Es bringt nichts, für oder gegen Suizidbeihilfe zu sein, vor allem helfen keine Parlamentsdebatten. Dazu später mehr. Lassen wir Menschen allein, die von Angst und Verzweiflung geplagt werden? Kann das gut sein?
Der assistierte Suizid ist die Möglichkeit, jemandem, der sich wegen des nahenden Endes in tiefer Verzweiflung befindet, ein tödliches Medikament zu beschaffen. Es geht also nicht um Personen, die in ausweglose Situationen geraten sind und deswegen Suizid begehen wollen. Zyniker, vor allem solche, die noch nie emotionale Stürme erlebt haben, albern gerne mit dem Beispiel vom Liebeskummer und aktueller Todesbereitschaft herum. Suizidbeihilfe wurde Ende 2015 ins Strafgesetzbuch aufgenommen, leider mit dem verwirrenden Zusatz: das sei zwar erlaubt, aber nicht für geschäftsmäßigen Einsatz.
Was immer „geschäftsmäßig“ bedeutet, es macht die klare Aussage kaputt. Und hier beginnt ein großes Problem. Ob wir Suizidbeihilfe für gut oder schlecht halten und danach handeln, ist und bleibt jedem unbenommen. Wir nennen das Autonomie. Wichtig ist allein, ob ein Gesetz unser Zusammenleben fördert.
Bis zu meinem Ruhestand habe ich viele Ethikberatungen in der Freiburger Klinik durchgeführt. Wenn man mit der Behandlung eines Patienten nicht weiterkam, genügte der Anruf einer Station, und wir waren wie vereinbart da. „Wir“? Es wurde je nach Problem eine Mann- bzw. Frauschaft zusammengestellt – sehr oft mit Juristen.
Es kam der Anruf eines mir bekannten Hausarztes nach dem Klinikaufenthalt seines Patienten. Bei ihm wurde in der Klinik eine seltene und zum Tode führende Krankheit festgestellt: eine ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), das heißt eine schleichende Muskellähmung, die alle Körperbereiche außer den Augen-, Schließ- und Herzmuskeln erfasst. Sie beginnt bei den Extremitäten und hört im fortgeschrittenen Stadium bei der Lunge auf. Der Patient wollte die ersten Phasen der Krankheit auf sich nehmen, aber die Erstickung durch die Lähmung der Lunge konnte/wollte er nicht mehr ertragen. Die Frage des Hausarztes und später die des Patienten war, ob man am Ende ein tödliches Medikament bekommen könne, damit das Leiden aufhört?
Folgender Satz des Juraprofessors Jochen Taupitz (Uni Mannheim) hat mich sehr beeindruckt. Er schrieb: Wir sollten nicht darüber nachdenken, warum (!) wir die Behandlung abbrechen dürfen, sondern warum (!) wir weitermachen. Dieser Satz rückt zurecht, dass es um die Behandlung des Patienten geht und nicht um die Legalisierung von deren Abbruch. Genau das verliert man leicht aus den Augen: die Hilfe für den Sterbenden bis zum Ende.
Dieser Ansatz ist unser Thema. Es geht um die Entscheidung des Patienten. Stattdessen Lagerdiskurs im Bundestag. Nicht der Patientenwille war ausschlaggebend, sondern die üblichen Standardargumente gegen die „anderen“, sie würden die Autonomie unterlaufen „Das Unbedingte gehört in die Pathologie“, schrieb Nietzsche, gilt auch für Abgeordnete. Sie diskreditieren Autonomie und zerstören das Zusammenleben der Menschen mit ihren unterschiedlichen Positionen.
Es geht uns nicht um das Pro und Contra der Suizidbeihilfe. Es wurde schon alles gesagt, aber nicht von allen, meinen offensichtlich die Abgeordneten. Aber garantieren unsere (wirklich „unsere“?) Gesetze Zusammenleben?
Hier eine kurze Zusammenschau:
Einige Länder haben eine weniger verwirrende Einstellung zum Problem der Suizidbeihilfe. In Misskredit geraten ist das viel gescholtene Holland. Darum der Versuch einer Ehrenrettung: Sterbehilfemaßnahmen dort setzen eingehende Beratung, eine zweite Diagnose und Meldung beim jeweiligen Gesundheitsamt bzw. Leichenbeschauer voraus. Hier eine Auflistung der europäischen Nationen, die allen Freunden eines sterbenden Patienten und dem Sterbenden selber wie auch ihrem Arzt klare Hilfe zuerkennen, auch wenn sie bestimmte Schutzmaßnahmen vorsehen.
