Krankheit und Kranksein
Eine kulturelle und medizinethische Betrachtung

Krankheit und Kranksein sind zwei Begriffe, die kommen und verschwinden. Sie sind mehr, als nur die Abwesenheit von Gesundheit und Wohlbefinden. Zudem gibt es viele Institutionen, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Ein Gespräch und Interview zwischen dem Medizinethiker Prof. Dr. Franz Josef Illhardt und dem Psychologen Arnold Illhardt.

Franz Josef und Arnold Illhardt (Foto M. Illhardt)
Franz Josef und Arnold Illhardt (Foto M. Illhardt)

Arnold Illhardt (AI): Es ist mir schon lange ein Anliegen, lieber Bruder Franz Josef, mit dir ein Interview zu führen. Unsere Berufe – Medizinethiker und Klinikpsychologe – weisen zwar viele Ähnlichkeiten auf, aber auch genauso viele Unterschiede. Als Professor für medizinische Ethik hast du bis zu deiner Emeritierung an der Freiburger Universität gearbeitet und über viele Jahre in der deutschen Ethikkommission sowie in der Ethik-Beratung der Uniklinik mitgewirkt. Ein gemeinsamer Nenner unserer Professionen ist sicherlich das Thema Krankheit in seiner allgemeinen, kulturellen oder gesellschaftlichen Bedeutung. Darum soll es in diesem Interview gehen. Doch zunächst eine Frage an dich zum besseren Verständnis: Was genau ist medizinische Ethik?

Franz-Josef Illhardt (FJI): Medizinische Ethik ist die Begründung und Inkraftsetzung medizinischer Regeln. (Ethik-Kommissionen betreffen nur die Forschung, etwa die Zulassung neuer Arzneimittel, neben Regierungs-Behörden). Vor allem in der Ethik-Beratung haben wir verlernt, nach dem WARUM und nach der Strategie zu fragen, wie wir diese Regeln in die Praxis umgesetzt werden können.

Das ist sehr abstrakt, darum ein Beispiel: die künstliche Ernährung über den Bauch (PEG). Natürlich ist die hilfreich, aber nicht immer. Etwa wenn sie zu lange dauert oder wenn der Patient das nicht will usw. Der Patient oder der Betreuer muss die Konsequenzen verstehen. Dazu sind Arzt und Pflegepersonal wichtig, einmal natürlich für die Begründung, dann aber auch dafür, wie man eine Regel entwirft und sie in einen Vermerk in der Patientenkarte umsetzen kann.

AI: In der Präambel der Weltgesundheitsorganisation heißt es, dass „Gesundheit … ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens…“ ist. Krankheit wäre somit eine Abweichung von Gesundheit oder Wohlbefinden. Ist eine solche Definition ausreichend, um den Krankheitsbegriff zu umschreiben?

FJI: Ja, obwohl ich die Präambel anders formuliert hätte (aber da wurde ich erst gerade geboren). Also: Krankheit hat verschiedene Ebenen: die körperliche, geistige – d.h. wohl: spirituelle und psychische – und die soziale Ebene. Bespiel: Ein Patient mit einem sehr leichten Darmkrebs verweigerte die Operation. Die wichtigsten Gründe waren seine Scheidung und die Arbeitslosigkeit. Das sind zweifelsohne soziale Gründe. Aber berühren sie nicht auch spirituelle und psychologische Ebenen? Die Lösung brachte seine Tochter. Der Patient ließ sich operieren.

Dieser Fall ließ sich einfach lösen. Aber, wenn man nicht richtig weiter weiß, rettet man sich in den Begriff „Multikausalität“ (Diagnose mit mehreren Ebenen). Das ist gewissermaßen eine Ausrede für Hilflosigkeit. Der Hintergrund dieser Ausrede ist sehr simpel: Gute Behandlung ist körperlich, das heißt naturwissenschaftlich oder sie ist nichts. Das Geistige und Soziale spielt eine sehr geringe Rolle. Sozialarbeiter werden nur vom Arzt beauftragt, sind also nicht gleichberechtigt. Psychologen findet man selten im Krankenhaus, und wenn doch, dann meist nicht gleichberechtigt.

Fazit: Wenn die WHO körperliche, geistige und soziale Dimensionen der Krankheit für wichtig hält, sollten diese drei Dimensionen immer einkalkuliert werden. Wir müssen diese Dimensionen viel mehr beachten.

