Faust, der große Denker, der Philosoph, der vom Wunsch nach Erkenntnis Getriebene? Wagner, sein schleimiger Famulus? Gretchen, das liebe, süße, unschuldige Mädchen? Nichts davon ist in der Faust I – Inszenierung am Kölner Schauspielhaus wiederzuerkennen. Regisseur Moritz Sostmann stellt alle Figuren gründlich auf den Kopf. Nur Mephistopheles bleibt der ewig böse Diener des Guten.
In dieser Inszenierung wird Faust entthronisiert. Faust, der Deutschen sakosankteste Theaterfigur! Der große Denker, der vom Wunsch nach Erkenntnis Getriebene! Aber da ist keine Spur mehr vom großen Gelehrten und Wissenschaftler, der auf der Suche nach dem ist, „was die Welt im Innersten zusammen hält“. Keine Spur vom Revolutionär oder Freiheitskämpfer oder dem Ur-Deutschen. Was wurde ihm in Laufe der Rezeptionsgeschichte nicht alles angedichtet! Seinen berühmten Monolog „Habe nun, ach!, Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie! Durchaus studiert, mit heißem Bemühn …“ beginnt Faust (Philipp Pleßmann), mit geöffneter Jackettjacke und offenem Oberhemd gebeugt auf einem Klavierhocker sitzend, mit einem von sich selbst und dem Leben gelangweilten, minutenlangen „Blablablablabla…“.
Doch schon der Beginn der Aufführung sorgt für erste Irritationen. Der „Prolog im Himmel“ wird zum Trauermarsch. Gott wird im Sarg auf die Bühne getragen. Gott ist tot. Die drei Erzengel, in schwarz gekleidet und mit schwarzen Flügeln, deklamieren auf Hebräisch (Juden), Arabisch (Muslime) und Deutsch (Christen) keineswegs das Lob Gottes, sondern mit Tränen in den Augen einen bitteren Trauergesang: „Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang…“, was in einen heftigen Streit darüber mündet, wer von ihnen denn nun am meisten um Gott trauern würde. Ein durchaus gelungener aktueller Bezug. Als den Erzengeln der Sarg dann aus den Händen fällt, rumpelt Gott als Puppe auf die Bühne. Mit weißen, zerzausten Haaren und dunkler Haut, an Morgan Freeman erinnernd. In der Wette, die allem anderen als einem Schlagabtausch gleicht, überlässt dieser tote Gott Faust nur allzu gern Mephistopheles (Yvon Jansen), so dass die Wette im Grunde schon in diesem Moment ad absurdum geführt wird.
Faust wird zum Schluffi, zum Null-Bock-Faust, den im Grunde nichts mehr interessiert. Nicht einmal das Leben. Die Ausnahme, die ihn im Verlauf der Tragödie kurzfristig lebendiger erscheinen lässt, ist die Aussicht Gretchen verführen zu können. Nachdem er in der Hexenküche den verjüngenden Hexentrank zu sich nimmt, sieht er „bald Helenen in jedem Weibe“. Und so geschieht es auch: Faust wandelt mit einer goldenen Kette mit der Schrift „COOL“ durchs Publikum und macht lüstern die Frauen an, und auch ich hatte gestern kurzfristig das Vergnügen, von Faust angeschwärmt zu werden. Der Trank hatte offensichtlich eine ganz passable Wirkung ;-) .
Aber auch an Gretchen verliert Faust schnell das Interesse. Das „Religionsgespräch“, in dem Gretchen ihn ausfragt „Nun sag, wie hast du´s mit der Religion?“, bringt er äußerst genervt, fast aggressiv hinter sich. In dieser Szene wird allzu deutlich, was Faust will: möglichst schnell mit Gretchen ins Bett. Religion? Was soll diese dumme Frage nach Gott? Wen interessieren Gott, der Glaube, die Religion noch? Motto: Mach Schluss mit deinen Fragen und dann lass uns endlich zur Sache kommen. Die spätere vergebliche Rettungsaktion Gretchens gedeiht dann auch entsprechend verstörend: Faust ist desinteressiert, ja regelrecht gelangweilt, versucht mehr schlecht als recht und vor allem wenig überzeugend, Gretchen zur Flucht zu überreden. Erschreckend angesichts der Tatsache, dass sie, die er geschwängert hat und die das gemeinsame Kind ertränkt hat, am nächsten Morgen wegen Kindesmord hingerichtet werden soll. Faust scheint froh zu sein, Gretchen auf diese Weise loswerden zu können. Ohnehin entpuppt er sich im Verlauf der Gretchentragödie als „chauvinistisches Arschloch“. Die Schlusssequenz fällt entsprechend aus: Die Aufführung endet mit Mephistos Fluch „Sie ist gerichtet!“.
Das von oben kommende „Sie ist gerettet“ und Gretchens verhallendes „Heinrich! Heinrich!“ fehlen. Gretchen wird (hin)gerichtet. Ohne Erlösung. So wird sie zum weiteren Opfer von Fausts Egozentrik und Gleichgültigkeit. Nach Gretchens Mutter und Bruder. Und auch im Faust II wird er weiter buchstäblich über Leichen gehen.