Was ist der Grund für diese Verwirrung? Beeindruckend sind die folgenden Gründe:
Entscheidungsprobleme in der Phase des Sterbens
Natürlich geht es um Lebens- und Behandlungsbeendigung als Ultima Ratio, nicht um depressive Reaktionen. Die Abgeordneten haben oft keinen blassen Schimmer vom Sterben. Gestorben wird selten in Kanzleien, dafür häufig in Krankenhäusern, und die sehen sie selten von innen. Viele Angehörige, Betreuer und Schwerkranke legen großen Wert auf das Recht, die eigene Entscheidung gegen das System des Weitermachens zu verteidigen. Und was machen die Abgeordneten? Sie verbieten Geschäftsmäßigkeit der Hilfe beim Sterben. Was bedeutet „geschäftsmäßig“?
Unsere Abgeordneten haben das offengelassen. Bedeutet sie Höhe des Honorars oder Anzahl der Maßnahmen? Die Abgeordneten haben wohl etwas gegen die Euthanasiegesellschaften wie Dignitas, Exit usw. Warum gehen Angehörige und Patienten straffrei aus, aber der Geschmack von Illegalität bleibt? Und vor allem: es geht nicht um Patienten, sondern mal wieder ums Geschäft. Wer sorgt sich um jene Patienten, denen niemand mehr helfen kann und die unter dieser Hoffnungslosigkeit leiden? Wir haben folgende Möglichkeiten, die ethisch und juristisch akzeptabel sind:
Wenn man oft mit Schwerstkranken zu tun hat, versteht man, dass die Möglichkeiten, das Leiden nicht bis Ultimo zu verlängern, zahlreicher sind, als man denkt. Wir müssen früh genug, nicht erst in der letzten Lebensphase, nach dem Warum, den Begleiterscheinungen und der verbleibenden Lebensqualität nachdenken.
Wer hat das Recht, über das Leben eines Menschen zu entscheiden?
Kann es außer dem Betreffenden selbst jemanden geben, darüber zu entscheiden? 79% der Befragten in einer – man höre und staune – kirchennahen Statistik befürworten die Möglichkeit der Suizidhilfe. Die GroKo ignorierte diese Zahlen. Warum fasste die Regierung einen Parlamentsbeschluss, ohne die Meinung der Bürger zu kennen? Hier meine Phantasien zu dieser Ignoranz:
- Haben die Parlamentarier für diesen Beschluss das Recht oder eher nicht? Jemandem das Recht auf Selbstbestimmung zu nehmen, nannte Nietzsche – plastischer geht’s nicht – „eine Art Nothzucht und Unnatur“. Autonomierechte zu ignorieren, widerspricht auch unserem Demokratiekonzept.
- Für diesen Unfug, in Gewissensfragen (wie dem Schwangerschaftsabbruch, der Forschung mit Embryonen oder aktuell der Suizidhilfe) frei zu entscheiden, wird immer der sogenannte Fraktionszwang im Bundestag aufgehoben. Aber was ist eigentlich “Gewissen”? Trauen wir dem Wort, sehen wir auch Wissen darin. Die Abgeordneten wittern darin wohl zuerst Gefühl. Statt Information Gewissen? Ein Witz über Trump: Seine Bibliothek wurde angezündet. Ein Buch ist verbrannt, das andere blieb erhalten. Gilt das nicht auch für unsere Abgeordneten?
- Abgeordnete müssen Erfahrungen mit dem Problem gemacht haben, wenn sie über eine Lösung beraten. Ein kurzer, aber erschreckender Blick in die Interna:
Abgeordnete aus
Lehre, Bildung, Forschung 42
Medizin und heilkundlichen Berufen 11
Recht und Steuerrecht 115
Es gibt noch viele andere Berufsgruppe (z.B. aus Wirtschaft, Verwaltung, Technik usw.)
Von den 709 Abgeordneten des neuen Parlaments sind ungefähr 11 aus medizinischen und heilkundlichen Berufen (das sind Medizin, Pflege, Physiotherapie, klinische Psychologie usw.). Kompetent für Fragen der Sterbehilfe sind ungefähr 11, wobei die Medizinrechtler nicht mitgezählt werden konnten, die jedoch selten sind. Aber auch die anderen haben abgestimmt und hielt sich für kompetent – ein achtes Weltwunder? Bisher gab es nur sieben.
- Um wessen Moral geht es eigentlich? Um die der Ärzte und des Systems oder um die der Sterbenden? Eine Moral der Sterbenden? Gemeint ist damit das Recht auf Autonomie. Die Abgeordneten verdünnen, was das Bundesverfassungsgericht positiv benennt.
Was wir brauchen bzw. nicht brauchen
Gibt es im Bundestag wieder einen Lagerdiskurs – rechts gegen links, Gewissen gegen Fraktion, konservativ gegen liberal? Genau das brauchen wir nicht. Todkranke Menschen, die verletzlichsten unserer Gesellschaft, bleiben auf der Strecke. . Natürlich macht einen wütend, dass Abgeordnete über Dinge entscheiden, die sie geistig überfordern und Sterbende übergehen. Entscheidung über Leben oder Sterben ist Recht eines Jeden. Das ist nicht nur meine private Einstellung, sondern sogar verbrieft als Menschenrecht.