Mitleidökonomie ist ein Begriff von Soziologieprofessor Fabian Kessl (2002). Seine, auch meine Kritik: Mitleid wird mehr und mehr zum Bestandteil einer Ökonomie, die ein seltsamer Mix ist: halb individuelle moralische Kategorie, halb staatliche Ersatzökonomie. Armutsbekämpfung wird großenteils dem privaten Mitleid überlassen. Geht das?
Wie geht Helfen unter der Bedingung des Wohlfahrtsstaates? Von praktischer Politik trotz Seniorenstudium Politikwissenschaft habe ich wenig Ahnung. Aber manches regt mich sehr auf – so z.B. die Mitleidsökonomie. Über dieses Thema muss man nachdenken und bessere Lösungen überlegen. Mehr als Nachdenken schaffe ich leider nicht.
Markus Söder besuchte im November 2022 in München eine Tafel. Per Twitter teilte er mit, dass er an die Tafel wegen ihrer großartigen Arbeit aus dem Partei-Vermögen 25.000 € spendet. Per Twitter? Seine fraglos gute Tat sollten viele Bürger auch außerhalb des CSU-Landes mitbekommen. Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), kommentierte Söders Mitleidsaktion postwendend: „Die Existenz der Tafeln … ist nur deshalb notwendig, weil der Staat in seiner Aufgabe der … Grundversorgung und (Sicherung, F.J.I.) des Existenzminimums der Menschen versagt.“ (zitiert nach Fabian Kessl, 2023)
Eine weitere Erinnerung: Es geht neben den Tafeln auch um Suppenküchen, Frühstückskirchen, Kleiderkammern und Sozialkaufhäusern. Von Armut betroffen sind Alleinerziehende und insbesondere ihre Kinder (Kinderarmut), Migranten, Flüchtlinge, alte Menschen mit niedriger Rente, Menschen mit progressiven schweren Erkrankungen, Arbeitslose, Opfer von Gewaltexzessen und Geschädigte vom Klimawandel. Natürlich gibt es Notfallhilfen und Ersatzleistungen, die allerdings nie zur vorherigen Lebensqualität führen, vor allem nicht bei psychischen Schäden oder Schäden, die noch nicht bewiesen sind (sog. Diagnoseschlüssel).
Halten wir eins fest: Tafeln wie Suppenküchen, Frühstückskirchen, Kleiderkammern, Sozialkaufhäuser sind „Symbole der Armut“ (Fabian Kessl & Holger Schoneville 2021). Wie aber gehen wir mit Armut um? Wie – mit Mitleid oder mit staatlicher Hilfe?
- Entwicklung des modernen Staates
Mit Armut umgehen kann nicht Sache einer Privatinitiative sein, auch wenn Mitleid ein sehr wichtiges, auch an Öffentlichkeit orientiertes Motiv ist – sei es christlich oder humanitär ausgerichtet. Armut ist ein viel zu großes Krankheitssymptom unserer Gesellschaft, um es privat lösen zu können. Und welchen Grund könnten wir haben, in die Aufgaben des Staates einzugreifen? Wir müssen aufpassen, dass die Armutsbekämpfung angemessen ist, wir können sie nicht ersetzen.
Übernommen haben die Wohlfahrtsverbände diese mitleidorientierte Aufgabe, die eigentlich eine Aufgabe des Staates ist. Die Wohlfahrtsverbände haben sich „von der Wertegemeinschaft zur Dienstleistungsorganisation“ entwickelt und werden bezüglich dieser neuen Aufgabe „mit Sorge von den Akteuren diskutiert“ (Klaus Dörre 2003). Ist das also unsere Aufgabe und die der Wohlfahrtsverbände oder die des Staates? Des Staates natürlich.
- Armutsbekämpfung als Menschenrecht
Menschenrechte sind nicht Privatsache, sie sind Rechte, die einem Menschen nicht von Staaten zugesprochen werden, sondern ihm als Menschen sozusagen eingraviert sind. Ein großer Teil von ihnen, insbesondere die Gesetze zur Armutsbekämpfung, wurde ins Grundgesetz aufgenommen. Sie ist ab dann gleichsam Grundstoff des Staates.