AI: Als Klinikpsychologe betreue ich u.a. rheumatologisch erkrankte Kinder und Jugendliche, also junge Patienten mit einer chronischen Krankheit. Chronische Krankheiten sind lang andauernde oder wiederkehrende Krankheiten, die in der Regel eine erhöhte Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems notwendig machen. Dennoch beantworten viele Betroffene meine Frage, ob sie sich krank fühlten, mit Nein: Sie seien krank, fühlten sich aber nicht ständig krank. Müssen wir unterscheiden in Krankheit und Kranksein?

FJI: Ganz sicher. Vor langer Zeit habe ich von einem Soziologen gelesen, dass die meistens Patienten die Diagnose wenig interessiert, sehr stark dagegen die Prognose, also das, was in der Zukunft mit ihm/ihr passiert, was die Krankheit mit ihm/ihr macht und wie man mit dieser Situation umgeht. Das ist die Unterscheidung zwischen Krankheit und Kranksein.

Krankheit (Foto Arnold Illhardt)
Krankheit (Foto Arnold Illhardt)

Das sagt uns Folgendes: Wichtig ist für den Behandlungsplan, möglichst viel von dem zu kennen, was der Patient gewollt hat, wieviel Lebensqualität er/sie toleriert bzw. toleriert haben könnte.

AI: In deinem Buch „Die Medizin und der Körper des Menschen“ (1) schreibt der Co-Autor Walther Schuth: „Kranksein („illness“) ist nicht identisch mit Krankheit („disease“). Die Sicht des Subjekts auf sein Kranksein, seine Subjektive Krankheitstheorie (SKT) ist nicht identisch mit der medizinischen Krankheitstheorie.“ Weiter schreibt Schuth, dass die Lebensgeschichte, die aktuelle Befindlichkeit, die psychosoziale Situation etc. häufig „ im reduktionistischen medizinischen Prozess vernachlässigbare, nicht selten sogar störende und unnötig komplizierende Variablen“ darstellen. Diese These konnte ich bei vielen Ärzten, auch bei eigenen Arztkontakten, beobachten. Doch wozu führt eine solche reduktionistische Sichtweise deiner Meinung nach?

FJI: Diese Frage lässt sich kurz beantworten. Sie führt zu einer ausgedünnten Sicht der Krankheit und zu einer oftmals verkürzten oder sogar total ausgeblendeten Sicht des Krankseins. Beides ist ungeheuer wichtig. Wir brauchen aus Sicht der Ethikberatung im Krankenhaus unbedingt Folgendes:

  1. Diagnoseerhebung, die alle, nicht nur die biomedizinischen Ebenen umfasst. Wichtig ist, dass bei der Diagnoseerhebung alle Behandler und Vertreter des Patienten       anwesend sind.
  2. Welche Experten oder Freunde des Patienten sollten noch zu Rate gezogen werden?
  3. Welche kontroversen Stellungnahmen sind dabei zu erkennen?
  4. Gib es eine Entscheidung für die weitere Behandlung oder braucht es bis dahin weitere Zeit zum Überlegen?

AI: In einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung (2) fand ich interessante Überlegungen zum Thema Krankheit. Ausschlaggebend für die Idee unseres Austauschs hier auf QUERZEIT war der Hinweis, Krankheit sei kein überzeitlicher Begriff. Versteht man unter Krankheit heute etwas Anderes als früher?

FJI: Sicher. Ein Beispiel: Eine Fehlstellung der Zähne war früher, etwa in meiner Jugend, keine Krankheit, heute gibt es dafür ärztliche Behandlungsmethoden und Kassenleistungen. Dazu gibt es ein soziologisches Buch von Dieter Lenzen „Krankheit als Erfindung …: Krankheit und Kranksein sind keine ewig gültigen Konstanten, sondern Begriffe, die kommen und verschwinden.

