Der Roman Das Glasperlenspiel, aber auch die Person des Schriftstellers Hermann Hesse zog uns so in den Bann, dass wir auf Spurensuche gingen: Spuren über die Entstehung des Alterswerkes des Autors, aber auch Spuren, die die Lektüre bei uns hinterlassen hat. Eine literarische Reise der besonderen Art.
Von Marion und Arnold Illhardt
„Die Natur hat zehntausend Farben, und wir haben es uns in den Kopf gesetzt, die Skala auf zwanzig zu reduzieren.“ (Hermann Hesse)
Die Idee
(Arnold) Es hat etwas von Anachronismus, von einem Nicht-in-der-Zeit-sein, im Jahre Zwanzigzwanzig eine Reise mit vielen Stunden Gedanken und Gesprächen dem Autor Hermann Hesse und speziell seinem Buch Das Glasperlenspiel zu widmen. Doch Menschen mit einer „wütenden Leidenschaft für das eigene Ich“, (Heinrich Mann), das gemeinsame WIR und das gesellschaftliche UNS wären ohne Anachronismen hoffnungslos verloren, da das Leben in einem aus den Fugen geratenen Gesellschaftssystem und einem „feuilletonistischen Zeitalter“ (H. Hesse) für zwei Suchende, Quer- und Selbstdenker, sowie Eigensinnige nicht auszuhalten wäre. Thomas Mann schrieb 1947 in einem Brief an Erich Kahler über Das Glasperlenspiel: «Es gehört zu dem wenig Wagemutigen und eigensinnig-groß Konzipierten, was unsere verprügelte, verhagelte Zeit zu bieten hat.» Verprügelt und verhagelt ist die Zeit immer noch. Also: Warum Anachronismus? Es hat sich nichts geändert.
Was die Literatur anbetrifft, so ist mir persönlich schon lange nicht mehr möglich meine Zeit mit einem der Vielleserbücher zu verschwenden. In Büchern muss man Sätze unterstreichen können, über Worte stolpern oder über Passagen diskutieren. Genau das passierte mir bei Hesses Das Glasperlenspiel, aber auch in anderen Werken von ihm nicht nur satz-, sondern wortweise, was nicht bedeutet, dass ich alles Niedergeschriebene des Schriftstellers blind verehre oder als literarisches Paradigma verkläre. Vielmehr lasse ich mich inspirieren und zu Visionen verführen; eine höhere Auszeichnung für ein Buch gibt es in meinem Fall nicht.
Gleich dreimal habe ich Das Glasperlenspiel gelesen, wobei es beim ersten Mal, als Jugendlicher, bei einem Versuch bleiben sollte. Vielleicht war meine Selbstsuche noch nicht so weit gediehen, um mich auf ein derart komplexes und – wie ich damals fand – verschrobenes Buchungetüm einzulassen. Als ich nach meiner Tätigkeit als Krankenpfleger das Psychologiestudium aufnahm, erschien mir die erneute Lektüre wie ein plötzlich entdeckter Leitfaden für das, was ich an der Universität betrieb, aber noch keine Worte hatte. Die Psychologie, die zu dem Zeitpunkt dabei war, sich auf eine Art Naturwissenschaft runterzubrechen, um wissenschaftlich anerkannt zu werden, war nicht der Weg, den ich gesucht hatte. Ich befasste mich zeitgleich mit der Psychiatrie, schaute bei den Philosophen vorbei, entdeckte die für den Menschen gemachte Architektur für mich, liebäugelte mit der Soziologie und interessierte mich für andere politische Wege als die des mich umgebenden brüchigen und menschlich verarmten Gesellschaftslebens. Psychologie, so mein Resümee, war so, wie man sie mir lehren wollte, ein seelenloses Unterfangen; spannender wurde sie durch „den Versuch einer kunstvollen, ästhetisch ansprechenden Vereinigung aller Wissenschaften, der Versuch einer Universalsprache, einer übergreifenden Verknüpfung aller Sachgebiete zu einem großen Ganzen.“ (1) Das Glasperlenspiel wurde mir zu einer Art Vorlage, wie ich bis heute die Psychologisiererei betreibe.
