Ob Macht Sinn macht oder nicht, ist eine uralte philosophische und soziologische Frage. Schade nur, dass sich diese Frage heute kaum mehr jemand stellt. Dabei kann immer nur so viel Macht ausgeübt werden, wie man selbst bereit ist zu akzeptieren. Dieser Text, der sich stark an die Ideen des französischen Psychologen und Philosophen Michel Foucault anlehnt, versucht die Machtfrage zu klären, um am Schluss ein Plädoyer für die Machtfreiheit zu entwerfen.
Eine Einführung
In den letzten Schuljahren vor dem Abitur erhielt meine Klasse einen jungen, man nennt es wohl auch dynamischen Sportlehrer, der nach seinem Einsatz als Zeitsoldat sein Referendariat an unserem Jungen-Gymnasium antrat. Der hochgewachsene Mann mit militärischem Pottschnitt hatte seine Lehrjahre bei der Truppe offenbar erfolgreich absolviert, denn direkt in der ersten Sportstunde begann er, uns mit soldatischem Drill zu konfrontieren. Das Exerzieren in Form von Rumbrüllen (meist mit hochrotem Kopf), zackigen Anweisungen und niederschwelligen Diffamierungen a la „Lahmärsche“ oder „faule Bande“ fand aus drei Gründen bei uns wenig Anklang: 1. War für halbwegs gebildete Menschen, als die wir uns empfanden, nicht einsichtig, warum eine solche Machtausübung vonnöten war, um Leistungen zu erbringen. (Hier ist der Zusatz wichtig: Bis auf ein paar wenige Turnbeutelvergesser und Flachwassertaucher waren wir alle durchweg sehr sportliche Schüler). 2. Waren die meisten Mitschüler inklusive meiner Wenigkeit potentielle Kriegsdienstverweigerer und daher nicht sonderlich erpicht darauf, schon zu Schulzeiten Kasernenhof auf Probe zu simulieren und 3. sahen sich die meisten von uns – bei vielen liegt die Betonung sicherlich auf der Vergangenheit – politisch eher als selbstbestimmte Wesen, bei denen Machtausübung und Fremdbestimmung selbst auf Sportlehrerniveau die bereits existierende Akne verschlimmern half.
Unsere Reaktion basierte auf drei Ebenen: a) Ironisierung, b) Boykott und c) konstruktive Kritik. Nach Absprachen in den nächsten Schulpausen reagierten wir folgendermaßen: Sämtliche sportlichen Aktionen wurden ad absurdum geführt, d.h. der Weitsprungkasten hätte auch gereicht, wenn man ihn zur Hälfte abgesperrt hätte und unser Deutscher Meister in den Bundesjugendspielen glänzte mit Hüpfeinlagen und Laufzeiten auf Hundert Meter in dreistelliger Sekundenzahl. Dem neuen Sportlehrer schwoll der rudimentäre Haarkamm und nachdem er sich das schulsportliche Desaster eine Weile mit angeschaut hatte, rief er uns zu einer Besprechung auf dem Rasen zusammen. Hier brachten wir unsere Einwände und Kritikpunkte vor, machten klar, dass wir uns nicht durch zunächst angedrohte schlechte Sportzensuren von unserer Kontrahaltung abbringen ließen und zeigten guten Willen, wenn er sich zu einer in unseren Augen vernünftigen Ausübung seines Lehreramtes überzeugen ließ. Fazit, um es kurz zu machen: Nach dieser klärenden Auseinandersetzung ging es beiden Parteien gut: Der Sportlehrer hatte Spaß mit einer gut motivierten Klasse und wir konnten uns auf einen machtfreien Sportunterricht mit entsprechenden Leistungen freuen. Es ist nicht überliefert, inwieweit er dieses neue Verhalten auch bei nachfolgenden Klassen anwandte, da er schon bald die Schule wechselte.
Bei einer kürzlich stattfindenden universitären Veranstaltung zum Thema Michel Foucault und die Aspekte der Macht u.a. im schulischen Bereich wurde ich an das obige, weit zurückliegende Erlebnis erinnert und es setzte bei mir selbst viele Überlegungen frei, welche Bedeutung für mich Macht hat, wie ich damit für mich selbst umgehe und inwieweit ich selbst durch meine Tätigkeit Machtausübender bin. Dabei wird sehr schnell deutlich: Es geht hier um ein soziologisches und philosophisches Konstrukt, das sich als eine Art Automatismus in unseren Alltag eingeschlichen hat und sich daher selten bis gar nicht einer kritischen Thematisierung oder gar Hinterfragung stellen muss. Eben eines der vielen Es-ist-wie-es-ist-Phänomene. Fragt man zehn Personen nach ihrer Ansicht zur Macht, wird man (ich schließe hier mal die Enthaltung im Sinne von „da habe ich mir noch nie Gedanken drüber gemacht“ aus) zehn Antworten bekommen, die sich im Wesentlichen in drei Kategorien einteilen lassen: a) Ohne Macht geht es nicht, weil sonst Chaos herrscht, b) Macht ist unbedingt wichtig, um gesellschaftliche Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen (was positiv, wie negativ gemeint sein kann) und c) in der libertären Kurzversion: Keine Macht für Niemand.
