich zur Arbeit eilende Menschenmassen, Straßenhändler, hupende Autos und Busse – es geht laut und bunt zu in Brasiliens wichtigstem Wirtschaftszentrum. Staus sind an der Tagesordnung, und wenn in den Sommermonaten die heftigen Tropengewitter über die zubetonierte Stadt niedergehen, dann läuft gar nichts mehr. Jeden Sommer erscheinen in den Tageszeitungen Fotos von überschwemmten Straßen vorwiegend im Zentrum, in denen die Menschen hüfthoch im Wasser stehen und von den Autos manchmal nur noch die Dächer zu sehen sind. Lebensgefährlich wird es in den Tunneln, die unter großen Verkehrsadern hindurchführen. Wenn die sintflutartigen Regenmassen dort hineinschießen, lässt man am besten sein Auto stehen und sieht zu, dass man so schnell wie möglich aus dem Tunnel herauskommt. Mir ist das zum Glück nie passiert, da ich mich vorwiegend im südlichen Teil der Stadt aufgehalten habe, einer brasilianischen Freundin schon. Bei den starken Gewittern kommt es auch immer wieder zu gefährlichen Erdrutschen in den über die Stadt verstreuten Favelas, den brasilianischen Slums. Häufig genug gibt es dann auch Todesopfer zu beklagen.
Wenn man São Paulo in einigen Stichworten beschreiben sollte, dann würde ich folgende auswählen: Stein, Beton, Glas, Stahl, Lärm, Smog, Staus, Kriminalität – aber auch: (ethnische) Vielfalt, kosmopolitischer Flair, Lebendigkeit, freundliche und hilfsbereite Menschen (Paulistaner genannt; die Einwohner des Bundesstaates São Paulo heißen Paulistas), phantastisches Essen (jeglicher Nationalität) mit einem wesentlich besseren Preis-Leistungs-Verhältnis als in Rio, Kultur (z.B. das MASP- Museu de Arte São Paulo, das eine umfangreiche Sammlung von Gemälden und Skulpturen vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart beinhaltet, darunter Werke von Rembrandt, Rubens, van Gogh, Degas, Cézanne, Picasso und Max Beckmann) und Musik (Auftritte berühmter Künstler – Ich habe zum Bespiel ein tolles Konzert von Maria Rita besucht, der Tochter der legendären Elis Regina). Außerdem gibt es viele Kneipen und Bars mit Música ao vivo, also Live-Musik. Für Nachtschwärmer ist São Paulo die ideale Stadt: Besonders donnerstags und natürlich am Wochenende gibt es unzählige Möglichkeiten, einen tollen Abend zu verbringen.
Wenn man der Ober- oder Mittelschicht angehört, kann man hier zudem ausgesprochen angenehm leben: mit Haushälterin (Empregada), Gärtner (Jardineiro) oder gar eigenem Chauffeur (Motorista). Selbst ärmere Paulistaner haben oft jemanden, der ihnen im Haushalt hilft. Meine Empregada Laura beispielsweise, deren Mann an einer Tankstelle arbeitete, hatte eine Bügelfrau. Mit zwei, wenn auch nicht allzu üppigen Gehältern, können sich auch die Menschen der unteren Schichten ein wenig Luxus und Komfort leisten. Leider gibt es in Brasilien sehr viele alleinerziehende Frauen, die sich und ihre Kinder (häufig von verschiedenen Vätern) mühevoll durchbringen müssen, da die Männer gerne mal auf Nimmerwiedersehen verschwinden und sich den Unterhaltszahlungen entziehen. Die Mutter des früheren Präsidenten Lula gehörte zu diesen Frauen.
Touristen verirren sich kaum nach São Paulo, dafür gibt es umso mehr Geschäftsleute aus aller Herren Länder, darunter viele aus Deutschland. Ungefähr 1000 deutsche Firmen haben sich hier angesiedelt, beispielsweise VW, Mercedes, Bayer, BASF, Siemens, aber auch zahlreiche mittelständische Unternehmen. Viele internationale Firmen, vor allem der Automobilindustrie, haben ihren Standort in den sogenannten ABCD-Industrievororten am Rande der Metropole: Santo André, São Bernardo do Campo, São Caetano do Sul und Diadema.