AI: Der zeitliche Aspekt ist nur eine Ebene des Krankheitsverständnisses. Eine andere Ebene ist die kulturelle. So sind z.B. für viele türkische Patienten „…nicht die objektiven Kriterien der westlichen Schulmedizin über Art, Umfang und Schwere der Krankheit entscheidend. Wichtiger ist für sie, wie und warum sie von der Krankheit betroffen sind, denn nur die Kenntnis der Krankheitskausalität lässt nach ihrem laienmedizinischen Verständnis einen Rückschluss auf die Art der Erkrankung und somit auf Therapie und Prognose zu.“ (3) Doch gibt es solche Missverständnisse nicht nur bei türkischstämmigen Patienten, denn ein eigenes Krankheitskonzept bzw. -verständnis existiert vermutlich bei jedem. Welche Rolle spielen solche individuellen Denkweisen in der Behandlung bzw. Patientenbetreuung?

FJI: Den Artikel von Yilderim-Fahlbusch habe ich nicht gelesen. Dafür durfte ich eine Doktorarbeit einer Medizinerin über fremdkulturelle Krankheitsvorstellungen begleiten. Interessant waren die Interviews von Allgemeinärzten/innen, viele Patienten aus der Türkei und anderen Nationen sind keineswegs zufrieden mit alternativmedizinischer Behandlung, sie wollen „harte“ Behandlung. In der Heimat hatten sie zu Genüge Behandlung mit mäßiger Wirksamkeit. Yilderim-Fahlbusch liegt da wohl falsch.

Wichtiger ist natürlich die Bedeutung der Vorstellungen über Krankheitsentstehung, die in anderen Länder verschieden ist. Vor allem sehr entscheidend sind soziale Schicht, Ausbildung, Beruf, Religion usw. Eine Türkin in einem Krankenhaus bekam kein Schweinefleisch und beschwerte sich über diese Ungleichbehandlung, sie war Christin. Dann gilt die islamische Regel nicht.

Mit anderen Worten: Individuelle Denkweisen in der Behandlung spielen ganz sicher eine wichtige Rolle. Aber wichtiger als das Einordnen in kulturelle Schemata ist das Einfühlen in Prioritäten des (ausländischen) Patienten.

Medikamente (Foto Arnold Illhardt)
Medikamente (Foto Arnold Illhardt)

AI: In den Überlegungen zu Krankheit und Kranksein schwingt schnell eine Assoziation mit, die heißen könnte: Gesundheit = normal und Krankheit = anormal. In der bereits angeführten Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ wird der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers zitiert, der darauf hinwies, „…dass in jeder Verwendung des Begriffs „krank“ ein Werturteil ausgedrückt wird.“ (2). Was sind diesbezüglich deine Beobachtungen? Ist Krankheit – heute – ein gesellschaftlicher Makel?

FJI: Jaspers ist eine interessante Figur, auch dazu durfte ich eine Doktorarbeit begleiten, dadurch habe ich viel gelernt. Er hat die Psychoanalyse, sagen wir: die Rückführung der Krankheit auf ungelöste psychische Probleme, sehr stark kritisiert. Statt Psycho… hat er, wie er einmal schrieb, die „Schicksalsgenossenschaft“ zwischen Arzt und Patient betont. Und da spielen „Gesundheit = normal und Krankheit = anormal“, also Soziologie und Psychologie kaum eine Rolle. Stattdessen gilt: Der Patient ist genauso arm dran wie der Behandler. Aufgabe ist es, sich in den Patienten und in sich selber einzufühlen, sonst versteht er ihn nicht, und seine Therapie geht daneben.

Ist Krankheit ein Makel? Oder ist Schwarzsein ein Makel, wie Phil Roth in seinem wunderbaren Roman (Der menschliche Makel) fragte? Oder, oder, oder … – „ist“ ist das Problem. Nichts „ist ein Makel“. Den gibt es nur bei dem, der sich als mangelhaft sieht und der von seiner Umgebung so gesehen wird. Beispiel: eine junge Schauspielerin mit Brustkrebs in den 60ern, Heidi Brühl, musste sich vor ihrer Umgebung in einer Kinderklinik verstecken, weil sie sich vor den anderen fürchte. Heute ist das kaum noch ein wirkliches Problem. Damals gab es die Diagnose AIDS noch nicht, vor kurzem musste man sich (wie damals vor dem Krebs) verstecken, heute mehr und mehr auch das nicht mehr.

