Glaube in Gefahr
Die Ohnmacht Gottes und die Macht der Kirche

Kirche ist/war für viele ein Hort des Glaubens. Mein Problem: Glauben ist in Gefahr und – so das Symbol – die Kirchenglocken vom Lübecker Dom – ein Kriegsereignis – liegen kaputt am Boden. Was nun?

Julian Barnes (siehe „Die Weltgeschichte und der Holzwurm“ in Querzeit) schrieb:

Wie meint er das? Vielleicht ähnlich wie ich. Glauben ist mir wichtiger als ich bisher meinte. Enttäuscht bin ich über die Rolle der Kirche. Eigentlich sollte sie Typen wie mir beim Glauben helfen. Aber sie tut es nicht. Stattdessen kommt ein Buchtitel „Ihr macht uns die Kirche kaputt!“ – ein gewagtes Programm des Schweizer Moralprofessors Daniel Bogner über die Selbstzerfleischung der Kirche.

Notre-dame in Paris nach dem Brand am 15./16. April 2019 (Foto: Henry König)
Notre-dame in Paris nach dem Brand am 15./16. April 2019 (Foto: Henry König)

Wem gehört die Kirche eigentlich, die gerade kaputt gemacht wird? Sicher nicht dem Vatikan.

Ich sang bei einem Gottesdienst zum Kirchweihfest im Chor. Da hielt der kritische Pfarrer eine sehr beeindruckende Predigt: Bei seiner Prdigtvorbereitung am 15.4.2019 habe er einen Freund angerufen, als er gerade im Radio hörte, dass die Pariser Hauptkirche Notre-dame brennt. Die Reaktion seines Freundes: Die Kirche brennt schon lang.

Dostojewski beschreibt in seinem Roman Die Brüder Karamasow einen seltsamen Traum, den ich auch hätte träumen können:Textauszug Brüder Karamasow

Angenommen, Dostojewski, der eine Zeitlang im Spielcasino von Baden-Baden täglicher Gast war, würde heute von der Zölibatsverweigerung des Papstes hören. Jesus würde ihn fragen: Was hat das mit Glauben zu tun? Der Papst käme sicherlich mit Expertise. Einige Theologen finden in der Bibel nichts Wichtiges über Zölibat, andere eher doch. Oder hält es der Papst mit der vatikanischen Macht? Dabei sollten er und seine geweihten Mannen doch eher den Glauben stützen. Tun sie aber nicht.

Apropos, der sexuelle Missbrauchsskandal in der Kirche würde, so ein Artikel in einer theologischen Zeitschrift, mit Änderungen in der kirchlichen Sexualmoral (1), der Homoerotik (2) und v.a. mit einer Neuausrichtung der Zölibatsregelung (3) verbessert. Weiß man’s? Damit ist es nicht getan. Eine wirkliche Neuausrichtung wäre der Verzicht auf Macht. Wie zurzeit der Vatikan zeigt, wird er auf Macht nicht verzichten. Macht überzeugt, weil sie – leider mehr als alles – funktioniert. Hatte Dostojewski doch recht?

Was mir Glauben aber wichtig macht, ist Folgendes:

  1. Die Macher und ihre heimlichen Interessen

Was mich im Theologiestudium faszinierte, war die Arbeit bei Prof. J.B. Metz in Münster. Er war Begründer der neuen politischen Theologie. Was ich als Student nur hinter vorgehaltener Hand mitbekam war, dass Metz (und auch Rahner) bei der damaligen Wahl in NRW für die SPD eintraten. Bischofsbeschuss. Als  Metz nach der Münsteraner Zeit einen berühmten (Guardini-)Lehr­stuhl in München bekommen sollte, hat der Münchener Erzbischof Josef Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI (der in der Machtstruktur der Kirche als Altpapst leider immer noch mitmischt) die Berufung verboten.

Glaube in Gefahr (Foto FJ Illhardt)
Glaube in Gefahr (Foto FJ Illhardt)

Kann man als Christ nach Auschwitz noch beten, fragte Metz. Offensichtlich ja, wegen der ungeheuren Betroffenheit, die Rettung herausfordert. Je tiefer der Fall, desto größer die Sehnsucht nach Rettung. Aus der Sehnsucht nach Rettung wurde Rhetorik.

Metz ging damals weiter, Gegenstand des Glaubens sind die Leidenden in aller Welt, nach  Metz konkret, vor allem die Menschen in Südamerika, die ausgenutzt, verfolgt, gedemütigt, sogar getötet wurden. Der ermordete Erzbischof Romero von San Salvador wurde heiliggesprochen, aber die politisch-sozialen Zustände blieben. Versteh ich nicht.

Jede Politikgestaltung hat Hintergründe, die man aufdecken muss. Der linke  Philosoph Habermas (Neomarxist), mit dem Metz befreundet war, nannte das die „Interessen“, die Politik leiteten. Glauben ohne politische Interessenkritik hielt er für amputiert.