Als ich fast sechzigjährig und etwa zeitgleich mit meiner Frau das Buch erneut las, entdeckte ich wiederum Aspekte und Anregungen, die meinem Denken, ich muss fast eher sagen: unserem Denken frischen Wind gaben. Ich sah die Aussagen des Romans Das Glasperlenspiel inzwischen nicht mehr nur als Entwurf für meine Tätigkeit, sondern als Vorlage für viererlei Ebenen: Die Individuation des Menschen, die Kunst der Liebe, das gesellschaftliche Zusammen und eine sich gegenseitig beeinflussende Mixtur aus allen; das Leben gedacht als „ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur.“ (2). Dabei faszinierte mich vor allem der Gedanke des Spiels, da “in der Haltung des Spielens der Mensch frei ist.“ (3)
Für mich war Das Glasperlenspiel nie ein Weglesebuch, sondern eher ein Werk, das mir die Freiheit des Anders-, aber auch Weiterdenkens lässt. „Die Struktur erlaubt es, es liegt also an dem Leser selbst, die Leerstellen in eigener kreativer Mitarbeit zu füllen.“(4) Viele Inhalte des Glasperlenspiels liefen mir beim Lesen gegen den Strich und neben die ein oder andere Passagen malte ich mit dem spitzen Bleistift ein großes Fragezeichen. So finde ich weder Gefallen an elitär geprägten und gesellschaftlich isolierten Ordensgemeinschaften, noch kann ich mich mit hierarchischen Prozessen anfreunden; nicht im Buch und nicht im tatsächlichen Leben. Auch packt mich Entsetzen beim Gedanken an eine reine Männergemeinschaft, wie im Buch dargestellt. Doch wer Hesse versucht kennenzulernen, weiß, dass er diese Strukturen nie gutgeheißen, sondern sie als Form der Darstellung, als dramaturgische Einbettung seiner Erzählung genutzt hat. Wenn ich einen Roman über das Hitler-Deutschland schreibe, muss ich nicht zwangsläufig den Nationalsozialismus gut finden. Fasziniert hat uns die Idee des Glasperlenspiels und genau diese Idee haben Marion und ich in zahlreichen, Nächte dauernden Gesprächen weitergesponnen. Und so stellte sich uns schlussendlich die Frage: Wie lässt sich das Spiel mit den vielen Farben und nicht mit einer reduzierten Version weiterspinnen?
(Marion) Ich bin erst sehr spät dazu gekommen, Hesse zu lesen. Leider, muss ich sagen! Sicherlich wären viele Aspekte aus seinen Büchern in meinen turbulenten und nicht immer angenehmen früheren Jahren hilfreich gewesen, mein Leben zu hinterfragen und vielleicht auch anders zu gestalten!
Nach der Lektüre des Glasperlenspiels fiel es mir eine Zeitlang schwer, andere Bücher zu würdigen. Die ersten Seiten des Buches animierten mich nicht unbedingt weiterzulesen, auch bin ich beim Lesen darüber ins Grübeln gekommen, warum es wohl Hesses Absicht war, in diesem Buch die Zeit nicht klar zu definieren; es hat mich anfangs nach Anhaltspunkten suchen lassen, so dass ich mich in der Tat mit zunächst Nebensächlichkeiten aufgehalten habe. Das Glasperlenspiel war neben Siddharta mein zweites Werk von Hesse. In beiden für mich sehr bedeutsamen Büchern fielen mir Aussagen und Ansichten Hesses auf, die ich für mich als wichtig erachtet habe, die mich inspirierten, diese Gedanken weiter zu verfolgen. Und was kann einem durch ein Buch Besseres passieren, als Gedankenwege und deren Verzweigungen weiter nachgehen zu wollen. Letztendlich hat es auch dazu geführt, Hesse als Mensch zu erfahren. Hesses Leben ist so außerordentlich spannungsreich und bewegt und er imponierte mir durch seinen Eigensinn.
Der Besuch am Monte Verita im letzten Jahr und der Anfang meiner Lesereise durch „Kastalien“ – der fiktive Ort des Romans – fielen zusammen und Hesse als Person, nicht nur als Dichter, interessierte mich von da an sehr.
