Die Wacken Winter Nights sind der geglückte Versuch, Metal und Natur miteinander in Verbindung zu bringen. Dort zu sein, ist aber auch ein Eintauchen in eine Parallelwelt und eine Heilung vom entseelten Alltagstrott. Und es ist ein gesellschaftliches Miteinander der anderen Art auf Zeit. Eine Beobachtung.
Als meine Frau und ich im Februar 2017 unsere Absicht verkündeten, zu den Wacken Winter Nights zu fahren, wurde uns von einigen Bekannten einer gewisser Grad an Beklopptheit attestiert. Ein Open Air Festival im kalten Wintermonat inklusive Camping vor Ort schien bei einigen schieres Unverständnis hervorzurufen. Was uns allerdings überraschte: Der Begriff bzw. Ort „Wacken“ wurde bei fast allen mit einem ganz bestimmten Umstand assoziiert: Schlamm! Jetzt – im Februar 2019 – fuhren wir erneut in den für uns hohen Norden, um an diesem spektakulären Festival teilzunehmen. Übrigens ohne Schlamm!
Die Wacken Winter Nights sind nicht einfach die kleine Schwester des im August stattfindenden W:O:A`s, eines der größten Heavy-Metal-Festivals der Welt, sondern die Veranstalter sprechen von einem ganz eigenen Konzept: „Wacken Winter Nights vereint klassische Mittelalterthemen mit Fantasy, Folk, Pagan, Viking, Rock & Metal und mehr!“ So liest man auf der Homepage der Veranstalter. Ich würde hinzufügen: Die Wacken Winter Nights sind der geglückte Versuch, Metal und Natur in Verbindung zu bringen. Metal – Back To Nature!
Vielleicht wären wir nie in Wacken aufgeschlagen, hätten wir die Karten zur Auftaktveranstaltung 2017 nicht zu Weihnachten geschenkt bekommen. Offenbar dachte unsere Familie – wir sind beides Endfünfziger – es wäre genau das richtige Präsent, um uns die trüben Wintermonate zu versüßen. Natürlich waren gewisse Voraussetzungen erfüllt: Wir sind beides Rockfans – sogenannte Metalheads, lieben das mittelalterliche Flair und bekennen uns offiziell zu einer lebensbejahenden Beklopptheit. Nur mit einer großen Portion gelebten Drolligkeit – frei nach Hermann Hesse – lässt sich die grassierende Beschränktheit und Dumpfheit des Drumherums einigermaßen ertragen. Ich muss allerdings gestehen, um schon einmal vorzugreifen, dass es nicht einfach ist, aus diesen tatsächlich erlebten Traumwelten jeweils wieder in die Normalität zurückzukehren. Es ist ein absoluter Bruch auf allen Wahrnehmungsebenen. Meine weiteren Ausführungen werden sich von daher weniger mit der musikalischen Qualität dieser Veranstaltung der besonderen Art beschäftigen, sondern mit eher alltagspsychologischen und gesellschaftlichen Aspekten. Eben: Dem menscheligen Rahmen.
Wacken beginnt auf der Autobahn. Nach unserem traditionellen Eintauchen in das links-alternative Ostertorviertel in Bremen am Vortag, geht es Freitag über Hamburg Richtung Norden. Spätestens auf der A23 tauchen die ersten Wacken-Fahrzeuge auf; zum Teil abenteuerliche Wohnmobile mit mannshohen W:O:A – Aufklebern, pechschwarzen Wohnanhängern oder in die Jahre gekommene Rostlauben mit entsprechender Metal-Kennzeichnung. Da unser Wohnmobil ebenfalls über eine sogenannte Pommesgabel als Zeichen für unsere präferierte Musikrichtung ziert, sind die Fronten gleich geklärt: Man grüßt entweder cool mit entsprechendem Handzeichen oder freundlichem Zuwinken. Im Gegensatz zu Fußballfans, die in gnadenloser geistiger Tiefergelegtheit den Anhänger der jeweils anderen Mannschaft steinigen, ist es bei Metalheads weitgehend gleichgültig, welche Band man hört. Selbst wenn man über den tumben Sound einer Rockband insgeheim die Nase rümpft, gehört man dennoch zu der großen Metal-Society und darin liegt vermutlich das Geheimnis nicht nur bei den Wacken Winter Nights.