Menschenrechte basieren auf einer Trias aus Rechten, Handlungsspielraum und Sicherheit (Martina Bodenmüller). Rechte (1) sind definiert, aber Handlungsspielraum (2) und Sicherheit (3) der Umsetzung sind noch nicht definiert. Denken wir also darüber nach, welche Rechte bestehen und wie wir sie umsetzen können.
Hier die Rechte, gewissermaßen als Hausnummer:
Spielraum und Sicherheit sind noch offen. Im nächsten Punkt werden sie angedeutet
- Was fehlt in der Armutsbekämpfung?
2004 gab es 102 Tafeln/Suppenküchen/Mittagstische usw., 2016 waren es bereits 411. Das Armutsrisiko ist zweifelsohne gestiegen. Aufgefangen wurde dieses Risiko sicher durch die Wohlfahrtsverbände. Die Pflicht der Armutsbekämpfung durch den Staat ist nach wie vor nicht komplett. Umsetzungsmöglichkeiten sind noch offen.
Zurzeit ist Kinderarmut wegen der Armut der Eltern (90% Alleinerziehende) in aller Munde. Kinderarmut bewirkt Ausschluss sowie Scham und Depression der Kinder/Jugendlichen, aber auch der Eltern. Kinderarmut führt zur „Kumulation der Benachteiligungen“ (Carolin Butterwegge).
Viele Armutseinrichtungen ignorieren Wiedereingliederung, die ein unbedingtes Ziel der Armutsbekämpfung ist (Fabian Kessl, 2023).
Die Mehrzahl der Gefangenen in Justizvollzugsanstalten kommen aus armen Schichten. Gewaltanwendung war oft Auslöser wie Reaktion der Gefangenen.
Vor allem in Sozialkaufhäusern konnte ein „sekundärer Warenkreislauf“ und „sekundärer Personalkreislauf“ (Fabian Kessl & Holger Schoneville 2023) festgestellt werden. Waren und Personal aus anderen Einrichtungen werden oft für mitleidsorientierte Zwecke benutzt. Nicht mehr Mitleid ist deren Motiv, wie man häufig annimmt, sondern ökonomischer Vorteil. Quasi Kontaminiertes Mitleid.
Beunruhigend ist die Tatsache, die ebenfalls von Kessl & Schoneville beschrieben wird, dass es keine effektive Datenerhebung gibt, außer bei einigen Trägern der Wohlfahrtspflege für die Jahresberichterstattung. Eine sozialtechnisch belastbare und ausgereifte Datenerhebung wäre Voraussetzung für die Wiedereingliederung der armen Bevölkerungsteile. Sie gibt es aber nicht, sonst wäre eine Armutsbekämpfung ja angezielt. Die Armen werden nicht ausreichend versorgt, eher ruhiggestellt.
In die Tafel kommt nur der, der einen Bedürftigkeitsnachweis vorlegen kann. Der Bedürftigkeitsnachweis kann von den Trägern der Wohlfahrtspflege ausgestellt werden. Spitzenverbände sind: Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Diakonie, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Rotes Kreuz und Zentralwohlfahrtsstelle der Juden. Ein Nachweis kann aber auch durch Bafög, Renten- und Asylbescheide erbracht werden.
- Wie können wir die Armutsbekämpfung verbessern?
Etwa 80% der Anbieter von Tafeln und mitleidsorientierten Institutionen geben an, dass sie auf ehrenamtliche Mitarbeiter angewiesen sind. Auch wenn das Armutsrisiko nach Corona und wegen des Krieges wie der Inflation steigt, liegt die „Mehrheit der Fälle in der Hand der Wohlfahrtsverbände bzw. deren Unterorganisationen“ (M. Oechsler & T. Schröder 2016).
Je bedeutungsvoller die Rolle unseres Wohlfahrtsstaates ist, desto mehr müssen wir überlegen, wie wir uns um größere Aufmerksamkeit des Staates sorgen müssen. Nicht weil wir die Rolle des privaten Mitleids reduzieren wollen. Wir können nicht auf die Bedeutung des Staates verzichten.