Individuelle Machtstrukturen
Dass ich das Machtphänomen an einem eigenen Beispiel aufhänge macht Sinn, da Macht zunächst einmal ein individuelles Gebilde ist, das sich durch meine Sozialisation, Entwicklung, Erziehung, Kultur, persönlichkeitspsychologische Strukturen, Identitätsfindung, Religion usw. entwickelt hat. Ein Mensch, dessen Identität sich durch ein Höchstmaß an Selbstbestimmung zeigt, braucht keine Macht: Von Niemanden und für Nichts. Ein solches Individuum wird sich selbst regulieren können und wollen. Jemand, der in einem streng religiösen Kontext aufwächst, wird früh lernen, dass es nur ein übergeordnetes Wesen (z.B. Gott, Allah etc.) gibt und er selbst ein kleines Licht darstellt, das zum Gehorchen bestimmt ist. Foucault nennt diesen Ausschnitt auch mikrosoziologische Ebene der Macht. Aufgewachsen in einer streng katholischen Umgebung, in der mein Mikrokosmos durch Reglementierungen durch die Eltern, die Lehrer, den Pastor und andere „Machthabende“ bestimmt wurde, lernte ich zunächst die Unterordnung, das Gehorchen und sich Anpassen an das Vorgegebene, was von denen, die meinten, mich steuern zu müssen, als selbstverständliche und zum Leben dazugehörende Instanz gesehen wurde. Erst rebellische Elemente der Jugend, sowie das frühe Auseinandersetzen mit libertären Gedanken und alternativen Lebensformen beeinflussten meine Machtdisposition bis heute. Und mit zunehmenden Alter, Wissen, Erfahrungsbereitschaft und eigenen Reflexionen stellt sich mir die Machtfrage nur noch als ein für mich unsinniges und damit überflüssiges Konstrukt dar.
Machtverhältnisse im Alltag
Dies führt die Betrachtungen auf eine nächst höhere Ebene: Macht in der Verbindung zwischen zwei oder mehreren Menschen. Ein Machtverhältnis ist immer eine Relation, ein Konglomerat aus Herrschaftstechniken und Gehorsamsmentalität, was bedeutet, dass jeder Machthaber nur so viel Macht ausüben kann, wie diejenigen, die sich dieser Macht unterwerfen, bereit sind zu akzeptieren. Für den Soziologen Max Weber bedeutet Macht „… jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ Unser Alltag ist ein Räderwerk der Macht, wobei manche Machtverhältnisse deutlich zu Tage treten, während manche getarnt – und diese sind natürlich die bedrohlichsten – unter der Oberfläche schlummern. Macht ist überall, weil sie von überall kommt (Foucault) und mit ihren Auswirkungen bis in die körperlichen Gesten und individuellen Verästelungen gesellschaftlicher Verhältnisse hineinreicht. Macht funktioniert in vielen Alltagsbereichen wie Sexualität, Ehe, Familie, Arbeit oder Schule. Und spätestens hier wird deutlich, wie man sich mit seinem ganz eigenen Machtüberbau konfrontiert sieht. Die molekulare Machtausübung wirkt wie ein Kitzel, ein libidinöse Etwas. Das Gefühl, beim Sport einen Sieg einzufahren, beim Autofahren die PS des Wagens auszunutzen, bei der Sexualität eine gewisse Dominanz zu zeigen oder am Arbeitsplatz mit seinem Knowhow zu punkten, sind kleine Spielarten der Macht. Foucault spricht ihr eine Hinterhältigkeit zu, weil sie viel tiefer eindringt, indem sie Begehren schafft, Lust hervorruft und Wissen hervorbringt. Und hier zeigt sich auch – Selbstbestimmung hin und Selbstbestimmung her – dass man gezwungenermaßen nicht umhin kommt, sich einer gewissen Macht unterzuordnen. Auch wenn man Entscheidungen des Arbeitgebers für noch so idiotisch hält und sich am Ende des Tages nur noch als Humankapital missbraucht fühlt, gibt es nur wenige Möglichkeiten der Abwendung von einer Machtausübung von außen, außer man tritt in den Streik, kündigt oder wandert aus.