Es bedeutete für mich ein gewaltiges und gedankenreiches Lesen. Arnold und ich unterhielten uns und diskutierten in der Folge viele Abende über Hesse und über Das Glasperlenspiel. Vor mehreren Jahren erstellten wir zusammen das Kunstwerk „Planeten der Liebe“, in dem wir wichtige Elemente der Liebe plastisch darstellten. Eine Liebe kann unseres Erachtens und nach unserer Erkenntnis nur bestehen, wenn diese Faktoren zusammenspielen oder sich wie Perlen aneinanderreihen. Die Liebe verkörpert für uns ein Glasperlenspiel.
Doch wie kamen wir zu dieser Erkenntnis, bevor wir beide das Buch gelesen haben? Und was mag Hesse bewogen haben, das Glasperlenspiel als Herzstück des Buches zu konzipieren? Hesse hat uns mit diesem Buch Fragen gestellt und um ihn und sein Glasperlenspiel besser zu verstehen, haben wir einige Orte seines Lebens besucht, die für seine Entwicklung wichtig waren: Calw, Gaienhofen, Montagnola und Maulbronn.
Annäherung an Hesse in Calw
(Marion) Calw – ein verschlafenes Städtchen an der Nagold. Auf einer der Brücken steht bewegungslos eine Person. Hermann Hesse! Es regnet und ich wische ihm einen Regentropfen von der Nase, der wohl auch eine Träne hätte sein können. Hier verbrachte Hesse einen Teil seiner Kindheit und hier ließ er seine Eltern zurück, um mit dem ihm eigenen Sinn seinen Weg als Dichter und Schriftsteller zu finden.
Würde Calw auch von Touristen besucht, wenn Hesse hier nicht geboren wäre? Ich bezweifele es! Wir besuchen die Stadt an einem Samstag; nur wenige Menschen sind unterwegs, ein paar größere Läden bekannter Ketten haben nur noch geöffnet. Alles sieht eher unspektakulär aus. Der Marktplatz besticht durch die vielen Fachwerkhäuser, auch das Geburtshaus von Hermann Hesse steht hier noch. Obwohl Calw im 2. Weltkrieg von Bomben und Zerstörungen verschont blieb, wurde ein Teil der historischen Gebäude in den 70er-Jahren durch Betonbauten ersetzt. Hier steht nun ein wenig schönes Einkaufszentrum. Weiter entfernt vom Marktplatz sehen wir wie leider allerorts viel Leerstand und vernachlässigte Häuser. Direkt neben dem Hesse-Museum liegt jedoch ein sehr schönes Café und wie soll es anders sein: Es heißt Montagnola!
(Arnold) Über Kassel, wo wir familienbedingt einen Zwischenstopp einlegen, reisen wir bei miesestem Wetter in Hesses Geburtsstadt Calw, laufen durch die wie ausgestorben wirkende Stadt, um passend vor Toresschluss das dort ansässige Hesse-Museum zu besuchen. Bei unserem letzten Aufenthalt in der baden-württembergischen Stadt war uns dieser Besuch nicht gegönnt: Es war Montag – ein schlechter Tag für einen Museumsbesuch! Ein Aufenthalt in Hesses Geburtsstadt Calw ist der geeignete Anlass, sich mit der Biografie Hesses auseinandersetzen. Es ist zwingend erforderlich, um das Wirken des Schriftstellers und sein Werk Das Glasperlenspiel zu verstehen. Während sich bei manchen Literaten die Biografie wie ein Stillleben ausnimmt, ist Hesses nomadenhaftes Leben überaus abwechslungsreich und keinen Moment langatmig. Das macht es nicht unbedingt einfach, sich kurz zu fassen.
1877 wird Hermann Hesse in Calw in ein protestantisch-pietistisch geprägtes Elternhaus hineingeboren. Auch wenn in dieser Zeitepoche Emanzipations- und Autonomiebewegungen ihren Lauf nahmen, war es für den jungen Hesse mehr als schwierig, sich in dem schon früh aufkeimenden und stets von ihm umschwärmten Eigensinn zu entfalten. Während die Eltern die berufliche Zukunft ihres Sohnes als Lehrer oder Pfarrer sahen, wurde Hermann Hesse früh klar, Dichter zu werden – „oder nichts“! Hesse tut sich schwer mit der für ihn vorgesehenen Schullaufbahn in Calw, Göppingen und später Maulbronn, so dass man ihn vorübergehend in einer Nervenheilanstalt auf seinen Gemütszustand untersuchen lässt. Erst in Cannstatt legt er ein Schulexamen vor dem Abitur ab. Die ersten Ausbildungsanläufe als Buchhändler oder Mechaniker scheitern. 1895 absolviert er schließlich eine Buchhändlerlehre in Tübingen und verfasst hier seine ersten Gedichte. Ab 1899 verlegt er seinen Lebensschwerpunkt nach Basel, wo er als Buchhandelsgehilfe seinen Unterhalt verdient und seine ersten Italienreisen unternimmt.