Gegründet wurde São Paulo im Jahre 1554 von zwei Jesuitenpatres. Das Jesuitenkolleg Pátio do Colégio befindet sich noch heute im Zentrum der Stadt. Lange Zeit blieb São Paulo ein eher unbedeutender Flecken auf der brasilianischen Landkarte. Der Ort diente den sogenannten Bandeirantes (übersetzt: Fahnenträger) als Ausgangspunkt für ihre berüchtigten Raubzüge in das Landesinnere, wo sie Indianer gefangen nahmen, um sie als Sklaven an die Besitzer der Zuckerrohrplantagen im Küstentiefland zu verkaufen.
Im Jahre 1810 gab es gerade mal 30.000 Einwohner in der Stadt. Erst der um 1890 einsetzende Kaffeeboom führte durch die Masseneinwanderung vor allem von Italienern zu einem explosionsartigen Wachstum. 1954 war São Paulo bereits größer als der ewige Konkurrent Rio de Janeiro; 1984 wurde die 10-Millionen-Grenze im innerstädtischen Bereich überschritten, dazu kamen dann noch weitere 6 Millionen im Ballungsraum São Paulo. Außer den europäischen Einwanderern, darunter auch etliche deutsche, die – anders als die Bauern im Süden des Landes – vorwiegend als Kaufleute, Handwerker, Ärzte, Apotheker oder Gelehrte ihren Lebensunterhalt verdienten, kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch viele japanische Einwanderer. Das asiatisch geprägte Stadtviertel Liberdade zeugt noch davon (auch wenn mittlerweile mehr Koreaner als Japaner dort leben).
Zudem kamen und kommen immer noch unzählige Nordestinos, Menschen aus dem von Dürreperioden geplagten Nordosten Brasiliens, in die Stadt. Viele von ihnen wohnen in den Favelas, und die Ärmsten der Armen lassen sich in den Randzonen, der Peripherie, nieder und hausen mehr schlecht als recht unter Plastikplanen. Im Vergleich dazu scheint das Leben in den Favelas geradezu luxuriös, denn immerhin gibt es dort zumeist Strom (wenn auch häufig illegal, da einfach die Stromleitungen angezapft werden) sowie fließendes Wasser oder gar eine Müllabfuhr. Trotzdem existieren weiterhin unzählige wilde Müllkippen, und auch die beiden innerstädtischen Flüsse, der Rio Tietê und der Rio Pinheiros, sind aufgrund industrieller und privater Abwässer zu stinkenden Kloaken verkommen, die biologisch tot sind. Die pro Fahrtrichtung sechsspurige Umgehungsstraße Marginal führt an diesen Flüssen entlang; ich bin oft dort gefahren, weil man sich dadurch die elenden Staus in der Stadt ersparen konnte (außer zur Rush Hour, dann staut sich auch hier der Verkehr), und kann mich noch gut an den Gestank erinnern, der diesen „Abwasserkanälen“ entströmte, ebenso an den Anblick der schaumigen Blasen auf der Wasseroberfläche.
Wohnen und Leben
Die Reichen und Superreichen (und davon gibt es einige in São Paulo!) wohnen aufgrund der hohen Kriminalitätsrate in den noblen Stadtvierteln in sogenannten Condomínios, wobei es sich um von hohen Mauern und oft auch Stacheldraht umgebene, von Sicherheitspersonal bewachte Areale handelt, in denen sich entweder Einfamilien- oder Reihenhäuser befinden, oder aber Prédios, Hochhäuser mit luxuriösen Appartements. Einige, wie das 25 km außerhalb des Zentrums liegende Alphaville, ähneln eher toten Ghettos als lebendigen Stadtvierteln. Auf einer Reise in den Nordosten des Landes hatte ich ein deutsches Ehepaar kennengelernt, das dort lebte. Ich habe sie einmal besucht – und fand es fürchterlich. Vor allem die Ehefrau, die die meiste Zeit dort allein verbrachte, während ihr Mann in einer der deutschen Firmen arbeitete, fühlte sich dort sehr unglücklich, was ich gut nachvollziehen konnte. Man lebt zwar in (relativer) Sicherheit, aber auch völlig abgeschottet.