Gesellschaftliche und politische Macht
Nach der Foucault´schen Taxonomie gibt es schließlich noch die makrosoziologische Ebene der Macht. Historisch gesehen war früher die jeweilige Herrschaft durch einen König oder sonstigen selbsternannten Machthaber (Niemand ist per se König!) – wie es der Name ja sagt – das machtgebende Element. Dieser Macht hatte man sich, war einem seine eigene Existenz lieb, zu beugen, ob man wollte oder nicht. Also wollte man! Solche Strukturen existieren heute noch in vielen Gegenden der Welt und es gibt nichts Widerlicheres, als mit anzusehen, wie in Moskau Panzer aufgefahren werden oder religiöse Fanatiker Nichtgläubige köpfen, um damit Stärke zu zeigen, letztendlich aber nur Hohlköpfigkeit zu beweisen. Der Philosoph, Autor und Generalist Egon Friedell stellt in seinem Buch Vom Schaltwerk der Gedanken die nachvollziehbare Frage: „Welchen Zweck hat es für die einzelnen Angehörigen eines Staatswesens, dass dieses Staatswesen groß, mächtig, geachtet und gefürchtet in der Welt dasteht?“ Und Tolstoi zieht gar einen animalischen Vergleich heran: „Durch den Patriotismus sind alle Völker der christlichen Welt bis zu einem solchen Grade der Vertierung gebracht worden, dass ihnen nichts eine größere Freude und Begeisterung gewährt als der Gedanke an vergangene und zukünftige Massenmorde.“ Zielte die Macht früher darauf ab, den Körper zu zwingen, zu beugen, zu brechen, zu zerstören und ihn somit krank zu machen, geht es heute eher darum, abhängig, kritiklos und angepasst zu machen, also Macht auf seelische Bereiche auszuweiten bzw. zu konzentrieren. Oder, um mit Foucault zu sprechen: „Aus einem formlosen Teig, aus einem untauglichen Körper macht man die Maschine, derer man bedarf“ und die wir – müsste hinzugefügt werden – selbst in Gang halten.
Macht in der Moderne
Mit Blick auf Deutschland bzw. Europa hat sich der Machtgedanke verändert. Die moderne Macht gibt sich nicht mehr als Gebieterin über Leben und Tod der ihr anvertrauten Individuen, sondern sie zeigt sich als eine positive, auf das Leben gerichtete Quasimacht. Eine solche positive Ausrichtung bekommt die Macht dann, wenn sie aufgrund besserer Möglichkeiten wie Wissen, Erfahrung etc. ausschließlich dazu eingesetzt wird, für die Menschen zu sorgen. Foucault spricht hier von der Pastoralmacht, dem minimalen Staat, der sich als Manager der Freiheit ausgibt. Wohlfahrtsstaat nennt man das politische Gebilde heute, doch ist das nicht ein politisches Märchen? Wo hört das Fürsorgliche auf und wo greifen versteckte Herrschaftseffekte? Der Politologe und Podemos-Gründer (linkspopulistische Bewegung in Spanien) Juan Carlos Monedero äußerte sich im Philosophie Magazin (6/7 2015): „Das Parlament ist einfach nicht mehr der Ort, wo der Wille des Volkes bestimmt wird … Die Parteien sind zu Firmen geworden, die ihre Slogans nur noch auf Plakaten ankündigen, aber nicht mehr mit dem Volk reden … Angela Merkel und die Bundesbank bestimmen die Politik in Europa – nicht dessen Bürger.“ Lässt sich Demokratie als politisch-gesellschaftliche Form umschreiben, bei der alle Macht vom Volke ausgeht, so muss man dies für Deutschland und sicherlich viele andere europäische Staaten inzwischen revidieren: Es ist eine Lobbykratie, in der der Staat nur noch eine rudimentäre Rolle spielt, dafür aber Wirtschaft und Banken tonangebend sind. Um die Staatsbürger für die Wirtschaft zu biegsamen und willfährigen Konsumenten zu machen, lässt es der Staat zu, dass sie zu gläsernen Menschen werden, womit eine ganz neue Form von Macht entstanden ist. Innerhalb von ein paar Minuten und ein paar Klicks lässt sich das gesamte Leben, nebst politischen Präferenzen, Konsumverhalten oder sexueller Ausrichtung eines Menschen auswerten, aufarbeiten und entsprechend ausschlachten. Auch so lässt sich hervorragend regieren und Herrschaft ausüben. Man lasse sich das einmal auf der Zunge zergehen: Wir statten ein vermeintlich demokratisches System mit Macht aus, um für uns zu sorgen und unsere Freiheit zu schützen. Nie wieder werden diese Machtbefugnisse von uns überprüft, auch wenn der Staat das Gegenteil von dem tut, wozu wir ihn durch unsere Wahl beauftragt haben. Wir sollten Macht nicht an Vertreter delegieren, so der bereits zitierte Monedero, die alle vier Jahr gewählt werden.
