Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig, der 1940 nach Brasilien emigrierte, schrieb in seinem Buch Brasilien: Ein Land der Zukunft: „Wer Brasilien wirklich zu erleben weiß, der hat Schönheit genug für ein halbes Leben gesehen“. Er hatte Recht!
Während der erste Teil meines Erfahrungsberichts von der 20-Millionen-Metropole São Paulo und dem Leben und Wohnen dort handelte, geht es im zweiten Teil um die Themen Essen & Trinken, die Schule, an der ich 6 Jahre lang unterrichtete (Colégio Humboldt), Impressionen von einigen Reisen, die ich in Brasilien unternommen habe (in erster Linie anhand von Fotos mit erklärenden Bildunterschriften dokumentiert), und um den vielen Europäern unbekannten Süden des Landes – der „Hochburg“ der deutschen Einwanderer. Außerdem widme ich mich der brasilianischen Mentalität, die sich in einigen Aspekten doch deutlich von der deutschen unterscheidet (hier handelt es sich natürlich um meine persönliche Sichtweise).
Ich berichte sehr ausführlich über das brasilianische Essen (musste aber dennoch eine Auswahl treffen; es gibt noch viele weitere köstliche Gerichte, die es eigentlich auch verdient hätten, hier erwähnt zu werden). Wen das weniger interessiert, der überspringe diesen Teil einfach oder schaue sich nur die Fotos an.
Essen & Trinken
In Brasilien kann man wunderbar speisen! In São Paulo gibt es, wie bereits im ersten Teil meines Berichts erwähnt, hervorragende Restaurants mit gutem Preis-Leistungs-Verhältnis. Da in diese Stadt Menschen sehr unterschiedlicher ethnischer Herkunft eingewandert sind, findet man hier auch eine große Bandbreite internationaler Gerichte, von arabischen über portugiesische, italienische und japanische bis hin zu typisch deutschen. Aus irgendeinem Grund werden die Deutschen immer mit Wurst (und Sauerkraut) assoziiert. Selbst eine Straße im tiefen Süden von Brasilien, welcher von deutschen Einwanderern aufgrund des angenehmeren, subtropischen Klimas bevorzugt wurde, hieß früher „Wurststraße“.
Typisch brasilianische Gerichte gibt es natürlich im ganzen Land, wobei es bestimmte Vorlieben in bestimmten Regionen gibt. Eine köstliche Piranha-Suppe findet man ausschließlich im Norden (Amazonasgebiet) und äußersten Westen (Pantanal), da diese Fische mit ihrem furchterregenden Gebiss dort geangelt und frisch zubereitet werden. Im Amazonas gibt es viele Fische, die es sonst nirgendwo gibt, wie zum Beispiel den Riesenfisch Pirarucú (auch Arapaima genannt), der über zwei Meter lang werden kann und ebenfalls hervorragend schmeckt (ich durfte ihn auf meiner Rundreise damals im Jahre 1998 probieren, ebenso wie den Tambaqui (Schwarzer Pacu), der gleichfalls ein Leckerbissen ist).
Im Norden wird auch Maniok angebaut, ein stärkereiches Gemüse. Die Wurzeln werden geschält und gerieben, bevor die in ihnen enthaltene giftige Blausäure herausgepresst wird. Danach wird der Maniok in einer riesigen eisernen Pfanne zu Mehl (Farinha seca) trockengeröstet. Dieses wird dann entweder pur oder mit Butter angebraten (Farofa genannt) über die im ganzen Land erhältlichen schwarzen Bohnen gestreut. Ein Standardgericht in Brasilien ist Reis mit schwarzen Bohnen (arroz com feijão) sowie häufig noch ein Stück Rindfleisch (bife) dazu (welches oft, da es in der Regel ziemlich flach ist, optisch einer „Schuhsohle“ ähnelt …).
Das brasilianische Nationalgericht ist die Feijoada, ein Bohneneintopf. Ursprünglich handelte es sich dabei um ein billiges Gericht aus schwarzen Bohnen und Speiseresten für die Sklaven (mit den minderwertigen Teilen des Schweins wie Schwanz, Ohren und Füße, die geräuchert und gepökelt wurden). Diese gehören auch heute noch zu einer „echten“ Feijoada, werden aber vor dem Servieren meistens wieder entfernt. Hinzu kommt Trockenfleisch (Carne seca oder Charque), Rindfleisch, Schweinelende, geräucherter Speck, Wurst (Linguiça), Zwiebeln, Knoblauch, u.a. Die Feijoada wird ausschließlich am Samstag (manchmal auch mittwochs) gegessen.
Im Norden und Nordosten wachsen die üppigen, schattenspendenden Mangobäume sowie der Cajú-Baum, dessen Frucht kaum jemand in Deutschland kennt (man kann einen leckeren Saft aus ihr zubereiten). Wohlbekannt ist hierzulande allerdings der Samen, der unten an der eigentlichen Frucht hängt: die Cashewnuss. Sie ist von einer dicken Schale umgeben (siehe Foto).
In Bahia gibt es viele afrobrasilianische Gerichte, die mit Palmöl (Azeite de dendê), Kokosmilch und häufig auch getrockneten Krabben zubereitet werden, wie Acarajé (Bällchen aus Bohnen, geriebenen Zwiebeln, in Palmöl fritiert) oder Abará (in Bananenblätter eingewickelte Fradinho-Bohnen, mit einer scharfen Pfeffersauce sowie getrockneten Krabben, Palmöl und Zwiebeln gewürzt). Weitere typische Gerichte sind Vatapá (gekochter Brei auf Reis-, Maniok- oder Weizenbasis mit getrockneten Krabben, Erdnüssen, Ingwer, Cashewnüssen, Kokosmilch und Palmöl gewürzt) und der mit Kokosmilch zubereitete Fischeintopf Moqueca de peixe.