Auch die Mittelschicht lebt vorwiegend in Condomínios, die allerdings in der Regel kleiner sind als besagtes Alphaville. Als ich nach Brasilien zog, wohnte ich zunächst ebenfalls in einem Prédio im Stadtteil Interlagos (bekannt durch die Formel 1). Interlagos liegt in der Zona Sul, dem südlichen Stadtbezirk São Paulos. Das Colégio Humboldt (benannt nach dem Südamerikaforscher Alexander von Humboldt), also die Schule, an der ich unterrichten sollte, befindet sich dort. Ich traute mich – noch – nicht, in ein frei stehendes Haus außerhalb eines bewachten Condomínios zu ziehen, was die meisten meiner Kollegen taten. Auch die Häuser, freistehende ebenso wie Reihenhäuser, sind in São Paulo von Mauern oder hohen Gittern umgeben, selbst in den ärmeren Stadtteilen. Zusätzlich gibt es in den Straßen oft Wachleute, die von den Anwohnern bezahlt werden. Es ist dringend dazu angeraten, den monatlichen Betrag zu zahlen, denn ansonsten könnte es durchaus passieren, dass ein Wachmann einem „Bekannten“ einen Tipp gibt … und man, wenn man von der Arbeit nach Hause kommt, um einige Besitztümer erleichtert wurde. Trotz Wachpersonal kommt es immer wieder vor, dass in Häuser eingebrochen wird (im Übrigen auch in Condomínios!), und manche Wachleute bezahlen ihren Job mit ihrem Leben, da die Täter nicht gerade zimperlich im Gebrauch ihrer Waffen sind. An dieser Stelle ein Tipp, der für ganz Brasilien gilt: Wenn man überfallen wird, sollte man keinen Widerstand leisten, denn die Räuber sind in der Regel bewaffnet und zögern auch nicht, die Waffe einzusetzen. Die beste Gelegenheit für einen Banditen, in ein Haus zu gelangen, ist übrigens die Situation, wenn man sein Grundstück mit seinem Auto verlässt, oder wenn man nach Hause kommt. Die Autos werden immer innerhalb der Grundstücksmauern geparkt, denn auf der Straße bleiben sie nicht lange. Eine Freundin hatte einmal nur kurz, vielleicht 10 Minuten, ihren Wagen auf der Straße gelassen, und schon war er weg! Die älteren Autos werden häufig ausgeschlachtet, die neueren Wagen für Überfälle genutzt. Aufpassen muss man besonders bei jungen Männern auf Motorrollern, die blitzschnell eine günstige Gelegenheit zu ihrem Vorteil nutzen (das heißt jetzt natürlich nicht, dass jeder, der einen Motorroller fährt, kriminell ist, aber es ist Tatsache, dass Kriminelle gerne Motorroller benutzen).
Nicht ganz ungefährlich ist es auch, wenn man gemütlich in seinem geparkten Wagen sitzen bleibt und noch, wie ich es einmal tat, als ich eine brasilianische Freundin besuchte, in aller Gemütsruhe die Schuhe von bequemen, autogerechten „Tretern“ zu hochhackigen Pumps wechselte, bei offener Autotür! Die Freundin hatte mich kommen hören und stand wartend an ihrer Haustür. Ich fragte mich, warum sie nicht herauskam. Erst Monate später kamen wir zufällig noch einmal darauf zu sprechen, und sie sagte mir, dass sie sich sehr über mein in ihren Augen hochgefährliches Verhalten gewundert habe. Es ist nichts passiert, aber ein vorbeikommender Motorboy mit unlauteren Absichten hätte die Situation gut nutzen können. Im Übrigen sollte man auf der Straße keinen kostbaren Schmuck oder wertvolle Uhren tragen und nicht mit teuren Kameras oder Handys hantieren. Was die Auswahl des eigenen Autos betrifft, so ist eher zu einem Mittelklassewagen zu raten als zu einem dicken Mercedes, BMW oder Audi. Häufig haben die Autos abgedunkelte Scheiben, damit nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist, wie viele Personen sich darin befinden (wichtig vor allem für allein fahrende Frauen!). Übrigens darf man nachts, außer auf bestimmten großen, vielbefahrenen Straßen, rote Ampeln ignorieren. Das Anhalten an Ampeln, ebenso wie Staus, ist immer etwas brisant, da diese Situationen für Überfälle genutzt werden können.