  1. Der Blick des Flaneurs

Cees Noteboom, ein holländischer Schriftsteller, den ich sehr mag, schrieb über Walter Benjamin, halb Jude, halb Marxist:

Er tat, was Flaneure immer tun, das heißt: tun, als ob sie nichts täten und dabei die Augen sehr gut aufmachen.

Place de la concorde. (Foto:H-G. Borrmann)
Place de la concorde. (Foto:H-G. Borrmann)

An vielen Stellen habe ich Benjamin bewundert. Er ist jemand, der sehr genau hinsieht und dahinter eine Realität entdeckt, die uns meistens entgeht. Schlimm, dass auch die Kirchen zu ihrer Entdeckung nichts tun. Sein Bild von den Rüschen des Brautkleids, die politische Funktion des Narren, die Verpackung der Möbel in der Zweitwohnung, die Rolle der Kunst usw.

Benjamin ist durch und durch Flaneur, sieht die Welt mit anderen Augen, ist m.E. religiös.  In einem Museum zum Flaneur in Bonn las ich den Ausspruch von Heinrich Heine. Irgendwie meinte er ja auch wohl Benjamin:

Wenn der liebe Gott im Himmel sich langeweilt, dann öffnet er das Fenster und betrachtet die Boulevards von Paris.

Benjamin liebte die Boulevards in Paris. Daneben liebte er noch  die Alleen von Berlin („Berliner Kindheit um 1900“, tolles Buch von Benjamin). Lieben auch wir die Dinge, die uns begegnen, schauen sie gründlich und nachdenklich an? Sehen wir etwa hinter den Dingen, oder nur die Schauseite? Gaube hat etwas mit dem zu tun, was verborgen für den bleibt, der nicht richtig hinsieht.  Können wir noch flanieren? Glauben heißt ja, der Welt treu sein.

  1. Begegnung & Beziehung: Kirchliche Herausforderungen

Was unsere Begegnungen und Beziehungen verdirbt, sind die Mittel, mit denen wir das Glück des Kontakts herbeizwingen wollen. Mittel verzerren. Das DU wird instrumentalisiert, das ICH zum Schaffer, kritisiert Martin Buber. Zwischen ICH und DU könne kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme usw. stehen, sonst würden sie Spiel, Etikettenschwindel und Gerede. Nur wo es keine Mittel mehr gäbt, geschähen Begegnung und Beziehung.

Was hat das mit Glauben zu tun? Kürzlich erlebten meine Frau und ich ein Kirchenproblem, wir heirateten kirchlich zur Silberhochzeit. Weil der Pfarrer sah, dass Ehevorbereitung und Familienplanung nicht mehr angesagt waren, verlegten wir uns auf Wein- und Schnapstrinken. So besoffen wie nach dem Eheseminar war ich noch nie. Meine Frau trank nicht, sie „musste“ mich ja nach Hause fahren. Was lernen wir daraus?

  • Wenn man das kirchliche Ritual beiseitelässt, kommt die Wichtigkeit der Beziehung voll zum Tragen.
  • Selbst im kirchlichen Eherecht ist die eigentliche Eheschließung Sache der Eheleute, nicht Hoheit der Kirche. Schleunigst muss Macht der Kirche her und rechtlich verbrieft werden, darum die sog. Formpflicht.
  • „Formpflicht“ bedeutet: Einhaltung bestimmter Formalien macht den Vollzug der Trauung gültig. Wie das? Warum mischt sich die Kirche in Eheprobleme? Nichts gegen die psychologische Eheberatung, aber alles gegen die Kontrolle der Liebe.

Ein Prof in Münster sagte uns Studenten*innen im Kirchenrechtskurs: Meine Damen und Herren, widersprechen Sie niemals Ihrem Bischof mit der Bibel in der Hand, wenn dann nur mit Paragraphen des Rechtskodex (CIC). – Das ist Machtkunde pur.

Nachtrag: Prof. Herrman in Münster wurde nach dem Buch („Die 8 Totsünden der Kirche“) exkommuniziert.

  1. Atheismus im Christentum

Ernst Bloch, Philosoph, heiratete eine Jüdin. Als die Nazis immer mehr Deutschland  beherrschten, emigrierten die beiden in die USA. Die Sprachbarriere war für Ernst zu hoch. Als die 1000 Jahre nach 12 Jahren zu Ende waren, gingen die beiden in die DDR. Dort bekam der Philosoph einige Preise, dann aber Schwierigkeiten. Immer öfter wurden bei ihm Kommunismus und Religion in Verbindung gebracht. Bis Bloch rausgeschmissen wurde. Seine Westdeutsche Philosophenkarriere war verblüffend. Bloch tanzte auf sozialistischen und religiösen Hochzeiten. (Sein Assistent Rudi Dutschke wurde in Berlin auf einer Demo gegen der Schar erschossen.)