Sehr beliebt ist in Brasilien das Churrasco, welches ursprünglich aus dem Süden stammt, wo die Viehhirten (Gaúchos) große Stücke Rindfleisch über dem offenen Feuer garten. Private Grillpartys finden an Wochenenden und Feiertagen im ganzen Jahr statt. Normalerweise werden – anders als in Deutschland – große Stücke Fleisch, zum Beispiel das zarte und beste Stück des Rinds, das Picanha (dem Tafelspitz vergleichbar), mit grobem Salz eingerieben und auf den Grill gelegt und erst vor dem Servieren in Scheiben geschnitten. In speziellen Restaurants, den Churrascarias rodízio, bringen die Kellner, welche häufig eine der Gaúcho-Kleidung nachempfundene Tracht mit weiten Hosen (bombachas) und roten Halstüchern tragen, große Spieße mit gegrilltem Rind- und Schweinefleisch, Hühnchen und Würsten (linguiça) an den Tisch und schneiden Scheiben oder Stücke nach Wahl des Gastes direkt auf den Teller. Für einen Pauschalpreis kann man so viel essen, wie man möchte. Im Preis enthalten ist ebenfalls ein in der Regel üppig bestücktes Büffet. Sehr empfehlenswert ist in São Paulo (und einigen anderen Städten) die Restaurantkette „Fogo de Chão“.
Über das ganze Land verteilt finden sich Schnellimbisse (Lanchonetes), die Salgadinhos (salzige Snacks) anbieten, wie zum Beispiel mit Fleisch, Hühnchen oder Käse gefüllte Pasteten (Pasteis), Fischbällchen (Bolinhas de bacalhau) oder kleine runde Käsebrötchen (Pão de queijo).
Populäre, in der Regel für den europäischen Gaumen sehr süße Desserts sind Pudim de Leite (eine Cremespeise mit Kondensmilch und Karamellsirup), Creme de Papaya, Quindim (eine Kokosnuss-Eiercreme) oder Doce de leite (Créme Karamell). Außerdem gibt es natürlich ein riesiges Angebot an heimischen Früchten, wie Mango, Papaya, Ananas, Melone und Banane, die auch zum Frühstück angeboten werden, sowie tropische Beeren wie Açai, Acerola, Jabuticaba oder Pitanga, die man in Deutschland, wenn überhaupt, nur in pulverisierter Form kaufen kann.
Beliebte typische Kuchen sind in Brasilien Bolo de Fubá (Maiskuchen) und Bolo de Mandioca (Maniokkuchen). Sehr gerne werden auch Brigadeiros gegessen, wobei es sich um kleine, mit Schokostreuseln bestreute Schokoladenkugeln handelt. Eine baianische Spezialität ist Cocada, Gebäck aus Kokosraspeln und Zuckersirup, das in São Paulo oft an Straßenampeln verkauft wird.
Eine kulinarische Besonderheit in Südbrasilien ist der Café colonial, der wohl aus der typisch deutschen Sitte des „Kaffeeklatsches“ entstanden ist, allerdings außer Kaffee oder Tee und einer Auswahl verschiedener Kuchen und Torten auch Brot mit Wurst und Käse sowie Salzgebäck beinhaltet.
An der Küste sind frisch gefangene Krabben und Austern sehr beliebt sowie natürlich Seefische.
Das brasilianische Nationalgetränk ist, wie bereits in Teil 1 erwähnt, der Caipirinha, wobei die Brasilianer der wohlhabenderen Schichten – im Gegensatz zu der Mehrzahl der Ausländer – die Variante mit Wodka bevorzugen, Caipirosca genannt. In schickeren Restaurants muss man als Ausländer(in), wenn man einen Caipirinha bestellt, immer „com pinga“ (mit Schnaps) hinzufügen, sonst bekommt man in der Regel automatisch die Wodka-Version serviert.
Batidas sind leckere Mixgetränke aus frisch gepressten Tropenfrüchten und Cachaça (bras. Zuckerrohrschnaps).
Ein beliebtes Erfrischungsgetränk ist Guaraná, das etwas süßer als Coca Cola ist und aus dem Pulver einer Kapselfrucht, die im Amazonasgebiet wächst, hergestellt wurde, mittlerweile allerdings aus Kostengründen künstlich aromatisiert ist.
Ansonsten kann man, um seinen Durst zu löschen, aus einer Vielzahl von frischgepressten Säften (Sucos) auswählen. Auch frischgepresster Zuckerrohrsaft (Caldo de cana, am besten mit ein bisschen Limonensaft), den man oft auf der Straße kaufen kann, schmeckt köstlich. Und natürlich bekommt man am Strand und an Straßenecken auch die grünen Kokosnüsse, deren Wasser, Água de coco (nicht Milch (!), die wird aus dem Kokosfleisch gewonnen), herrlich erfrischend ist.
Brasilianische Biersorten sind beispielsweise Brahma und Antarctica. Letzteres wurde erstmalig von dem Deutschen Louis Bücher in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in São Paulo gebraut.
Einen Cafezinho bekommt man überall, wobei es sich um eine kleine Tasse sehr starken Kaffee handelt, der zumeist ordentlich mit Zucker gesüßt wurde.