Wenn man eines der besseren Restaurants in São Paulo besucht, dann gibt es häufig sogenannte Manobristas, die den Wagen vor dem Eingang in Empfang nehmen, parken, bewachen und nach dem Essen wieder bereitstellen (gegen ein Entgeld). In vielen Straßen, nicht nur in São Paulo, gibt es auch selbst ernannte „Parkwächter“, normalerweise Kinder oder Jugendliche, denen man den gewünschten Obolus für die Bewachung des Autos auf jeden Fall geben sollte, wenn man es nicht später zerkratzt wieder vorfinden will.
Eineinhalb Jahre wohnte ich im 6. Stock des Hochhauses in Interlagos. Die Wohnung war ziemlich groß (ca. 130 qm) und erstreckte sich über die Hälfte des Stockwerks. Interessanterweise gab es zwei Aufzüge: einen für die Bewohner und deren Gäste, und einen anderen für die Dienstboten und eventuelle Handwerker. Die Küche ist das Reich der Hausangestellten. In der Regel gibt es auch noch eine kleine Kammer für sie (manchmal sogar fensterlos!), da es immer noch viele Haushalte gibt, die eine sogenannte „Schlaf-Empregada“ haben, d.h. die Angestellte wohnt im Haus oder in der Wohnung. Auf uns Europäer wirkt das alles seltsam antiquiert und diskriminierend, für Brasilianer ist das völlig normal. Hier zeigt sich das Erbe der Vergangenheit: Die Portugiesen kolonisierten im 16. Jahrhundert das riesige Land, indem sie 15 Capitánias, Verwaltungsbezirke, errichteten (später wurden diese in weitere Bezirke, die sogenannten Sesmarias, unterteilt), die an portugiesische Adlige vergeben wurden, welche dann die Feudalstrukturen nach portugiesischem Modell etablierten. Dank der aus Afrika eingeführten Sklaven konnten die weißen Herren ein Leben in Luxus führen. Noch heute ist das große Heer der Hausangestellten, Gärtner etc. von eher dunklerer Hautfarbe (Nordestinos, denen man noch oft ihre indianischen Vorfahren ansehen kann, und Baianos, die Nachkommen der schwarzen Sklaven aus dem Bundesstaat Bahia). In Brasilien gibt es keinen offenen Rassismus, er ist eher verdeckt und zeigt sich an der sozialen Stellung. Es gibt die drastische Redewendung: „Eine Weiße zum Heiraten, eine Schwarze für die Küche, eine Mulata fürs Bett“.
Im Übrigen haben nicht nur die Reichen und Wohlhabenden (die „Herren“) diese Rollenverteilung verinnerlicht, sondern auch die Hausangestellten. Nachdem ich in ein Haus umgezogen war, mokierte sich meine damalige Hausangestellte Maria über das Verhalten der Nachbarin zur Rechten, einer jungen Französin, die mit einem Brasilianer zusammenlebte, weil sie selbst den Hof fegte!! Für Europäer ganz normal, für Brasilianer unmöglich! Für solche Arbeiten sind Angestellte zuständig, nicht die „Hausherrin“ selbst!
Sehr praktisch in brasilianischen Häusern und Wohnungen finde ich die Einbauschränke im Schlafzimmer, oft gibt es auch begehbare Kleiderschränke. Die Küchen sind in der Regel komplett eingerichtet, nur die Elektrogeräte muss man mitbringen. Interessant ist auch, dass die meist großen Wohnzimmer verschiedene ambientes haben, d.h. verschiedene Bereiche zum Sitzen, Essen und eventuell Fernsehen (falls es kein eigenes TV-Zimmer gibt). Oft sind diese Bereiche durch unterschiedliche Höhen mit Treppen gegliedert.