Vieles in Ernst Blochs Büchern faszinierte mich. Darunter besonders ein Satz

Wo Hoffnung ist, ist auch Religion; nicht gilt freilich, in Ansehung der von Himmel und Obrigkeit verhängten Religion, die Umkehrung: Wo Religion ist, ist auch Hoffnung.“

Louis Daniel „Satchmo“ Armstrong - be-rümtester Jazztrompeter der 60er Jahre (Foto FJ Illhardt)
Louis Daniel „Satchmo“ Armstrong – be-rümtester Jazztrompeter der 60er Jahre (Foto FJ Illhardt)

Warum? Weil Hoffnung auf das setzt, was noch nicht der Fall ist. Sie will das herbeiführen, was noch nicht  ist, aber wünschenswert ist.

Von ihm stammt auch der Satz, dass nur ein Atheist Religion wirklich verstehen könne.

Jean-Luc Nancy schrieb: Blochs atheistisch-theologische (!) „Ausführungen atmen den Geist einer Jazz-Improvisation: Mal ist die zugrunde liegende Struktur deutlicher, mal weniger deutlich zu erkennen …“, Das Geheimnis der Musik – Jazz, Pop, Klassik etc. hin und her – ist Schönes zu entdecken, Neues zu finden, Harmonie herzustellen usw. Bedingung ist: Nicht an Vorgegebenem kleben bleiben

Glaube ähnlich der Musik verträgt kein Ritual, das lehrt uns Bloch. Er umspielt die Dinge, verherrlicht sie, will/muss Vorder- und Rückseite verstehen. Das Thema aber bleibt, es bleibt gewissermaßen eine Herausforderung.

  1. Gefahr der Macht

Kürzlich wurde vom Franzosen Ladj Ly, sein Vater war Araber, nach dem Roman von Victor Hugo LES MISERABLES ein großartiger Film  (deutsch: DIE WÜTENDEN –  LES MISER­ABLES) gedreht, natürlich in sehr aktuellem Gewand. Er wollte „zeigen, was in den Banlieues [Vororte von Paris] los ist“: Dieses Ziel verfolgt der Filmemacher Ladj Ly mit seinen Les Misérables. Er bekam einen Oscar. Als Macron, stolz wie Oscar, den Regisseur bat, den Film im Elysee zu zeigen, gab der Regisseur zur Antwort, er möge doch in ein Kino der Banlieues kommen. Bisher kam es noch nicht dazu. Wieder einmal siegte die Macht. Apropos: Victor Hugo wurde als französisches Schandmaul des Landes verwiesen.

Übrigens, auch die landesweiten Proteste der Gilette Jaune (Gelbwesten) hat Macron  nicht in den Griff bekommen. Und das ca. 230 Jahre nach der französischen Revolution mit ihrem FREIHEIT, GLEICHHEIT, BRÜDERLICHKEIT (liberté, egalité, fraternité). Dieser Bannerspruch heißt „übersetzt“: Freiheit ist, in Malle Urlaub machen zu  können. Gleichheit, viele sind noch ein bisschen gleicher. Und Brüderlichkeit, wer weiß schon, was das ist. Ist das vielleicht etwas Frommes?

Möglicherweise ja. Für Bloch war die Französische Revolution etwas Faszinierendes, er sah darin, wie er es gern nannte, den gallischen Hahn. Der Gallische Hahn – lateinisch „gallus“ (= der Hahn) und zugleich „der Gallier“ – ist doppelsinnig. Seit der Französischen Revolution ersetzte er auf den Heeresfahnen die Insignien der königlichen Macht durch die Zeichen der Freiheit

Wenn die Welt so wäre wie damals beschrieben, wäre vieles anders. Wir sollten es riskieren, Utopien zu haben, Dinge für noch nicht real zu halten, die dann aber, wie Bloch sagte, aus dem „Noch-nicht“ ins „Schon“ wachsen. Er zitierte ein paarmal aus der Bibel und fragte sich, was wohl passiert wäre, wenn Marx die Bibel gelesen hätte. (Hat er [Abiturarbeit in den Frühschriften], aber das war wohl die Bibel light.) Aber eine Art Diskurs gab es nicht.

Kommen wir zum Diskurs zurück: Die Französische Revolution wäre vielleicht nicht so bös den Bach runtergegangen, wenn die Kirche die BÜDERLICHKEIT – lieblos gesagt – nicht aus dem Kanon des Glaubens gestrichen hätte. Wird die Beziehung von Bruder zu Bruder (Schwestern inklusive) wirklich ernst genommen? Ist BRÜDERLICHKEIT nicht ein „Markenzeichen“ des Christentums? Sind Bischöfe heute meine Brüder? Die debattieren über alles Mögliche, nur nicht über die Unterstützung des Glaubens. Stattdessen Gezänk über den „synodalen Weg“ (Mitsprache von Laien und Priestern) wegen des Sperrfeuers aus Rom und hiesigen rechtsgerichteten Kardinälen. Kommt da etwas heraus außer Machtgeplänkel?

Soweit die sehr aktuellen Glaubensprobleme. Wenn man in der Geschichte der Kirche zurückblättert, gibt es sehr viele gläubige Ketzer, Gott sei Dank!