Die Gralshüter der political correctness werden bis aufs Blut gereizt, wenn man wichtige Prinzipien der Moral zu hinterfragen wagt, z.B. ihre Gültigkeit anzweifelt oder sich – mit oder ohne kreativer Veränderung – an ihr ausrichtet. Das tun wir, indem drei Beispiele aus dem öffentlichen Leben mit unterschiedlichem Schwerpunkt diskutiert werden (1. der „Klaps“ von Papst Franziskus, 2. der Fall Edathy und 3. die Geothermiebohrung in Staufen). Wir versuchen, Moral kritisch zu Ende denken.
Bevor wir mit dem kritischen Nachdenken beginnen eine kurze Sprachregelung:
Das Langweilige an der Beschäftigung mit Moral ist, dass man sie nicht bis zu Ende denkt, gewissermaßen beim ersten Schritt stehen bleibt. Genau das tun die Konservativen, Wertkonservativen, die politisch Angepassten und Ideologiehörigen. Dem gegenüber stehen die kritisch Denkenden, die auch einmal riskieren, daneben zu liegen, als Aufmüpfige und Querdenker angesehen bzw. verschrien zu werden. Nehmen wir das Bild aus der Haus- und Gartenarchitektur: Moral ist gleichsam der Hof, den alle sehen dürfen/sollen, in den Hinterhöfen, weil sie kaum jemand wahrnimmt, wird all das versteckt, was man nicht sehen sollte.
Sich mit Prinzipien der Moral kritisch und intensiv zu beschäftigen, muss mit solchen Konsequenzen rechnen. Es gibt nichts Peinlicheres im Zusammenleben der Menschen, als bei der Frage, warum man dies oder jenes tut, nichts zu sagen zu wissen oder auf Autoritäten zu verweisen. Was also geschieht, wenn man sich mit Moral beschäftigt?
Da ist erstens die Variante der Normanwendung: Man identifiziert sich üblicherweise mit einer offiziellen Seite, die von der Gesellschaft akzeptiert wird, das ist weitgehend die linke Seite des Schaubildes. In vielen, wenn nicht in den meisten Fällen bezieht man die Normen vom Mainstream der Gesellschaft oder vom sogenannten opinion leader.
Da ist zweitens die kritische Variante der Moralbeschäftigung – rechte Seite des Schaubildes: Sie bedeutet, Nachdenken zuzulassen und selber zu wagen. Nachdenken lässt Zweifel zu, weil sie die Normen des Zusammenlebens überprüft, ob sie ihr Ziel erreichen. Diese Art, Moral zu betreiben, bürstet die Regeln gewissermaßen gegen den Strich und gibt sich nicht mit dem Üblichen zufrieden.
Weiterhin ist in der Einschätzung vieler die Beschäftigung mit Moral wirkungslos. Sie hat keinen Einfluss auf die „kannibalische Weltordnung“ (Jean Ziegler). Jede Ordnung enthält Normen, aber ihre Beschäftigung damit ist gleichsam ein Aufruf zu kritischem und kreativen moralischem Denken. Eine Moral, die dem nicht entspricht, führt, wie man sieht, nur zur Katastrophe.
Nehmen wir eine universal anerkennte Norm aus der Menschenrechtscharta der UN. Natürlich gibt es die Seite der offiziellen Deklamation, eine brauchbare erste Orientierung. Gilt der, der Fragen dazu stellt, als Bösewicht? Keine geringere als die Philosophin Hannah Arendt, die in der Nazizeit nach New York auswanderte, sah das Ende der Menschenrechte gekommen, die wegen ihrer sentimentalen und unreflektierten Sprache „sich nur um ein Geringes von den Broschüren der Tierschützer“ unterscheidet. Nichts gegen Tierschutz, ich habe selbst einen Hund bzw. er hat mich, jedoch brauche ich dafür keine moralische Rechtfertigung. Ich bin gegen eine Moral, die nur die halbe, politisch korrekte, aber ganz sicher nicht die engagierte und kritische Seite der Lebenswelt vertritt. Moral braucht Mut. Zuviel Nachplappern von Normen verhindert Zusammenleben.
Moral ist nur wirklich Moral, wenn sie dem Anspruch genügt, Zusammenleben zu regeln (nicht nur: behördlich zu koordinieren). Albert Camus etwa schrieb, dass er das bisschen Moral, das er habe, vom Fußballplatz gelernt habe. Er war ein guter Torwart, der die Spielregeln (= Normen?) kannte. Wer deutlicher als Camus – er denkt nicht nur atheistisch, aber immer rebellisch – Religiosität zulässt, weiß, dass Zusammenleben auch eine Tiefendimension hat und wie wichtig der Andere mit seiner Lebenswelt ist. Nennen wir ein paar Beispiele, die mir einerseits sehr am Herzen liegen, gerade weil ich mich – zumindest wissenschaftlich – für Ethik-Fragen engagiere und es schrecklich finde, wenn man Moral im denkfreien Tugendmodus verhökert.