1904 heiratet er Maria Bernoulli gegen den Willen ihres Vaters und zieht mit ihr nach Gaienhofen am Bodensee, wo er zunächst ein einfaches Bauernhaus bewohnt, später ein eigenes und selbst entworfenes Haus. Finanziert wird dieses Projekt durch den Erfolg seines Buches Peter Camenzind. Hier werden auch die drei Söhne Bruno, Heiner und Martin geboren, mit denen er 1912 nach Bern umsiedelt. Womit er Deutschland für immer den Rücken kehrt. Im Jahr zuvor unternimmt er zusammen mit dem Künstler Hans Sturzenegger eine Indienreise, die ihn zwar enttäuscht, aber nachhaltig prägt. Die Schwere der Zeit durch den Tod des Vaters, die psychiatrische Erkrankung seiner Frau und die politische Diffamierung aufgrund seiner Positionierung gegen das grassierende nationalistische Denken, machen es notwendig, dass sich Hesse in Sonnmatt bei Luzern einer psychotherapeutischen Behandlung unterziehen muss.
1919 trennt sich Hesse von seiner Frau und seinen Kindern, die bei Freunden untergebracht werden, um alsbald nach Montagnola im Tessin in die Villa Casa Camuzzi umzusiedeln und damit der bürgerlichen Welt zu entfliehen. Hier in der Nähe des Luganer Sees entwickelt er große literarische, aber auch künstlerische Kreativität und es entstehen zahlreiche Werke, die ihn zunächst im deutschsprachigen Raum berühmt machen. Die Vermählung mit der Tochter eines wohlhabenden Fabrikant Ruth Wenger war nur von kurzer Dauer (1924 – 1927), scheute er doch während dieser Liaison die räumliche Nähe zu ihr. 1931 heiratet der Dichter die Kunsthistorikerin Ninon Dolbin, mit der er die Casa Hesse bezieht. Das Haus wurde von seinem Freund und Mäzen H.C. Bodmer erbaut und ihm auf Lebzeiten zur Verfügung gestellt. 1943 erscheint sein Buch Das Glasperlenspiel, das in Deutschland zunächst verboten wird. 1962 stirbt Hermann Hesse in Montagnola.
Neben Das Glasperlenspiel gehören u.a. Siddartha (1922), Der Steppenwolf (1927) und Narziß und Goldmund (1930) zu den bekanntesten Werken.
Gaienhofen (Bodensee) – Begegnungen mit Hermann Hesse
(Arnold) Es war damals zu Gymnasialzeiten chic, sich damit zu brüsten, Hermann Hesse gelesen zu haben. Was vielleicht auch daran lag, dass die Werke des Schriftstellers nicht zum verbindlichen literarischen Kanon des Deutschunterrichts an meiner Schule gehörten und somit die abweichende Eigeninitiative des jeweiligen Mitschülers unter Beweis stellte. So wurde schon mal auf dem Schulhof philosophiert, ob der eigene Charakter eher Narziß oder Goldmund, die beiden Protagonisten eines gleichnamigen Romans Hesses, entspräche. Der überwiegende Teil meiner Mitschüler identifizierte sich mit Goldmund, der als Wanderer, freier Künstler und Hedonist seine Erfüllung suchte, während Narziss sich für ein Leben in religiöser Askese eines Ordens entschieden hatte. Das unangepasste Leben eines Goldmunds entsprach damals eher der Vorstellung vieler meiner aufbegehrenden und kritischen Mitschüler. Nur mich erreichte diese Diskussion, dieses Beschäftigen mit Lebensentwürfen durch einen Schriftsteller in keinster Weise – möglicherweise aus einer Art Trotz heraus – und so entschloss ich, Hesse als für mich nichtssagend zu werten. Vorübergehend!