Welche Möglichkeiten überlegenswert sind, will ich hier andeuten:
Rahmenbedingung | Erklärung |
Verteilungsstruktur | Erhöhung des Bürgergeldes, Bürgerversicherung, Reichensteuer sind Optionen der Armutsbekämpfung. Das geht nicht ohne eine Umverteilung des BIP. 100 Milliarden für die Bundeswehr sind m.E. o.k., aber die Armutsbekämpfung der mitleidsorientierten Ökonomie zu überlassen, ist nicht o.k. |
De-Privilegierung | Nicht die Armen müssen sich schämen, sondern die Reichen, die Armut zulassen. Dass es Gruppen gibt, die Unterstützung brauchen, ist einsichtig. Dass es aber Arme im Gegensatz zu Reichen gibt, die nicht ausreichend unterstützt werden, ist ein grober Verstoß des Gleichheitsprinzips. |
Steueränderung | Die Reichensteuer wäre ein guter Ansatz. Es geht nicht allein um die Wirtschaft, die immer wieder ins Feld geführt wird ,, sondern um Gerechtigkeit. Eine Karikatur: Ein wohlbeleibter 50er mit einem Glas Champagner sagt: Vermögenssteuer? Da müssen wir ja noch mehr hinterziehen. Sein Kollege, ebenfalls in Champagnerlaune, kommentiert: Ja, die zwingen uns in die Kriminalität. Nicht die Steuern sind unser Problem, sondern das Ausblenden der Bürgerverantwortung. |
Monitoring | Wie schon erwähnt brauchen wir Daten zur Armut, ohne die ist eine zielsichere Armutsreduktion nicht möglich. Ich finde es ärgerlich, dass solche Rahmenbedingungen ausmanövriert werden. |
Perspektivenwechsel | „Der Perspektivenwechsel von Bittsteller*innen zu Rechteinhaber*innen ist zentral“ (Michael Krennerich 2003). Das gilt insbesondere für die Tafelnutzer als Bittsteller im Gegensatz zu den Angestellten der Tafel, die arbeitsrechtlich gesehen eine Art Chef sind. Man redet von „Povertyism“, der Stereotypisierung der Armut. Es ist besonders wichtig, dass man Probleme der Tafelnutzer aus der Perspektive der Spender sieht. |
Inklusion | Wie oft werden arme Kinder bei Kindergeburtstagen eingeladen? – So die Frage eines Sozialarbeiters. Und wie gern haben wir Kontakt mit Armen? Sind wir „besser“ als die Politiker, die Fragen der Armutsbekämpfung hintanstellen? Und welche Ministerien sind für Armutsbekämpfung hierzulande zuständig? Mindestens drei, die sehr verschiedene Ziele haben. Das soll Inklusion sein? |
Rechtsmittelzugang | Jeder Mensch muss Zugang zu angemessenen Rechtsmitteln haben, sonst wird er zu einem Menschen 2. Klasse degradiert. Dass in autokratischen Staaten Rechtsmittelzugang nicht gewährt wird, halten wir für schlimm. Ist sowas in unserer Demokratie auch möglich? Leider ja. |
Mitleidsorientierung muss sich auf andere Probleme konzentrieren: etwa ob die Armutsbekämpfung ausreichend und fair ist – ob sich die Allgemeinheit darum kümmert oder einige Menschen, die Mitleid haben – ob die Dinge, die arme Menschen brauchen, ausreichend sind usw.
In einem Roman von Pierre Jarawan (in den 80ern nach Deutschland geflüchtet aus Beirut) las ich, dass er schon als Junge bis ins Erwachsenenalter viele Hefte vollschrieb mit Fragen, auf die er keine Antwort fand. Leider haben wir zu viele Antworten und zu wenig Fragen – zu wenig auch bezüglich der Armut.
Sind arme Menschen dumm? Reiche auch? Was ist dumm? Sind arme Menschen solidarisch? Sind das auch die Reichen? Und wie ist das mit der Autonomie? Wissen Arme, warum sie arm sind? Manchmal geben Reiche vor zu wissen, warum die Armen arm sind.Sieg der Antworten über die Fragen? Haben Politiker mehr als Antworten?
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Anregungen wären nützlich und erbeten unter joillhardt@web.de