Im Süden gibt es, wie in den Nachbarländern Argentinien, Uruguay und Paraguay, den Mate-Tee, der dort in großen Mengen über den ganzen Tag verteilt getrunken wird. In Porto Alegre, der Hauptstadt des südlichsten Bundesstaates Rio Grande do Sul, habe ich oft Menschen gesehen, die mit einer Cuia (Kürbiskalebasse) sowie einer Thermoskanne heißem Wasser (zum Aufguss) unterwegs waren und zwischendurch immer einen Schluck getrunken haben. Besonders stilecht wird der Mate-Tee aus der Cuia mit einer Bomba bzw. Bombilla (Trinkröhrchen aus Metall mit rundem, löffelähnlichem Siebteil am unteren Ende) getrunken. Die Cuia wird beim traditionellen Ritual des Chimarrão der Gaúchos (so werden nicht nur die Viehhirten, sondern alle Bewohner von Rio Grande do Sul genannt) im Kreis herumgereicht und jeder trinkt einen Schluck daraus.
Die Schule
Das Colégio Humboldt (ursprünglicher Name Escola Barão do Rio Branco) wurde von deutschen Einwanderern im Jahre 1916 im Paulistaner Stadtteil Santo Amaro gegründet. Angefangen mit 41 Schülern, hat die Schule heute ca. 1300 Schüler.
Es gibt noch eine zweite deutsche Schule in São Paulo, das 1878 gegründete Colégio Visconde de Porto Seguro (vormals Olinda-Schule), die sich im Stadtteil Morumbi befindet und mit insgesamt 10.000 Schülern (aufgeteilt auf mittlerweile vier Schuleinheiten) die größte deutsche Schule weltweit ist.
Das Colégio Humboldt zog im Jahr 1999 von Santo Amaro in den durch die Formel 1 bekannten Stadtteil Interlagos. Das Foto von der Karte aus dem Jahr 2003 gibt einen guten Überblick über die gesamte Anlage. Mittlerweile ist noch ein eigenes Schwimmbad hinzugekommen. Es handelt sich um eine Privatschule, das heißt die Eltern der Schüler zahlen Schulgeld. Stipendien gibt es für die Kinder aller Angestellten, allerdings nur bis zum dritten Kind einschließlich (da viele der Angestellten aus den ärmeren Schichten sehr kinderreich sind). Im Vergleich zu den staatlichen, kostenlosen Schulen ist das Niveau erheblich höher, weshalb jeder Brasilianer bestrebt ist, seine Kinder an eine brasilianische oder ausländische Privatschule zu schicken, auch wenn man sich das Geld dafür vom Munde absparen muss. Wer an einer der besseren Universitäten studieren möchte, hat fast keine Chance, wenn er eine staatliche Schule besucht, da es eine Aufnahmeprüfung (Vestibular) gibt, die umso schwieriger ist, je besser der Ruf der Universität ist.
Interessanterweise sind die staatlichen Universitäten im Gegensatz zu den Schulen hervorragend. Es gibt aber auch viele private Unis, von denen beispielsweise die katholische Universität in São Paulo ebenfalls einen sehr guten Ruf genießt. Die Universidade de São Paulo (USP) gilt als Top-Uni. Jedes Jahr wurden im Colégio Humboldt große Banner aufgehängt, die verkündeten, wie viele Schüler es geschafft hatten, einen der begehrten Studienplätze an der USP zu ergattern. Um das Vestibular zu bestehen, müssen die Schüler hart arbeiten. In der Schule werden für die höheren Klassen regelmäßig Probeprüfungen veranstaltet (vorwiegend in den naturwissenschaftlichen Fächern); außerdem besuchen viele Schüler außerhalb des regulären Unterrichts in der 11. Klasse (der letzten Klasse an brasilianischen Schulen) sogenannte Cursinhos, das sind spezielle Kurse zur Vorbereitung auf die Eingangsprüfung der Universitäten.
Deutsche Schüler und brasilianische Schüler mit sehr guten Deutschkenntnissen können nach der 11. Klasse die deutsche Oberstufe besuchen und das Abitur machen.
Am Colégio Humboldt gibt es einen Kindergarten, eine Vorschule, eine Grundschule und eine weiterführende Schule bis zur Klasse 11 sowie die vorhin erwähnte Abiturklasse (Stufe 12 und 13). Außerdem existiert eine Berufsschule (IFPA) nach deutschem Modell. Die Jahrgänge am Colégio Humboldt sind von der 1. bis zur 11. Klasse vier- bis fünfzügig. Die B-Klassen (also die Klassen 5b, 6b, 7b usw.) sind die „deutschen“ Klassen, in denen die meisten Fächer auf Deutsch unterrichtet werden und in denen sich deutsche Schüler befinden, deren Eltern beispielsweise von deutschen Firmen wie VW oder Bayer nach São Paulo entsandt wurden (davon gibt es aber nur noch wenige, so ca. 2 -5 Schüler pro Klasse). Weiterhin werden die B-Klassen von deutschbrasilianischen Schülern besucht, deren Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern nach Brasilien auswanderten, und schließlich finden sich auch brasilianische Schüler ohne deutsche Vorfahren hier, die leistungsstark sind und aus den anderen Klassen übergewechselt sind.