Der Literaturkritiker und leitende Feuilletonredakteur Tilman Krause schrieb 2012 in der bürgerlich-konservativen Tageszeitung „Die Welt“: „Wer ihn (Hesse) in den Entwicklungsjahren nicht zu schätzen weiß, tendiert vielleicht gefährlich zum aalglatten Mainstream; aber wer ihn als Erwachsener immer noch toll findet, verfügt über zu wenig ästhetisches Empfinden.“ Ich weiß nicht, wie wenig ästhetisches Empfinden man als Erwachsener haben muss, um Krimis, Science Fiction oder Spiegel-Bestseller-Listen-Bücher zu lesen, aber sei es drum. Jedenfalls begann ich erst als später Student und bekennender Ästhet! einen Zugang zu den zum Teil komplexen Werken Hesses zu finden. Dies hat sicherlich damit zu tun, dass ich nie aufgehört habe, ein Suchender zu sein und bis heute quer zum entsetzlich langweiligen Mainstream lebe und denke. Hesse ist und war zwar weder in seinem Leben, noch in seinen Büchern für meinen Geschmack sonderlich radikal und nur gemäßigt „ununterworfen“, doch sieht man den Dichter, sein Leben und sein Werk in Bezug auf die Zeit, in der Hesse lebte, so entdeckte ich ein ganzes Sammelsurium an Parallelen zu meinem Denken und Leben: Die Sehnsucht nach der Welt und der Kunst, der hier bereits viel zitierte Eigensinn als übergeordnete Tugend, das Verhältnis zur Natur, die antinationalistische Einstellung, das Betonen des Menschlichen vor dem Politischen, aber auch das Gefühl der Vereinsamung aufgrund der eigenen Andersartigkeit. In einem Film über Hesse kommentiert der Verleger des Suhrkamp und Insel Verlages Volker Michels den Schriftsteller mit den Worten: „Woher weiß er das Alles von mir?“
Das Auseinandersetzen mit den Inhalten der Bücher ist auch ein Auseinandersetzen mit den eigenen Inhalten des Denkens und Handelns. Gesetzt den Fall, man kann sich darauf einlassen und besitzt genug Eigenästhetik. Mir fehlen die Schriftsteller, die kritischen Bezug auf das abstruse Weltgeschehen und die entmenschlichten Prozesse gesellschaftlichen Zusammenwirkens nehmen. Es fehlen Schriftsteller, die im Namen der Freiheit und der Menschlichkeit Farbe bekennen. Und es fehlen Schriftsteller, die Anleitungen für neue Perspektiven liefern. Hesse ist für mich kein unreflektiert verehrter Überdichter und -mensch, sondern ein Begleiter bei der eigenen Entfaltung, der eigenen Individuation. Er ist mehr Mensch als Schriftsteller und ich kann mir gut vorstellen, mit ihm einen ausgedehnten, wenn auch imaginierten Spaziergang am Bodensee zu unternehmen. Daran dachte ich in Gaienhofen ganz oft.
(Marion) Natürlich gehört, wenn man die Person und nicht nur den Schriftsteller Hesse kennenlernen und mehr über ihn erfahren will, ein Besuch bei den beiden Wohnsitzen in Gaienhofen dazu.
Von unserem Wohnmobilstellplatz in Radolfzell sind es ungefähr 12 km bis nach Gaienhofen am Bodensee. Wir fuhren die Strecke mit dem Rad und der Weg führte uns dann und wann direkt am See entlang und da wir wunderbares Märzwetter hatten, war die Fahrt dorthin ein wahrer Genuss. Immer wieder öffnete sich eine kleine Bucht am Ufer mit Blick auf das Gegenüber, der See lag vor uns im glitzernden Sonnenschein mit einem leichten Dunst oberhalb des Wasserspiegels. Es war schon eine Atmosphäre, die uns freudig auf die heutige Hesse-Entdeckungstour einstimmte. Jedoch kamen mir zwischendurch auch traurige Gedanken, da Hesse, der, für die damalige Zeit nachhaltig und umweltbewusst gedacht hat, gewiss entsetzt gewesen wäre, wie sich seine zu anfangs geliebte Halbinsel Höri verändert hat.