Nachdem ich eineinhalb Jahre in dem Condomínio in Interlagos gewohnt hatte, ergab sich für mich die Gelegenheit, in ein kleines Holzhaus etwas weiter außerhalb, an der Represa Guarapiranga, einem der großen Stauseen ganz im Süden von São Paulo, zu ziehen. Eine Schweizer Kollegin wohnte dort und suchte einen Nachmieter, da sie zurück in die Schweiz gehen wollte. Das Haus, ein Chalet, sah eigentlich wenig brasilianisch aus, fand ich, aber es hatte einen wunderbaren Charme, der mich sofort gefangen nahm. Es war klein und gemütlich, hatte eine Veranda mit Blick auf den See und lag inmitten der Natur. Nach dem vielen Stein und Beton sehnte ich mich nach etwas mehr Natur! Wozu lebte man in einem tropischen Land wie Brasilien, wenn man so wenig von der wunderbaren Natur hatte?! Der Bezirk nannte sich Riviera Paulista – etwas beschönigend, da der größere Teil eher aus sehr einfachen Gebäuden bestand und nicht wirklich schön war. Bei dem Teil, in den ich zog, handelte es sich um ein offenes Condomínio, d.h. jeder kam hinein, aber es gab einen Eingangsbereich mit Wachpersonal und die Wachleute, die von den Anwohnern bezahlt wurden, fuhren auch Patrouille. Dennoch passierte es leider, dass in mein Haus eingebrochen wurde. Da die offenbar jugendlichen, da wenig professionellen Einbrecher jedoch von meiner Empregada gestört wurden, als diese am Morgen eintraf, hielt sich der Verlust in Grenzen (etwas Schmuck, der nicht allzu kostbar war, ein nagelneuer Fotoapparat und ein Fön(!)). Ich legte mir dann eine Alarmanlage zu. Das war das einzige Mal, dass mir in Brasilien etwas passiert ist. Ansonsten bin ich nie überfallen worden. Wenn man bestimmte Regeln beherzigt, dann lässt es sich wunderbar in diesem Land leben!
Wichtig ist auch, dass man möglichst schnell die Landessprache erlernt, und das ist nicht Spanisch, wie immer noch viele meinen, sondern Portugiesisch, und zwar das brasilianische Portugiesisch, das sich um einiges von der Sprache Portugals unterscheidet. Erstaunlicherweise kommt man mit Englisch in Brasilien nicht sehr weit; selbst gebildete Leute aus der Mittelschicht beherrschen kein oder nur ein rudimentäres Englisch. Dennoch gab es einige Kollegen an der Schule oder deren Angehörige, die kaum ein Wort Portugiesisch sprachen und sich nur innerhalb des deutschen Kreises bewegten (aus Deutschland entsandte Firmenmitarbeiter und Lehrkräfte oder Deutschbrasilianer). Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mit dem Mann meiner Betreuungslehrerin, bei der ich zwei Wochen wohnte, bevor ich eine eigene Wohnung hatte, in ein Shopping Center fuhr, um ein Handy zu kaufen. Wir betraten das Center, steuerten auf den Handystand zu und ich bat ihn, sich für mich nach einem passenden Handy zu erkundigen. Er sah mich erstaunt an und meinte, das müsse ich selbst machen, er könne kein Portugiesisch. Ich dachte zunächst, er wolle mich veräppeln, denn er lebte bereits seit drei Jahren in São Paulo. Doch dem war nicht so, er meinte es völlig ernst. So musste ich also mit meinem bisschen Volkshochschulportugiesisch radebrechen, so gut es ging. Es klappte, ich bekam mein Handy und war um eine Erfahrung reicher: Immer, IMMER die Landessprache erlernen. Das hatte ich sowieso vor und nahm in der Folge Privatunterricht, so dass ich am Ende meines sechsjährigen Aufenthalts recht gut Portugiesisch sprechen konnte (wenn auch nicht fehlerfrei …).
Ich liebte mein kleines Holzhaus und vor allem die Veranda, auf der ich die meiste Zeit, wenn ich zuhause war, verbrachte, aber es hatte zwei Nachteile: Zum einen war es wirklich sehr klein, zum anderen regnete es bei den starken Gewittern im Sommer, die täglich, normalerweise am Nachmittag, für ca. eine Stunde vom Himmel niederprasselten, an einigen Stellen in das Haus hinein, so dass ich immer zwei bis drei leere Eimer aufstellen musste. So beschloss ich nach wiederum eineinhalb Jahren, ein paar (Erd-)Straßen weiterzuziehen, in ein größeres Haus, das zur Hälfte aus Holz und zur anderen Hälfte aus Stein erbaut war – mit einer riesigen Veranda. Als ich in das erste Haus zog, hatte ich mir einen Hund zugelegt, denn ohne (Wach-)Hund wollte ich nicht in einem freistehenden Haus in Brasilien leben. Die meisten Brasilianer haben mindestens zwei, wenn nicht mehr Hunde, wobei die großen Hunde draußen als Wachhunde leben, und die eventuell vorhandenen kleinen als Kuschelhunde im Haus. Meine Nachbarn zur Linken des Chalets hatten vier Yorkshire Terrier, die im Haus lebten, und neun (!) größere Hunde, die der Herr des Hauses so nach und nach auf der Straße aufgesammelt hatte, die im Hof lebten (der nicht allzu groß war).