In Wacken angekommen werden wir auf den Campingplatz gelotst. Freie Wahl gibt’s nicht: Der zugewiesene Platz oder keiner. Wir haben dieses Jahr Glück und stehen halbwegs grade, während beim letzten Mal der Schiefstand unseres Mobils zu Schwindelattacken beim spätmorgendlichen Aufstehen führte. Kaum ausgestiegen wird man schon von den temporären Nachbarn überschwänglich begrüßt. Einige campieren hier bereits seit dem Vorabend und die ersten Bierkästen sind geleert. „Willste n Bier?“ werde ich von einem etwas gleichaltrigen Haudegen mit teilnahmsvollem Blick auf unser Autokennzeichnen gefragt. „Habt ja ne Ecke hinter euch!“
Wir müssen nicht jede Band sehen bzw. hören und haben ein wohl ausgearbeitetes Programm vorbereitet. Nach dem obligatorischen Ankommkaffee schlendern wir über das Gelände. Die Wacken Winter Nights sind eine Mischung aus mittelalterlichem Jahrmarkt mit entsprechenden Verkaufsständen und Musikfestival. Dementsprechend bunt gemischt ist das Volk. Bei einigen weiß man nicht, ob die Bandbadges die Jeansjacken zusammenhalten oder umgekehrt. Des Weiteren sieht man Schwarzkittel, düster angemalte Metalheads, karnevalesk gekleidete Spaßtypen (was mir eher befremdlich erscheint), Freizeitwikinger, Rittern, Gewandete, klassische Lederjackenträger, Wagemutige mit nacktem Oberkörper, Frauen in prächtigen Gewändern oder hoch geschnürten Corsagen und leider auch jede Menge Leute, die mit Tierfellen behängt sind. Hier endet meine Toleranz für eine vermeintliche Naturverbundenheit, darf man doch nicht vergessen, dass die Biber oder Füchse eigens für diese Zwecke getötet wurden. Höchste Verachtung!
Doch dies erscheint uns der einzige Wermutstropfen zu sein und trübt nur zum Teil die wundervolle, überaus freundliche und entspannte Atmosphäre. Noch spannender als die Bands, die vor allem in dem Blechschuppen „Theater Of Grace“ zum Teil eher schlecht abgemischt vor sich hin scheppern, erscheint es mir, die Menschen zu beobachten, sowohl auf dem Festivalgelände selbst, als auch auf der Campingwiese. Es sind überwiegend Kumpeltypen, die sich nicht scheuen, Wildfremde anzusprechen, mal eben über die Mainstreamtendenz des Schwermetalls („Metal ist inzwischen voll street“) zu fachsimpeln oder einfach wohlwollend zuzunicken. Doch was treibt Menschen wie uns eigentlich um, eine Musik zu goutieren, die andere Hörer als unzumutbaren Krach bezeichnen würden. Oder, wie mal ein Freund meine Musik kommentierte: „Sag mal, hast du Aggressionen?“
Anders als in der frühen Phase der Rockmusik, als das Hören dieses Genres bei vielen mit einer Art Revoluzzertum gegen das öde Bürgertum und Establishment verbunden war, scheinen die wesentlich härteren Klänge des Metals eine Art Abtauchen in eine Art Parallelwert zu sein. Auch wenn in vielen Songs politische Aussagen transportiert werden, geben sich doch viele Bands bewusst unpolitisch. Möglicherweise dient diese authentische und intensive Musik vielen als Blitzableiter, um sich den Alltagsfrust von der Seele sandstrahlen zu lassen. So höre ich immer wieder in beiläufig belauschten Gesprächen von „Scheiß Arbeit“, „Reinklotzen bis zum Umfallen“, „miesen Chefs“ und „schrecklichen Kollegen“. Viele Kleintransporter, die bei diesem Wochenende als Schlafstätte dienen, tragen Namen von Rohreinigungs-, Klempner- oder Zimmereibetrieben. Ein verlängertes Wochenende in Wacken kann durchaus die Wirkung einer Katharsis haben: Weg von all der Schinderei für den Kapitalismus, hin oder – vielleicht auch zurück – zu einer Natürlichkeit, die man vermisst hat. Vielleicht sogar, ohne es bemerkt zu haben. Eine halbe Stunde Bummeln durch die Glitterwelt einer Einkaufsmeile raubt meine Nerven; drei Tage Wacken Winter Nights führen – mal abgesehen von möglicherweise zu viel Biergenuss – zu einer entspannten Gelassenheit und Erdung. Und das trotz einer massiven und aggressiven Beschallung. Eine Form von Heilung?