AI: Ein relativ neuer Begriff in der Krankheitsdiskussion ist der Ausdruck „Lebensqualität“, der sich auf die Aussage herunterbrechen ließ: Ich bin Mensch und nicht nur krank. „Aufgabe des Arztes ist es nicht nur, die Gesundheit von Patienten wiederherzustellen und zu fördern, sondern auch, deren Wohlbefinden möglichst nicht zu beeinträchtigen“, heißt es in einem Artikel im Deutschen Ärzteblatt (4). Offensichtlich scheint aber noch eine Variable Einfluss auf Gesundheits- und Krankheitsgefühl zu haben: der soziale Status. Gibt es eine soziale Ungleichheit, was Gesund- und Kranksein anbetrifft?

FJI: Ein kurzer historischer Ausflug mit Konsequenz. „Lebensqualität“ war ein Ausdruck, der angespornt vom Bundeskanzler Willy Brandt ins Sozialgesetzbuch wanderte. Das Motiv war die soziale Gleichheit. Als die Lebensqualität ein wichtiger Begriff der Medizin wurde, fragte man immer stärker danach, was Lebensqualität eigentlich ist und wie sie definiert werden kann. Das Problem ist, dass dieser Begriff sozial und philosophisch ausgehöhlt wird. Lebensqualität ist, selbst entscheiden können. Und genau das unterlaufen viele – mit repressiver Freundlichkeit.

Ökonomisch übersetzt: Die Zwei-Klassen-Medizin gibt es schon seit einigen Jahren. Wirtschaftlichkeit wurde immer stärker eingefordert. Sogar Diskriminierung kommt vor, wenn es um Terminvergabe oder um Verordnung bildgebender Maßnahmen geht. Selbständigkeit wird ersetzt durch kostengünstige Leistungen. Kommen wir zu den Problemen des durch Erkrankung behinderten Lebens. Was nützt ein guter und sehr beliebter, weil gut ausgerüsteter Rollator, wenn die gesetzliche Kasse ihn nicht bezahlt. Oder bessere Schmerzmedikamente, wenn es die billigeren (vor allem bei sog. Chronikern) auch tun. Bei privat versicherten Patienten scheint das zu gehen.

Fazit: Autonomie wird der Ökonomie geopfert. Kranksein ohne Autonomie ist schlimm.

AI: Während der bestialischen Nazidiktatur im Dritten Reich wurden bestimmte Erkrankungen ideologisch diskriminiert. Nach der Devise „um wie viel Prozent teurer kommt dem deutschen Volk ein Geisteskranker oder Krüppel [als dem Gesunden]?“ (So lautete eine Schulbuch-Rechenaufgabe in der Zeit des Nationalsozialismus.) wurden Kranke und Behinderte verfolgt und ermordet. Heute regieren zwar keine Nazis mehr, aber dafür Gesundheitsminister mit Minimalüberblick in enger Verwobenheit mit einem profitorientierten Gesundheitssystem inklusive Pharmaindustrie. Mehr als beunruhigen sollten einen Statements der AfD, z.B. behindertes Leben als etwas Vermeidbares darzustellen und zurückzukehren zu Ausgrenzungen und Sonderbehandlung statt Integration. Kann es gut gehen, die Gesundheits- und Krankheitsfrage einem medizinfernen System zu überlassen?

FJI: Sicher nicht. Aber das Problem liegt nicht im System, es liegt bei uns, die das System tolerieren. Aber es schränkt viele Entscheidungen ein.

AI: Wir leben in einem Zeitalter, in dem viele Erkrankungen heilbar sind und von den Menschen Gesundheit als eine zu erbringende Leistung erwartet wird. Darum herum rankt sich eine riesige Gesundheitsindustrie inklusive Gesundheitsministerium. Ist Kranksein asozial oder gibt es gar eine vermeintliche Bringschuld, gesund zu sein und zu bleiben?

FJI: Leider war das schon so in der Antike. Gesundsein war Gnade der Götter, Kranksein mangelnde Frömmigkeit. Hippokrates, der „Vater“ der Medizin, räumte bei der Epilepsie, die man damals als „heilige Krankheit“ bezeichnete, mit so einer Mythologie auf. Und was tun wir heute?