Ich habe drei Beispiele ausgesucht, die erst dann besonders elektrisieren, wenn man hinter die Kulissen schaut. Das erste Beispiel kümmert sich um einen Fall, dessen Brisanz nicht die Mainstream-Antwort ist, sondern die Betroffenheit dahinter. Das zweite Beispiel dreht sich um die Verurteilung eines Menschen – Gnade, Euer Ehren – aus angeblich moralischen Gründen. Hier wird besonders deutlich, was Moral anrichtet, wenn man sie nicht bis zu Ende denkt, erst dann wird Moral hinreichend radikal. Das dritte und letzte Beispiel zeigt die Konsequenzen der Moral, wenn man nicht überlegt bzw. nicht in die Abwägung miteinbezieht, welchen Schaden Menschen erleiden könnten und was man durch eine falsche Entscheidung ihnen aufbürdet.
„Klaps“ von Papst Franziskus
Ein Vater aus Argentinien, dem Heimatland des Papstes, stellte der obersten moralischen Autorität der Kirche, die Frage, ob er sein Kind aus pädagogischen Gründen schlagen dürfe. Der Papst, so die Gazetten Anfang des Jahres, erlaubte den ‚Klaps‘, schränkte aber ein, dass man dem Kind niemals die Würde nehmen dürfe. Die Verteidiger der Kinderrechte schrien auf, auch ein ‚Klaps‘ sei Gewaltanwendung, ob mit oder ohne Würde. Vielleicht ging es weniger um den Klaps und die Würde, sondern auch um die Tatsache, dass eine moralische Autorität sich zu Dingen äußerte, für die er nicht kompetent ist. Oder gab es wieder einmal zu viele Schäflein und zu wenig kritische Denker. Und da stehen wir wieder vor den beiden Weisen des moralischen Denkens: erstens der Seite der political correctess und zweitens der Seite des eigenen kritischen Nachdenkens.
Wagen wir die nachdenkliche Seite der Moral. Da sollten wir statt der meist ideologieträchtigen Deklamation der Moralnormen auch an die genervten Eltern denken, die etwa in der Bahn quengelige und laute Kinder zur Raison riefen, aber es nicht schafften. Viele – ich gehörte leider auch dazu – im Abteil waren offensichtlich gereizt. Hier fängt die moralische Dimension des Problems an, und die wichtige Beschäftigung mit Moral mündet in der Frage, wie wir den Eltern helfen und wie das Zusammenleben der Eltern und der anderen Betroffenen geregelt werden kann. Warum wird dieser Aspekt so gut wie nie betrachtet?
Wir kommen nicht weiter, wenn wir für oder gegen den Klaps plädieren. Emotionen à la Tierschutz (siehe Arendt) helfen nicht weiter. Es ist unfair und hat sicher nichts mit Moral zu tun, wenn wir Eltern im Stich und gereizte Mitreisende allein lassen, indem wir sie mit frommen Sprüchen aus der Mottenkiste der moralischen Deklamationen füttern. Diese Art von Moral ist zwar publikumswirksam, aber eher unmoralisch.
Was sind die bedenkenswerten Problemfacetten?
1) Eltern ist bei der Lösung eines Problems mit frommen Sprüchen – auch Sprüche vom Papst sowie seinen Gegnern sind eine Variante der Frömmigkeit – nicht geholfen. Diese Hilflosigkeit kann nicht moralisch sein.
2) Die pädagogische Kompetenz der Eltern mit päpstlichen Ermahnungen in Frage zu stellen, ist wenigstens unüberlegt, wenn nicht gar kontraproduktiv.
3) Die moralische Verpflichtung der anderen, die die Eltern so nervös machen, darf nicht übersehen werden.
Der Klaps löst das Problem nicht, auch Kläpse zu ächten ist keine Lösung. Das überlassen wir den Ideologen und Hütern der political correctness. Über die Lösung nachdenken kann helfen, vor allem wenn man die moralische Schnellschusslogik von kirchlichen Autoritäten und Hütern der political correctness für zu wenig hilfreich hält. Und auf die Absicherung eines guten Zusammenlebens kommt es in der Moralphilosophie an, nicht auf die feiertäglichen Moraldeklamationen.
Verurteilung eines Pädophilen
Sebastian Edathy, einst viel gewürdigter Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag und Mitglied der SPD, ist wegen Herunterladens pädophiler Bilder aus der Partei und allen politischen Ämtern entlassen worden. Als seine geheimen Exzesse ans Licht der Öffentlichkeit kamen, distanzierten sich die Partei und auch die Öffentlichkeit. Seine zweifelsfreien Kompetenzen, die er in seiner jüngsten politischen Vergangenheit bewiesen hat, zählen natürlich nicht mehr. Das Stigma ‚Pädophilie‘ ist geblieben, auch wenn niemand so recht weiß, ob in seinem Fall eine Krankheit oder eine Beziehungsstörung vorliegt. Moral und Differenzierungsvermögen gehen selten zusammen, die moralische Verurteilung hat wieder einmal zugeschlagen.