Bei den verschiedenen Konzerten beobachte ich meine Nachbarn, die mit voller Inbrunst den Klängen und Gesängen folgen. Einige recken ihre Fäuste in Richtung Bühne, manche brüllen sich den Frust aus dem Leib, andere starren mit versteinerten Gesichtern, scheinen sich in nur für sie sichtbaren Filmen zu befinden. Einige tanzen sich in Trance, schlagen ihre Hände auf die Brust. Reinigende Rituale – plötzlich ist die übermäßig dicke Frau in einer eigenen Traumwelt, der blasse Typ etwas weiter wähnt sich ungeahnter Kräfte und die ohne „Kutte“ sicherlich bieder wirkenden Menschen vor mir in einem explodierendem Analogleben. Die Musik verwandelt, kaschiert, provoziert, erweckt, übertüncht, ermutigt, reinigt, nimmt gefangen, befreit und verzaubert. Niemand ist mehr der Mensch, als der er oder sie gekommen ist. Umso bitterer die Nachwirkungen!
Metal – Back To Nature, diese Umschreibung fiel mir ein, als ich die zahlreichen Feuer sah, die vielen Menschen, die sich aus ihrer Zivilisationsuniformen gepellt haben und all die naturverbundenen Symbole, Gegenstände und Accessoires, das Zelebrieren von spirituellen, schamanistischen oder heidnischen Kulten. Sollten sich die Menschen hier eine Naturverbundenheit und Ursprünglichkeit bewahrt haben, für die vielleicht im modernen Leben kein Raum mehr ist? Ein Metal-Festival als eine Art archaisches Fest? Es ist wohltuend diesem Treiben beizuwohnen und sei es nur durch Zuschauen. Man kann der entseelten Modernität nicht oft genug vor die Mauern pinkeln!
Auch wenn ich aus unterschiedlichen Gründen nicht über die Musik schreiben wollte, so möchte ich doch ein Ereignis hervorheben: Der Auftritt der Band „Heilung“.“ Ihren Stil nennen HEILUNG „Aplified History“ und beziehen sich damit nicht nur auf die Herkunft ihrer Texte, die unter anderem von Runensteinen und Amuletten stammen, sondern auch auf den Einsatz einiger ihrer Instrumente. Neben authentischen Trommeln und Saiteninstrumenten bedienen sich HEILUNG allerhand zweckentfremdeter Utensilien wie Lanzen und Schilden, und auch menschlicher Knochen, die als Klangstäbe verwendet werden.“ (aus https://www.metal.de/review). Ich habe in meiner fast 60jährigen Musikhörergeschichte schon viel erlebt, doch die Performance dieses multinationalen Projekts sprengt jegliche Rahmen und ist für uns gerade deshalb die Reduktion allen Gehörten auf ihren wahren Klanggehalt. Nein, es ist kein Metal, aber es befördert uns Hörer „back to nature“ und damit in einen Zustand der Reorganisation.