In den B-Klassen wird nach den gymnasialen Lehrplänen des Landes Baden-Württemberg unterrichtet. Allerdings müssen auch brasilianische Besonderheiten berücksichtigt werden. Beispielsweise gibt es hier ein Notensystem von 0 bis 10, wobei 0 die schlechteste und 10 die beste Note ist. Eine weitere Besonderheit ist die sogenannte Recuperação, zwei Wochen „Wiederholungsunterricht“ am Ende eines Schuljahres für die Schüler, die „rote“ Noten haben, also Noten zwischen 0 und 4. Sie werden von den Lehrern in dem jeweils „roten“ Fach unterrichtet (ggf. sogar Einzelunterricht) und schreiben am Ende eine Klassenarbeit. In der Regel bestehen die Schüler diese und werden in die nächste Klasse versetzt. Nur wenige Schüler bleiben tatsächlich sitzen. Aber das ist mittlerweile in Deutschland ja auch nicht anders, da auch hier „gefördert“ wird bis zum Umfallen bzw. bis keiner mehr sitzenbleibt oder die Schule verlassen muss.
Der Unterricht beginnt am Colégio Humboldt um 07:10 Uhr! Zu Schuljahresbeginn und an brasilianischen und deutschen Nationalfeiertagen sowie zu anderen offiziellen Anlässen versammelt sich die gesamte Schüler- und Lehrerschaft auf dem palmengesäumten Schulhof. Die Nationalhymnen beider Länder werden gespielt und die brasilianische und deutsche Flagge gehisst. Einmal wollte ein Angestellter der Schule die deutsche Flagge falsch herum hissen (natürlich unabsichtlich) – im letzten Moment konnte dies verhindert werden …
Die deutsche Sprache stellt für viele Schüler ein Problem dar, und nicht nur für frisch aus den A/C/D/E-Klassen übergewechselte Brasilianer (die am Anfang oft kaum etwas verstehen, obwohl sie seit dem Kindergarten Deutsch lernen). Seitdem ich in Brasilien war, weiß ich erst, wie schwierig meine Muttersprache ist! Die Deutschaufsätze der Schüler (außer denjenigen, die direkt aus Deutschland kamen) wimmelten von Rechtschreib- und Grammatikfehlern, so dass wir Deutschlehrer wie im hiesigen Fremdsprachenunterricht mit Fehlerquotient arbeiteten. Alle Schüler müssen zwei Fremdsprachenprüfungen absolvieren: das Deutsche Sprachdiplom I und II.
Da die brasilianischen Lehrer meistens weniger streng sind als die aus Deutschland entsandten Lehrkräfte, sind letztere bei den Schülern oft weniger beliebt. Zumindest am Anfang eckt der deutsche Lehrer schnell mal an, weil er die Besonderheiten der brasilianischen Mentalität noch nicht so kennt (einige durchschauen sie auch nie, oder wollen es gar nicht). Schreien oder lautstarkes Schimpfen ist hier beispielsweise sehr verpönt! Was mir sogleich aufgefallen ist: Es herrscht mehr Körperkontakt in Brasilien, zum einen generell, aber auch zwischen Schülern und Lehrern. Beispielsweise begrüßen viele brasilianische Schüler ihre (brasilianischen, nicht die deutschen) Lehrer mit Küsschen auf die Wangen. Die Lehrer werden auch mit Vornamen angeredet, die deutschen allerdings nicht. Von dem damaligen deutschen Schulleiter, der zum Glück nach drei Jahren wieder nach Deutschland zurückkehrte, wurde dies den aus Deutschland entsandten Lehrern untersagt. Ich hätte nichts dagegen gehabt, Professora Birgit gerufen zu werden. Die Bezeichnung Professor(a) hat übrigens nichts mit dem akademischen Titel zu tun; alle Lehrer werden in Brasilien so genannt. Auch die (damalige) brasilianische Schulleiterin Beate Althuon wurde nur mit Vornamen angesprochen, von Lehrern wie von Schülern.
Die deutschen Lehrer (vor allem die männlichen) haben oft den Ruf, dass sie ungepflegt sind. In Brasilien fällt man peinlich auf, wenn man zwei Tage hintereinander das Gleiche trägt, vor allem, was die Oberbekleidung betrifft. T-Shirts ohne Kragen werden (bei Männern) auch nicht gern gesehen. Und Sandalen gehen gar nicht! Bei Frauen ist es oberstes Gebot, will man nicht in Verruf geraten, sich die Achselhöhlen und die Beine zu rasieren! Mittlerweile ist das ja auch hierzulande gang und gebe, aber damals, als ich in Brasilien unterrichtete (2001-2006), war das noch nicht unbedingt der Fall.
Zu diesem Thema fällt mir eine nette Anekdote ein: Zwei brasilianische Schülerinnen von mir kamen eines Tages auf mich zu und meinten, sie hätten einen Mann für mich gefunden (sie wussten, dass ich ledig war und wollten mich augenscheinlich unbedingt verkuppeln …). Ich fragte amüsiert, wen sie denn im Auge hätten. Sie antworteten, dass sie den vollständigen Namen nicht wüssten, aber mit Vornamen heiße er Thomas und er habe eine Stoppelfrisur. Ah ja, mein deutscher Kollege Thomas M. Ich sagte ihnen, ich müsse sie leider enttäuschen, aber der sei schon verheiratet und habe außerdem zwei Kinder. Dann fragte ich sie, warum sie denn ausgerechnet ihn für mich ausgesucht hätten. Die Begründung lautete: Er benutzt Parfum und putzt sich regelmäßig die Zähne!