Die Gefahr des sexuellen Missbrauchs soll und kann nicht entschuldigt werden, entschuldigt werden kann aber auch nicht, wenn man Menschen wie Edathy Normverletzung vorwirft, ohne eigenständig nachgedacht zu haben. Wenn man genau das tut, muss man zweierlei beachten: 1) Was ist an diesem Fall Edathy wirklich strafrechtlich bedeutsam, das Besitzen von kinderpornographischen Bildern oder der tatsächliche Missbrauch von Kindern? Oder ist Edathy nur ein politisches – mit Moral drapiertes – Bauernopfer? 2) Was macht man mit den Menschen, die krankhafte oder nur abweichende Bedürfnisse haben? Darf man sie in die Ecke der Unmoral stellen, oder muss man ihnen wirksame Hilfen, z.B. Psychotherapie, und nicht nur Verschärfung des Strafrechts und Vorverurteilung zur Verfügung zu stellen?
Wenden wir uns den Hinterhöfen der Moral zu, also jenen vergessenen Schattenseiten. Der Fall Edathy ist nicht zu lösen, wenn man nicht Hilfen für die Menschen zur Verfügung stellt, die besonders geschwächt – weil verletzlich und verletzt – sind, und das sind vor allem und in erster Linie solche Menschen, die man keinesfalls auf den Scheiterhaufen der Moral opfert.
Geothermiebohrung in Staufen (bei Freiburg)
Geothermie ist kein ethisches Thema und soll es auch niemals werden. Aber es wird zum ethischen Problem, wenn wir bestimmte Fragen nicht zulassen, etwa die Frage nach den Konsequenzen für die Betroffenen. Zunächst ging es 2007 im Zuge der Rathaussanierung in Staufen um Verbilligung der Energiegewinnung. Mit Geothermiebohrungen schien das möglich, die Stadt folgte dem billigeren Angebot. Unter den eröffneten Erdschichten waren wasserführende Adern, die den Stadtgrund durch aufquellendes Grundwasser in Bewegung setzten und bei vielen Bauten, z.B. solchen aus der Renaissance, armbreite Risse erzeugten.
Inzwischen wurde durch Einbringung von Beton in die betroffenen Schichten das Auseinanderderbrechen verlangsamt, aber leider nicht gestoppt. Schäden dieser Art, wenn auch nicht in diesem Ausmaß, gab es in Basel, Böblingen, Leonberg oder Lochwiller (Elsass). Es gibt natürlich Rechtsprozesse, deren Ausgang sicher nicht einmal alle Kläger erleben werden. Eine ehrliche Konsequenzenabwägung wäre nicht unrealistisch gewesen.
Was auch immer der Stadtrat entscheidet, er sollte die möglichen Folgen und Risiken abwägen. Geld sparen ist oft hilfreich, aber man darf diese preußische Sekundärtugend nicht zum Wesen der Moral erheben. Konsequenzenabwägung wie bei der sogenannten Technik-Folgen-Abschätzung (in der technisch orientierten Ethik heute besonders wichtig) gehört zum harten Kern der Moralphilosophie, und wer die nicht bis zum Schluss durchzieht, sollte besser seine Finger von Projekten lassen, in deren Hinterhöfen Menschen zu Schaden kommen.
Man macht aus dem Problem, menschliches Zusammenleben zu regeln, eine Problem der Anwälte und Gerichte. Aus der Zusicherung von Sicherheit wird ein Problem der Versicherung. So hören sich die Bocksgesänge des Untergangs an. Was fehlt ist der sehr einfache Satz der Verantwortlichen: „Entschuldigung. Ich habe einen großen Fehler gemacht“. – Gegen Fehler kann man was tun, nämlich Fehler ignorieren – ein wohlfeiles Moralschema, das auch nach der love parade in Duisburg daneben ging.
Konkret sind es in diesem Staufener Fall jene Menschen, die zwecks Alterssicherung eine Immobilie erworben und noch keine angemessene Entschädigung bekommen haben, Mieter mit beschädigtem Wohnraum und noch unentschiedenem Anspruch von Mietminderung, reduzierter Tourismus wegen des gestörten Stadtbildes usw. Es geht auch um die Identität vieler Menschen und die Geschichte ihres Zusammenlebens und Wohnens.
Und die Moral von der Geschicht‘? Es gibt leider allzu viele Fälle, bei deren moralischen Bewertung man bei den ersten Schritten stehen geblieben ist. Man darf niemals Normen weitergeben, die man nicht selber überlegt hat. Dazu gehört, die Betroffenheit der anderen wirklich zu Ende denken und sich gleichsam in die Hinterhöfe der Moral vorzuwagen.