Zu meiner ersten Schäferhündin Cleo kam bald der Schäferhundwelpe Leão hinzu und der Dackel Joschi. Im zweiten Haus an der Riviera Paulista gesellten sich dann noch zwei Mischlingshündinnen dazu: Blondie, die ich in einem der unzähligen Petshops, wo sie als Welpe in einem Käfig zur kostenlosen Abgabe saß, adoptierte (ein übliches Prozedere, da viele der ärmeren Leute ihre Hunde nicht kastrieren und diese sich dann leider vermehren – die Welpen, die nicht untergebracht werden können, werden dann an Petshops gegeben, wo sie hoffentlich einen Adoptanten finden, oder sie werden ausgesetzt) und Patinha, die ich als winzigen Welpen im Alter von ungefähr vier Wochen auf der Straße fand. Herrenlose, ausgesetzte Hunde findet man, wie in Süd- und Osteuropa, in großen Mengen auf den Straßen São Paulos. In gewissen Abständen werden sie eingesammelt und in eine Tötungsstation gebracht, wo sie, wenn sie nicht innerhalb einer bestimmten Zeit von ihren potentiellen Besitzern abgeholt werden, getötet werden.
Nachdem ich drei Jahre die Natur und das eher ländliche Leben an der Riviera Paulista genossen hatte, zog es mich wieder in städtische Gefilde. Mit vier Hunden (Leão war leider im Alter von zweieinhalb Jahren gestorben) war es allerdings nicht ganz so einfach, ein geeignetes Haus zu finden. Die Häuser sind in São Paulo zwar oft groß, aber die Grundstücke umso kleiner. In einen winzigen Hinterhof wollte ich meine Hunde allerdings nicht pferchen, und somit mietete ich ein nicht gerade preiswertes Haus, das schon fast einer Villa ähnelte, in Granja Julieta, einem recht schmucken Bezirk in der Zona Sul.
Der größte Vorteil war, dass ich nun innerhalb von 20 Minuten die Schule erreichen konnte, der zweitgrößte, dass ich nicht mehr so abgeschieden lebte und wieder öfter am Abend und Wochenende ausgehen konnte (an der Riviera war mir die Fahrerei oft zu viel, und außerdem war es auf der Veranda ja auch so gemütlich, bei einem Glas Rotwein oder Caipirinha …).
A propos Caipirinha (die Brasilianer verwenden IMMER die Langform, kein Mensch hier käme auf die Idee, das Getränk zu „Caipi“ abzukürzen, wie es die Deutschen machen): Das Nationalgetränk der Brasilianer wird NICHT mit braunem Rohrzucker zubereitet, sondern mit weißem! Ich finde, der eingedeutschte Caipi sieht aus, als wenn man Coca Cola hineingeschüttet hätte. Igitt! Ich frage mich, warum man hierzulande keinen weißen Rohrzucker verwendet?? Es ist mir schleierhaft.
Zum Abschluss des ersten Teils meiner Erinnerungen nun ein echt brasilianisches Caipirinha-Rezept: Man nehme eine Limone/Limette, wasche sie gründlich und schneide sie in Achtel (die äußeren Enden werden zuvor abgeschnitten und die mittlere, etwas bittere weiße Haut entfernt). Dann füge man nach Belieben weißen Rohrzucker hinzu (ein bis zwei nicht gehäufte Esslöffel), zerstampfe die Limetten und den Zucker mit einem Holzstößel, füge dann ein paar Eiswürfel oder gestoßenes Eis (nach Belieben) hinzu und fülle danach das Ganze ordentlich mit Cachaça, dem brasilianischen Zuckerrohrschnaps, auf. Prosit! Oder, wie der Brasilianer sagen würde: Saúde (was so viel wie „Gesundheit“ bedeutet).
Teil 2: 6 Jahre Leben in Brasilien
Themen: Essen & Trinken / Die Schule / Reisen / Der unbekannte Süden / Die brasilianische Mentalität / Heimkehr