Reisen innerhalb Brasiliens:
Brasilien ist ein wunderschönes Land, das dem Touristen sehr viel zu bieten hat: vom Amazonasgebiet im Norden über die schneeweißen Traumstrände an der Küste des Nordostens, die früheren kaiserlichen Hauptstädte Salvador da Bahia und Rio de Janeiro (die Cidade maravilhosa = die „wunderbare Stadt“), das futuristische, auf dem Reißbrett entworfene Brasília (die jetzige Hauptstadt), das Sumpfgebiet im Westen an der Grenze zu Bolivien, Pantanal genannt, die phantastischen Wasserfälle von Iguaçu im Dreiländereck Brasilien/Argentinien/Paraguay, bis hin zu den drei vorwiegend von deutschen, italienischen und polnischen Einwanderern geprägten südlichen Bundesstaaten (die in einem eigenen Kapitel behandelt werden).
Natürlich stellt diese Auflistung nur einen Teil der Sehenswürdigkeiten dar. Jedes Bundesland hat seine Besonderheiten und Schönheiten. Eine Klassenreise hat mich beispielsweise in den Bundesstaat Minas Gerais geführt, in dem früher Gold abgebaut wurde. Wir lebten in Gästehäusern neben einem sehr beeindruckenden Haus (Fazenda „Palmital“) aus dem 17. Jahrhundert, das eindeutige portugiesische Züge trug. Die Reste einer ehemaligen Senzala (Sklavenunterkunft) waren noch vorhanden. Im Bundesstaat São Paulo besichtigte ich die ehemalige Kaffeefazenda Ibicaba, die im 19. Jahrhundert in Verruf geriet, als Schweizer Auswanderer gegen das ausbeuterische sogenannte Halbpachtsystem rebellierten. 1888 war die Sklaverei in Brasilien abgeschafft worden, und die Kaffeebarone brauchten Arbeiter für ihre Plantagen. Sie bezahlten die Schiffspassagen der Auswanderer (vor allem Italiener, Deutsche und Schweizer), welche dann das vorgestreckte Geld auf den Plantagen wieder abarbeiten mussten. Da sie jedoch gezwungen waren, Lebensmittel und andere benötigte Dinge des täglichen Lebens in den Läden der Plantagenbesitzer zu überteuerten Preisen zu kaufen, verschuldeten sie sich immer mehr. Die Möglichkeit, der harten Arbeit auf den Kaffeeplantagen zu entkommen, schwand zusehends. Als die Missstände in Europa bekannt wurden, besserte sich die Lage der Arbeiter nach und nach.
Einige Impressionen von meinen Reisen innerhalb Brasiliens:
Die brasilianische Hauptstadt Brasília und die frühere kaiserliche Hauptstadt Salvador:
Kampftanz Capoeira in Salvador da Bahia:
Rio de Janeiro:
Die beeindruckenden Wasserfälle von Iguaçu:
Das Kolonialstädtchen Paratí, zwischen São Paulo und Rio de Janeiro gelegen:
Das Sumpfgebiet Pantanal im äußersten Westen an der Grenze zu Bolivien:
Der unbekannte Süden
Ich gestehe, ich bin ein großer Fan des brasilianischen Südens. Vor allem die Hauptstadt des Bundesstaates Santa Catarina hat es mir angetan: Florianópolis. Zunächst lebten Indianer vom Stamme der Carijó hier; Mitte des 18. Jahrhunderts wurden dann von den Portugiesen Einwohner von den übervölkerten Azoren hier angesiedelt, aber es ließen sich auch schon früh deutsche Emigranten hier nieder, die z.B. Handelsniederlassungen gründeten. Der deutsche Einfluss findet sich jedoch eher im Hinterland, in Städten wie Blumenau (1850 von dem deutschen Apotheker Dr. Hermann Blumenau als Modellsiedlung gegründet), wo es sogar seit 1984 ein Oktoberfest gibt, oder Pomerode, von Einwanderern aus Pommern gegründet und die angeblich „deutscheste“ Stadt Brasiliens. Viele Einwohner sprechen auch noch Deutsch.
Florianópolis, kurz Floripa genannt, hat eine besondere Lage: Der ältere, größere Teil liegt auf der der Küste vorgelagerten Insel Ilha de Santa Catarina, der jüngere Teil auf dem Festland. Beide Teile werden seit 1926 von einer Hängebrücke (Ponte Hercílio Luz) verbunden, dem Wahrzeichen der Stadt. Es gibt noch zwei weitere Brücken.
Über 40 wunderschöne und sehr unterschiedliche Inselstrände locken jedes Jahr im Sommer Tausende von Touristen an, vor allem aus Argentinien, Uruguay und Paraguay, aber auch aus dem Großraum São Paulo. Einige der Strände an der Ostküste sind hervorragend zum Surfen geeignet, zum Beispiel der Strand Praia Joaquina. In den Sanddünen dort kann man auch Snowboards oder besser „Sandboards“ leihen und die weißen Dünen heruntergleiten.
Die Fischerdörfer Santo Antônio de Lisboa, Sambaqui und Ribeirão da Ilha haben sich noch ihren azoranischen Charakter bewahrt. Im zuerst genannten Ort gibt es eine kleine, einfache, aber sehr hübsche Pension, „Mar de Dentro“, die direkt am Meer liegt und wo ich mehrfach mit Gästen aus Deutschland übernachtet habe. Da das Meer hier jedoch dem Festland zugewandt ist, ist es nicht zum Baden geeignet. Die schöne Aussicht wird durch diese Tatsache jedoch nicht getrübt.
Auf der Insel gibt es auch eine große Lagune, die Lagoa da Conceição, wo man Wassersport treiben kann.