Vielleicht könnte man mit Macht leben, wenn sie lediglich als pastorale Macht im Sinne einer neutralen und unterstützenden Einflussnahme daherkäme. In den vielen Jahrzehnten, in denen ich mit Machtstrukturen z.B. im medizinischen, behördlichen oder politischen Bereich in Berührung gekommen bin und umgekehrt, die Macht mich berührte, sind mir nur wenige Menschen begegnet, die tatsächlich in der Lage waren, ihr Ego hintenanzustellen und die Leitungsaufgabe ohne Machtallüren oder gar Machtbesessenheit auszufüllen. Es gibt zu viele Menschen, die aufgrund ihrer narzisstischen oder aggressiven Persönlichkeit dazu neigen, ihre Machtstellung zu missbrauchen. Andererseits gibt es wiederum viele Menschen, die in einer sich selbst aufgebenden Autoritätshörigkeit diesen Machtstrukturen blind Folge leisten (müssen). Machtausübung oder das Ertragen von Macht ist somit nichts anderes als ein psychopathologischer Prozess.
Fazit – Konsequenzen
Doch was tun? Wie lässt sich ein neues Beteiligungssystem oder, wie sich Monedero ausdrückt, eine Revolution des Gemeinsinns erreichen? Vor allem, wie lässt es sich vermeiden, dass Schweigen oder gar die Depression (und hier lässt sich sicherlich auch das Burnout-Syndrom anführen) als frei- oder unfreiwillige Verfahren gewählt werden? Die Buchhandlungen führen meterweise Literatur, die dem vereinnahmten Jetztzeitwesen eine Veränderung der Entscheidungsfreiheit oder Selbstbestimmung antrainieren möchte. Doch diese Wege müssen schon viel früher beschritten werden. Das deutsche Schulsystem sollte endlich aufhören, Steigbügelhalter der Wirtschaft zu sein. Wir brauchen keinen homo oeconomicus, dessen Leben schon im Kindesalter auf das Konsumieren ausgebildet wird, wir brauchen wieder Individuen, die das Risiko auf sich nehmen, um die Wahrheit zu sagen und für die eigene Überzeugung einzustehen. Es wäre wichtig, junge Menschen mit dem Machtphänomen früh zu konfrontieren und sie bereits im Kindergarten die Kunst der Kritik zu lehren. Eine Voraussetzung dieser Kritikfähigkeit sind sicherlich – wie Foucault sie nennt – Selbstpraktiken, wodurch sich das Individuum als bewusstes und vor allem bewusst handelndes Selbst wahrnehmen lernen soll. Sie sind als eine Art Lebenskunst der Selbsterkenntnis zu verstehen. Das hört sich chic philosophisch an, entbehrt aber meiner Meinung nach eine gewisse Alltagstauglichkeit. Um die Menschen zum Nachdenken zu bewegen, könnte man Vortragsreihen, Volkshochschulkurse oder Talkabende veranstalten, in denen die Machtfrage kritisch hinterfragt wird und sich so jeder schlussendlich überlegen kann: Was bedeutet für mich Macht? Wie weit bin ich bereit, mich einer Macht – welcher Art auch immer – zu unterwerfen? Auch das Internet bietet über Blogs oder andere Netzauftritte gute Möglichkeiten, mit denen ein Selbsterfragen und/oder Infragestellen von Herrschaftsstrukturen für jeden nachvollziehbar publizierbar ist.
Die parlamentarische Demokratie, wie u.a. in Deutschland in Stein gemeißelt und daher auch betonesk in ihrer Kreativität, Freiheitlichkeit und Entscheidungsfreudigkeit, ist im Grunde nur ein orthopädischer Stützstrumpf im libertären, machtfreien Denken. Daher ist die Einrichtung und politische Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen (NGO – non-governmental organization) unentbehrlich, um wirkliche gesellschaftliche Interessen zu vertreten, vor allem aber um vernünftige Sacharbeit unabhängig von Parteiklüngel leisten zu können. Hier sind alle erdenklichen gesellschaftlichen Selbstregulationen wünschenswert, was ähnlich wie bei genannten NGO´s über Räte, freie Übereinkunft oder rein funktionale Entscheidungen geschehen könnte. Das Ziel wäre eine Ordnung ohne Herrschaft. Ein Ziel, wofür langer Atem, vor allem aber viel Erkenntnis notwendig ist. Doch ein allemal lohnenswertes Ziel!