Gretchen selbst (Katharina Schmalenberg) ist alles andere als das liebe, süße, fromme, unschuldig bezopfte Mädchen, das man sich in der Regel unter einem „Gretchen“ vorstellt. Streichholzkurze Haare, eine überaus laute Stimme und mit großen Schritten über die Bühne stampfend. Auf dem Rücken ihres übergroßen roten Anoraks die Aufschrift „Romance is dead“. Von zarter Erotik keine Spur. Eher eine auf Krawall gebürstete junge Frau, frustriert, desillusioniert. Und tatsächlich: Romantik gibt es nicht. Auch sie ist tot. Anstatt ein Blümlein zu pflücken und die Blütenblätter nach Fausts Liebe zu ihr zu befragen, reißt Gretchen Faust ein Haar nach dem anderen aus. Die „Liebes“szene fällt dann auch entsprechend schroff aus: rein, raus, fertig. Reduziert auf einen Akt männlicher Befriedigung. Und dargestellt durch Puppen.
Gretchen scheint eine Frau zu sein, die mit sich selbst, ihrer Liebe zu Faust und ihrem Begehren hadert.
Ihr berühmtes, sehnsuchtsvolles Liebesgedicht „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer“ wird in dieser Inszenierung dem „Urfaust“ entnommen. Dort hatte Goethe Gretchen noch ausrufen lassen „Mein SCHOß! Gott! drängt sich nach ihm hin…“ Im späteren „Faust I“ änderte er es in „Mein Busen drängt sich nach ihm hin“. „Busen“ damals verstanden als „Herz“. Der Begriff „Schoß“ erschien Goethe wohl zu anzüglich. Die Weimarer Gesellschaft hätte sich ansonsten vermutlich empört gezeigt.
Gretchen erklettert beim Deklamieren vor lauter Begierde und Sehnsucht nach Faust das Klavier und ruft und atmet immer lauter. „Mein Schoß, ach, mein Schoß, Gott, ach Gott, mein Schoß, mein Schoß drängt sich nach ihm hin…!“ Aber Faust lässt sie auch hier im Stich und versagt ihr die Erfüllung ihres Begehrens. Und ihrer Liebe.
Interessant interpretiert wird die Figur von Fausts Famulus „Wagner“ (Guido Lambrecht). Vom schleimigen Kofferträger wird er zu Mephistos Ergänzung, zu seinem Mitspieler. Der nächtliche Dialog zwischen Faust und Wagner wird dadurch zur reinen Ironie, ja zur Verhöhnung Fausts. Dazu passt, dass Wagner später in der Walpurgisnacht zum „Satan“ wird und perfekt mit den entsprechenden Körperbewegungen „Seid säuisch!“ deklamiert:
„Satan: Für Euch sind zwei Dinge
Von köstlichem Glanz:
Das leuchtende Gold
Und ein glänzender Schwanz.
Drum wißt euch, ihr Weiber,
Am Gold zu ergötzen
Und mehr als das Gold
Noch die Schwänze zu schätzen.“
Goethe hatte „Seid säuisch!“ vollständig aus dem Faust gestrichen. Wohl auch hier eine reine Vorsichtsmaßnahme, um die Weimarer Gesellschaft nicht gegen sich aufzubringen. Kompliment an Regisseur Moritz Sostmann, es in diese Inszenierung hineinzunehmen. Denn es passt perfekt.
Die Figur, die in allen Faust-Inszenierungen gleich bleibt, man möchte fast sagen „sich treu bleibt“, ist die des Mephistopheles. Auch in dieser Inszenierung spielt er die tragende Rolle, ohne den überall die große Langeweile, ja Erstarrung herrschen würde. Mephisto als jemand, der die Menschheit satt hat und sich erhofft, in Faust eine Art würdigen Gegen- oder gar Mitspieler zu finden. Der tote Gott überließ Faust Mephisto nur allzu gern. Hat er doch als Toter jedes Interesse an den Lebenden verloren! Vergeblich, denn auch Faust entpuppt sich als Langweiler, als desillusionierter Waschlappen, so dass am Ende ein vollkommen genervter Mephisto auf der Bühne steht. Alles hat er versucht, um Faust aus seiner Lethargie zu reißen, aber nichts davon ist wirklich gelungen. Die Wette ist verloren.
Somit wird Mephisto zur tragischsten Figur des Faust. Er, der angetreten war, um stets das Böse zu wollen und dabei stets das Gute zu schaffen, hat sein Ziel nicht erreicht: die Menschen, allen voran Faust, aus ihrer gelangweilten Gleichgültigkeit zu erlösen. Selbst das Böse lässt sie am Ende unbeteiligt zurück. Mephisto muss erkennen, dass er als böser Diener des Guten versagt hat.
Was will Regisseur Moritz Sostmann mit dieser verstörenden Faust-Inszenierung zum Ausdruck bringen? Ich weiß es nicht. Vielleicht soll sie bei jedem Zuschauer eine Art nachdenkliches Eigenleben entwickeln: jeder möge sehen, was er/sie sehen möchte, und jeder möge denken, was er/sie denken möchte. Hauptsache, er/sie sieht hin und denkt nach. Vielleicht aber ist das große Thema dieser Inszenierung die Desillusionierung der Menschen. Eine Desillusionierung, die sie zu empfindungslosen Zombies macht. Ohne Freude, ohne Verlangen, ohne Empathie.
Ich selbst bin trotz (oder gerade wegen) der Irritationen von der Aufführung begeistert. Insgesamt eine gewagte Inszenierung, die sich deutlich abgrenzt von anderen Faust-Aufführungen, aber auch eine sehr gelungene. Mit großartigen schauspielerischen Leistungen!