Santo Antônio de Lisboa:
Ribeirão da Ilha:
Rio Grande do Sul:
Die ersten Siedler aus Deutschland ließen sich allerdings nicht in Santa Catarina, sondern im südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul in der nördlich der Hauptstadt Porto Alegre gelegenen Serra Gaúcha, einem bewaldeten Hochplateau, nieder. Am 7. Januar 1824 wurden sie vom brasilianischen Kaiser Dom Pedro I und seiner Gattin Leopoldina, einer Habsburgerin, am Ufer des Rio dos Sinos persönlich begrüßt. Der Kaiserin zu Ehren wurde die erste Kolonie São Leopoldo genannt. Vor allem Protestanten aus den armen Gegenden der deutschen Mittelgebirge, wie etwa dem Hunsrück, zog es hierhin. Viele weitere Siedlungen (Kolonien) wurden in dem für Europäer angenehmen subtropischen Klima gegründet, zum Beispiel die Kolonie „Hamburger Berg“, aus der sich die heutige Stadt Novo Hamburgo entwickelte. Anders als in den übrigen Landesteilen Brasiliens, wo Plantagenwirtschaft vorherrschte, bearbeiteten die Bauern aus Deutschland kleinere Landflächen, die ihnen am Anfang von der Regierung zugeteilt wurden. Später mussten diese käuflich erworben werden. Das Land bestand größtenteils aus Urwald, der mühsam gerodet werden musste. Schnell übernahmen die deutschen Einwanderer die brasilianische Brandrodung. Die Asche düngte das Land. Eine erste primitive Hütte wurde errichtet, später entstanden dann einfache Fachwerkbauten nach deutschem Modell. Das Leben der ersten Siedler war hart. Zudem waren die im Siedlungsgebiet lebenden Indianer eine ständige Bedrohung, da sie sich – verständlicherweise – ihr Land nicht einfach so wegnehmen lassen wollten. Bewaffnete Gruppen von Siedlern machten sich auf in den Urwald, um die Ureinwohner zu bekämpfen, die sich immer weiter zurückziehen mussten. Letztendlich wurden sie brutal ausgerottet.
Ein beliebtes Reiseziel für brasilianische Touristen ist die Rota Romântica mit den von Deutschen geprägten Städten Nova Petrópolis, Gramado und Canela. Hier wird auch noch Deutsch gesprochen, allerdings „Hunsrückisch“, was für deutsche Ohren etwas merkwürdig klingt, aber man kann es verstehen.
Ab ca. 1875 kamen auch viele italienische Einwanderer, die sich in den höheren Lagen niederließen, da die anderen bereits von den deutschen Siedlern besetzt waren. Der Weinort Bento Gonçalvez und das Industriezentrum Caxias do Sul entstanden aus italienischen Siedlungen. Die Häuser der Italiener unterschieden sich sehr von den deutschen Fachwerkbauten (siehe Fotos).
Völlig anders, aber ebenso interessant, ist die weiter südlich gelegene große Grasebene, die brasilianische „Pampa“. Dies ist das Land der Gaúchos, der brasilianischen Cowboys bzw. Viehhirten, und der Estânicas, der brasilianischen Rinderfarmen. Große Rinderherden werden auch heute noch über die Ebene getrieben. Um die Stadt Pelotas herum hatten sich früher sogenannte Charqueadas angesiedelt (von Charque = „Trockenfleisch“ abgeleitet). Die Rinderherden wurden hierher getrieben, geschlachtet und weiterverarbeitet. Große Fleischlappen wurden über Holzgestelle gehängt und trockneten in der Sonne. Dieses Charque oder Carne seca wurde dann an die großen Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen im ganzen Land geliefert, als Nahrung für die Sklaven (siehe auch das ursprüngliche Sklavengericht Feijoada weiter oben unter der Rubrik „Essen & Trinken“).
Tockenfleisch (Charque bzw. Carne seca):
Der dritte Staat im Süden, Paraná, wurde etwas später besiedelt als die anderen beiden. Hier ließen sich außer deutschen und italienischen auch viele Auswanderer aus Mittel- und Osteuropa nieder. Die Hauptstadt Curitiba gilt als Modellstadt in Brasilien, deren Bewohner eine überdurchschnittliche Lebensqualität haben. Von Curitiba aus kann man mit der Gebirgsbahn die Serra do Mar hinunter an die Küste fahren – eine wahrlich spektakuläre Reise. Besonders die tiefen Schluchten, die die Bahn überqueren musste, und die vielen blauen Hortensien, die überall üppig blühten, sind mir in lebhafter Erinnerung geblieben.
In Paraná, an der Grenze zu Argentinien und Paraguay, befinden sich auch die beeindruckenden Wasserfälle von Iguaçu.
Alles in allem ist der brasilianische Süden absolut eine Reise wert! Wer einmal etwas anderes erleben möchte als die klassischen Touristenziele Rio de Janeiro, Salvador da Bahia oder die Strände im Nordosten des Landes, der ist hier genau richtig.
Rio Grande do Sul:
Santa Catarina:
Die brasilianische Mentalität
Was haben ein Gaúcho aus dem Süden, ein Caboclo (Mestize) vom Amazonas, ein Banker aus São Paulo und eine baianische Candomblé-Priesterin gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht sehr viel, doch: Es sind alles Brasilianer! Natürlich gibt es viele Unterschiede innerhalb Brasiliens, aber es lassen sich auch gewisse Gemeinsamkeiten herauskristallisieren (Ausnahmen bestätigen die Regel).