Gesundheit als Bringschuld? Julie Zeh erzählte (in „corpus delicti“) aus der Sicht der Schwester von einem jungen Mann, der diese Bringschuld nicht erbrachte und von Behörden verfolgt in den Suizid floh. Manche schauen in den Kinderwagen und sehen überrascht das süße, aber mongoloide Baby. „Das muss doch nicht mehr sein“, wird kommentiert, so wird erzählt (oder erfunden). Ob wir soweit sind oder nicht, weiß man nicht wirklich. Das einzige, was wir tun und vielen Patienten klar machen müssen, ist, dass Krankheit niemals Strafe für irgendein Fehlverhalten ist. Das ist leider immer noch eine wichtige Funktion (gerade bei Areligiösen) in der Ethikberatung. Die Entscheidung für eine bestimmte Behandlung darf nicht verzerrt werden durch eine Art Sühne, Zur-Last-Fallen usw.

AI: Das Fördern bzw. Wiederherstellen von Gesundheit z.B. durch medizinische Maßnahmen sollte meines Erachtens ein Prozess sein, hinter dem ausschließlich humanitäre Gründe stehen. Doch mich beschleicht zunehmend das Gefühl, dass es nicht um den Menschen an sich, sondern um den homo oeconomicus geht. Der Mensch ist nur so viel wert, wie er innerhalb des Arbeitsprozesses zu gebrauchen ist. Man muss ihn also möglichst lange funktionstüchtig erhalten. Kaputte Maschinen oder Geräte entsorgt man. Was ist mit dem alten, kranken Menschen? Da stellt sich die provokative Frage: Lohnen sich noch Investitionen?

FJI: Jede Behandlung oder Rehabilitation solle nur durch humanitäre Gründe bestimmt werden. Dass das oft nicht so ist, höre ich immer wieder. In unserer Klinik habe ich das nicht so erlebt, weil die wirtschaftliche Seite für unsere Probleme im Endstadium der Krankheit keine Rolle spielte. Nur einmal: Ein junger Arzt kommentierte: Ich bin Arzt, die Wirtschaftsleute können mich mal … Natürlich sah sein Chef sah das anders. Interessanter ist allerdings die Beobachtung der Kammer, dass die Kosten im letzten Behandlungsjahr um das 2,5fache über den sonstigen Krankheitsausgaben liegen. Interessant ist das insofern, als man gegen Ende alles unternimmt, um den Sterbenden zu retten, obwohl das eventuell keinen Sinn mehr macht. So meine Erfahrung.

AI: 1975 schlug die Veröffentlichung des Buches „Die Nemesis der Medizin“ des Philosophen Ivan Illich eine große Kerbe in die vielfach existierende Überheblichkeit und Privilegiertheit der medizinischen Zunft. Die Hauptanklage: Der wuchernde Medizinbetrieb selber sei zu einer Hauptgefahr für die Gesundheit geworden. Nicht nur, so Illich, dass durch die ärztliche Kunst mehr Menschen versterben, als an den Krankheiten selbst, sondern er kritisiert auch das lebenslange und kostspielige Abhängigmachen des Einzelnen durch ein elitäres Medizinsystem. Ist Illichs Vorwurf berechtigt und hat es vor allem heute noch eine Gültigkeit?

FJI: Illichs Kritik ist sicher berechtigt, weil sie auf Probleme aufmerksam macht: auf Abhängigkeit statt Freiheit, auf Macht statt Hilfe, auf Systemzwang statt Hoffnung usw. Die Schärfe seiner Perspektive konnte sich Illich nur als Jesuitenpater neben dem vorhergehenden Studium der Philosophie leisten.

In vielen Punkten ist mir seine Kritik zu theoretisch, weil sie auf Praxisanalyse, Geschichte, Fremdperspektive (etwa Ethnologie usw.) verzichtet. Die abendländische Perspektive ist nicht die einzige wichtige. Sehr imponiert haben mir zwei Dinge: 1) Seine Forderung der Konvivalität (Zusammenleben, vom südamerikanischen Convivalidad) und 2) seine Beobachtung, dass etwas als Werkzeug begann, gleichsam als Mittel zum Erreichen eines bestimmten Zweckes, aber dann langsam aber sicher zum Selbstzweck wurde. Das ist mit der Medizin wohl passiert.

AI: Vor einiger Zeit fand ich bei einem Besuch in Bremen ein Pamphlet, in dem – sicherlich – in einem verschwörungstheoretischen Unterton davon die Rede war, dass es längst Medikamente gäbe, die bestimmte Herzerkrankungen heilen könnten, dass dies aber von der Pharmaindustrie unterdrückt, da nicht gewollt sei. Sagen wir so: Es würde mich nicht wundern, halte ich doch viele Pharmaunternehmen für skrupellos. Doch was denkst du über den Vorwurf: Sind wir potentielle Patienten auf Gedeih und Verderb abhängig von dem schnöden Mammon eines kapitalistischen Systems?