Zum einen sind die meisten Brasilianer sehr offen, tolerant, gastfreundlich und hilfsbereit. Außerdem sind sie wesentlich emotionaler als die Deutschen, die hier oft als frio (kalt) gelten.
Erstaunlich ist, mit wie wenig sich die ärmeren Schichten zufrieden geben und doch das Beste aus ihrem Leben machen. Hier wird nicht gemeckert und gestöhnt, wie man das aus Deutschland gewöhnt ist. Stattdessen nimmt der Brasilianer das Leben, wie es ist und erfreut sich daran. Diese Lebensfreude, eine gewisse „Leichtigkeit des Seins“, ist überall feststellbar. Warum stundenlang über Problemen brüten, wenn man doch auch die schönen Seiten des Lebens genießen kann, scheint die Devise zu sein.
Die meisten Brasilianer halten sich gern da auf, wo viel los ist. Je mehr, umso besser. Je voller der Strand, umso beliebter. Das Wort „Lärmbelästigung“ existiert in Brasilien nicht. Ich glaube, meine Hausangestellte fand es reichlich merkwürdig, dass ich gerne mal allein auf meiner Veranda saß und ein Buch las.
Sehen und gesehen werden, Kontakte knüpfen und flirten – das ist brasilianische Lebensart. Eine Schweizer Kollegin erzählte mir einmal eine interessante Anekdote: Sie war mit zwei Kolleginnen von der Schweizer Schule abends in ein Restaurant gegangen. Eine Kollegin ging dann zur Toilette (auf brasilianisch heißt das übrigens, „sich die Nase putzen gehen“; ein Wort wie „Toilette“ nimmt man nur ungern in den Mund). Der Schweizer Kollegin fiel auf, dass die brasilianische Kollegin sich viel Zeit nahm, hüftschwenkend durch den Raum ging, mal hier und mal da hinschaute und flirtete. Auf dem Rückweg die gleiche Prozedur. Danach ging die zweite Kollegin sich „die Nase putzen“. Dasselbe Prozedere. Susanne, die Schweizerin, ging als dritte – ganz „normal“, wie es eine Nord- oder Westeuropäerin eben tut. Als sie zurückkam, erntete sie verwunderte Blicke der beiden anderen, die nicht verstanden, warum sie diesen Gang nicht zum Gucken und Flirten genutzt hatte. Vielleicht sind Brasilianerinnen deshalb bei europäischen und amerikanischen Männern so begehrt? Sie betonen ihre Weiblichkeit (auch in der Kleidung) und agieren sehr weiblich. Und sie sind stolz auf ihren Körper, selbst wenn er nicht genau den Idealmaßen entspricht.
Damit kommen wir zum Schönheitskult, für den Brasilien, vor allem Rio de Janeiro, ja weltweit bekannt ist. Schönheitschirurgen haben in diesem Land ein gesichertes Auskommen. Auch weniger reiche Brasilianerinnen sparen sich oft genügend Geld zusammen, um das Gesicht zu straffen, die Nase zu begradigen, Fett absaugen zu lassen usw. Die Zahnindustrie profitiert ebenfalls von diesem Kult. Zähne werden gebleacht und Zahnspangen scheinen eine Art Statussymbol zu sein. Außerdem lassen sich viele Brasilianer die Augen bei Kurzsichtigkeit lasern, wesentlich mehr als in Deutschland. Die Lasertechnik ist hier hochentwickelt. Ich habe mir damals auch die Augen lasern lassen (einem deutschen Augenarzt hätte ich mich seinerzeit nicht anvertraut, einem brasilianischen mit reichlich Erfahrung im Lasern schon). Zuletzt nutzt der Schönheitskult natürlich auch der Fitnessindustrie.
Man sagt den Brasilianern eine gewisse Unpünktlichkeit nach, wobei ich davon in São Paulo nicht so viel gemerkt habe. Allerdings ist es schon so, dass man bei Einladungen nicht auf die Minute genau erscheinen sollte (wie das in Deutschland oft der Fall ist). Eine gewisse Verspätung ist bei privaten Feiern bereits einkalkuliert. In São Paulo hat übrigens jeder Verständnis dafür, wenn man wegen eines Staus verspätet zu einer Verabredung erscheint.
Viele Brasilianer sind sehr abergläubisch. Auch in einer Großstadt wie São Paulo werden Gaben für die Oríxas hinterlegt, Götter des Candomblé, einer afrobrasilianischen Religion, die auf religiöse Kulte in Westafrika zurückgeht (viele Sklaven kamen aus diesem Teil Afrikas). Das Zentrum des Candomblé liegt in Bahia. Eine weitere Religion ist Umbanda, in der sich indigene, afrikanische, christlich-katholische, kabbalistische, buddhistische und hinduistische Werte mischen.
Die Mehrheit der Brasilianer ist „fernsehsüchtig“. In manchen Häusern läuft der Fernseher von morgens früh bis tief in die Nacht. Eine Telenovela reiht sich an die nächste, manchmal auch unterbrochen von einer der ausgesprochen emotionalen Shows. Der wichtigste und mächtigste TV-Sender ist Globo. Die Hauptnovela um 21 Uhr ist beim Fernsehpublikum sehr beliebt und wird nur ungern einmal verpasst.
Eine weitere typisch brasilianische Eigenschaft ist paciência (Geduld). Man nimmt sich Zeit und wartet geduldig, bis man an der Reihe ist. Wer zur Eile drängt oder gar lautstark wird, erreicht hier nur das Gegenteil.
Ein großer Unterschied zwischen Deutschen und Brasilianern besteht in der Weise, wie man miteinander kommuniziert. Die Deutschen sind sehr direkt, sagen, was sie denken und erwarten dies auch von anderen. In Brasilien kommt man mit dieser Art der Kommunikation nicht weit. Sie wird als unhöflich, wenn nicht sogar beleidigend empfunden. Kritik wird nicht offen geäußert, man redet quasi „um den heißen Brei“ herum. Es gibt viele Nuancen, um seine Meinung auszudrücken, was ein Ausländer zunächst mal nicht oder kaum versteht. Ein „Ja“ bedeutet nicht unbedingt ein „Ja“, und ein direktes „Nein“ wird vermieden. Eine Kollegin von der Grundschule erzählte einmal folgendes Erlebnis: Der Vater eines Schülers war zum Elternsprechtag gekommen. Die Kollegin erläuterte ihm in allen Einzelheiten, warum die Noten des Schülers schlecht waren und was er tun müsse, um sich zu verbessern. Die ganze Zeit saß der Vater ruhig da, nickte freundlich und bedankte sich am Ende für das Gespräch. Am nächsten Tag wurde die Kollegin zur Schulleitung bestellt: Der Vater hatte sich bitterlich über sie beschwert!
Mir selbst ist etwas Ähnliches passiert. In meinem zweiten Haus an der Riviera Paulista (siehe 1. Teil meines Erfahrungsberichts) hatten die Nachbarn direkt an der Grundstücksgrenze einen Swimmingpool, dessen Pumpe sich offen unter dem Pool befand. Wenn die Nachbarn den Pool benutzten, normalerweise an Sonn- und Feiertagen, wenn ich auch gern auf meiner Veranda saß, dann schalteten sie die Pumpe ein, die einen ziemlichen Lärm machte und mich extrem störte. Also bat ich die Nachbarn bei der nächsten Gelegenheit – in meinem damals noch recht „plumpen“, ziemlich direkten Portugiesisch, dass sie doch bitte die Pumpe mit einer Tür oder Ähnlichem abdecken sollten, damit sie nicht so laut sei. Der Nachbar bedankte sich freundlich für den Hinweis. Das war das Ende der Kommunikation. Man sprach nie wieder ein Wort mit mir.
Die Feinheiten und Nuancen der brasilianischen Kommunikation sind für Deutsche nur schwer zu begreifen und noch schwieriger ist es, diese selbst anzuwenden. Eine Hilfe ist die Diminutivform mit –inho und –inha (gesprochen: injo/inja) am Ende eines Nomens (entsprechend unserem deutschen „chen“, also aus „Kind“ wird „Kindchen“). Damit schwächt man allzu direkte Äußerungen oder Kritik bereits um einiges ab. Aber letztendlich muss man wohl in Brasilien geboren sein (oder als Deutscher sehr, sehr lange dort gelebt haben), um diese spezielle brasilianische Art der Kommunikation vollständig zu beherrschen. Südeuropäer haben es da sicherlich leichter.
Als letzten Punkt möchte ich eine ebenfalls sehr spezielle Eigenart der Brasilianer nennen, den jeito oder jeitinho. Wer das Wort mit „Bestechung“ übersetzt, liegt falsch. Zwar kann „dar um jeitinho“ durchaus auch mal bedeuten, dass man jemandem ein paar Reais (bras. Währung) gibt, damit er einem eine kleine Gefälligkeit erweist, aber es bedeutet auch, scheinbar Unmögliches möglich zu machen, provisorische Lösungen für ein Problem zu finden oder Regeln und Vorschriften möglichst flexibel zu handhaben oder im Notfall geschickt zu umgehen.
Heimkehr
Alles Schöne geht irgendwann einmal zu Ende, und auch für mich kam nach 6 Jahren der Abschied von diesem wunderbaren und facettenreichen Land. Er ist mir sehr schwer gefallen und ich habe ca. drei bis vier Monate gebraucht, um mich wieder einigermaßen in Deutschland einzuleben (erschwerend kam hinzu, dass ich im Winter zurückkehrte).
Als ich noch in Brasilien lebte, hatte ich sogar ernsthaft erwogen, dort zu bleiben. Mit einer Freundin, die mich aus Deutschland besuchte, und einem Immobilienmakler klapperte ich mehrere Häuser in Florianópolis ab, die ich eventuell kaufen wollte. Leider wollte meine Bank kein Darlehen für eine Auslandsimmobilie gewähren. Also guckte ich mich in São Paulo um und hatte ein schönes Haus direkt an der Represa Guarapiranga (Stausee im Süden der Stadt) im Visier, in dem Bezirk Riviera Paulista, in dem ich drei Jahre lang gewohnt hatte. Mein Plan war, nach Ablauf des Auslandsschulvertrages als Ortslehrkraft in Brasilien weiterzuarbeiten. Letztendlich erschien mir diese Möglichkeit aber doch finanziell zu riskant und ich entschloss mich schweren Herzens, in meine deutsche Heimat zurückzukehren.
Brasilien und die wunderschöne Zeit, die ich dort verbracht habe, werde ich nie vergessen, und ich bleibe eine Brasileira no coração, eine „Brasilianerin im Herzen“, ein Kompliment, das mir zum Abschied gemacht wurde.
Und wer weiß, vielleicht kehre ich eines Tages zurück …
Teil 1:
Erfahrungsbericht 6 Jahre Brasilien – (Über)Leben in São Paulo
Themen:
Warum Brasilien? / Ankunft in São Paulo / Der Moloch São Paulo / Wohnen und Leben
Erfahrungsbericht Brasilien Teil 1