Krankheit und Kranksein (Foto Arnold Illhardt)
Krankheit und Kranksein (Foto Arnold Illhardt)

FJI: Meines Erachtens nein, wir sind nicht abhängig und erst recht nicht auf Gedeih und Verderb, hoffentlich sehe ich das nicht falsch. Statt „kapitalistisches System“(wie Du, lieber Arnold schreibst) würde ich lieber „konsumorientiertes System“ sagen. Wahrscheinlich gibt es dieses Herzmittel, aber ich kenne es nicht. Stattdessen habe ich oft beobachtet, dass fast alle neunen Krebsmittel leider nicht wirklich besser sind, aber teurer als die auslaufenden alten Mittel.

Zurück zum Alltag: Wir gehen vielfach wegen jedem Zipperlein zum Arzt, und wenn wir keinen Termin in der Praxis des Hausarztes bekommen, wird die Notaufnahme in der Klinik bemüht. Überlastung ist die Folge, und für die Menschen mit chronischen Krankheiten etwa bleibt dann weniger Zeit. Leider spielt das heute eine immer größere Rolle, wie ich erst kürzlich erfahren habe. Der Deutschlandfunk berichtete sogar, dass die Polizei gegen aggressiv gewordene „Patienten“ gerufen werden musste. Auch das spielt eine Rolle. Nicht das System macht dieses Problem, sondern der verbreitete Egoismus.

Da müsste nicht das kapitalistische System gegen mehr Sozialismus ausgetauscht werden. Wir – und zwar wir alle, auch die Ärzte – müssten solidarischer sein und weniger System beschwören.

AI: Auf Feierlichkeiten oder Zusammenkünften vor allem mit Teilnehmern im gesetzteren Alter erlebe ich immer wieder ermüdende und abendfüllende Unterhaltungen über die jeweilige Erkrankung des einzelnen. Manchmal werde ich den Verdacht nicht los, bestimmte Krankheiten werden wie Trophäen gehandelt. „Mein Stress war sogar so riesig, dass ich jetzt einen Hinterwandinfarkt habe.“ Ich leiste, also bin ich. Was ist mit den Menschen los?

FJI: Ich glaube, Du hast Recht. Die Sparkassen in meiner – also vor Deiner – Kindheit hatten den Slogan: Hast du was, dann bist du was. Da fallen Dir und mir viele Sachen ein. Etwas das Buch des Sozialpsychologen Erich Fromm: Haben oder Sein (Untertitel: Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft). Die Rothschilds machen unser System, auch das Gesundheitssystem – leider wir nicht.

AI: Eine letzte Frage und damit ein Blick in die Zukunft. Es wird ja immer wieder eine Revolution des Bildungssystems gefordert. Dieser Forderung schließe ich mich uneingeschränkt an. Doch wäre eine solche radikale Veränderung nicht auch für ein Gesundheitssystem zu wünschen? Eine Revolution im Gesundheitssystem? Hättest du diesbezüglich eine Vision?

FJI: Bei solch einer Revolution wäre ich auch dabei, falls meine altersbedingt morschen Knochen genügend Feuer produzierten. Fangen wir aber besser klein an! Bei einer Bundestagswahl, die wir gerade hinter uns haben, scheinen auch die kleinen Schritte in Richtung von mehr Solidarität in der Gesundheitsordnung verstolpert worden zu sein.

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  1. Franz Josef Illhardt (Hrsg.): Die Medizin und der Körper des Menschen. Verlag Hans Huber: Bern Göttingen Toronto Seattle, 2001
  2. Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung (Beilage zur Wochenzeitung: Das Parlament). Aus Politik und Zeitgeschichte: Krankheit und Gesellschaft.
  3. Y. Yildirim-Fahlbusch im Deutschen Ärzteblatt, 2003; 100 (18): Türkische Migranten: Kulturelle Missverständnisse.
  4. (4) Dieter Birnbacher im Deutsches Ärzteblatt, 2018; 115 (38): Lebensqualität in der Medizin: Gesundheit und Wohlbefinden.