Mit Bewunderung stand ich vor dem Mia- und Hermann-Hesse-Haus, dem zweiten Wohnsitz der Familie Hesse in Gaienhofen. Leider konnten wir nur einen geringen Teil des Hauses sehen. Viele Bilder habe ich mittlerweile gefunden, auf denen Hesse in seinem Garten zu sehen ist, wie er geschäftig den Boden bearbeitet, Gemüsebeete anlegt, und das brachliegende Grundstück zu einem Selbstversorgergarten ausbaut. Das Haus liegt oberhalb der Straße, die durch Gaienhofen führt und man hat von hier aus eine herrliche Sicht über den See und auf die Berge. Hier wollte der Dichter für sich und seine kleinen Familie eine Heimat erschaffen. Jetzt ist das ehemalige Hesse-Haus in Privatbesitz und nur bedingt zu bestimmten Terminen zu besichtigen.
Wie in Calw steht auch in Gaienhofen eine lebensgroße Figur von Hermann Hesse. Sie blickt direkt auf seinen ersten Wohnsitz, auf das kleine Bauernhaus, welches der Schriftsteller in Gaienhofen zur Hälfte angemietet hatte. Nach der Besichtigung des Hauses saßen wir auf einer Bank in seinem ehemaligen Garten und hingen unseren Gedanken nach. Neben uns saß der Geist Hesses und erzählte:
„Etwas, was kein späteres Haus mehr zu geben hatte, macht dieses Bauernhaus mir lieb und einzigartig: Es war das erste! Es war die erste Zuflucht meiner jungen Ehe, die erste legitime Werkstatt meines Berufes, hier zum erstenmal hatte ich das Gefühl von Seßhaftigkeit, und eben darum auch zuweilen das Gefühl der Gefangenschaft, des Verhaftetseins an Grenzen und Ordnungen; hier zum erstenmal ließ ich mich auf den hübschen Traum ein, mir an einem Orte eigener Wahl etwas wie Heimat schaffen und erwerben zu können.“ (Aus: Beim Einzug in ein neues Haus (1931))
Erfülltes Leben in Montagnola
(Arnold) Kurz hinter dem gesichtslosen Ortsteil Piodella, wo die Autowaschanlage den einzigen Glanzpunkt darstellt, fragen wir zwei alte Damen nach dem Waldweg nach Montagnola. Es gäbe da wohl einen Weg, so die eine, aber der wäre aufgrund des Wetters schlecht begehbar. Und so riet sie uns, über diverse Straßen in das Bergdorf zu laufen. Dummerweise folgten wir dem Rat; erst später erinnerte ich mich, dass der Wegvorschlag von einer Dame mit Rollator kam, für die vermutlich jeder nicht geteerte Weg zur Unbegehbarkeit verdammt war. Ich dachte an Perspektiven und daran, dass das Einnehmen letzterer den Blick verändern konnte. Perspektiven und ihr Wechsel sollten an diesem Tag noch häufiger eine nachhaltige Rolle spielen. Jedenfalls wanderten wir entlang an wenig kontemplativen, da lauten Straßen zum gewünschten Ziel in der Tessiner Collina d´Oro. Ein gefährliches Unterfangen, da Fußgänger oder gar Wanderer wie wir offenbar von den jämmerlichen Verkehrsplanerkreaturen ausgespart wurden.
So schlugen wir den einen oder anderen Haken zwischen vorbeidonnernden SUVs und blitzschnellen Highspeed-E-Bikes mit zähnebleckenden Fahrern bis wir über halbwegs ruhiges Terrain bei schönster Märzsonne, aber mäßiger Laune eine erste Erscheinung hatten. Ohne Vorankündigung sahen wir plötzlich den Kirchturm von Sant´Abbondio aufblitzen. Obschon nie hier gewesen, war doch der Wiedererkennungswert in fast eifelturmartiger Weise von den zahlreichen Fotografien und Bildern enorm. Auf dem Friedhof gegenüber der Kirche, so unser Wissen, lag das Grab von Hermann und Ninon Hesse. Und als wäre ich einer inneren Eingebung gefolgt, führt mein Weg direkt auf die letzte Ruhestätte der beiden Gesuchten zu. Das Grab, so in der vorher studierten Beschreibung, sei erstaunlich schlicht gehalten, doch hätte zu Hesse eines der benachbarten Protzmausoleen nicht gepasst. Ich setzte mich auf einen Felsblock auf dem Grab und hatte in diesem Moment das dringende Bedürfnis, eine letzte Zigarette mit Hermann zu rauchen. So wie an den Gräbern von Jim Morrison, Rory Gallagher, Albert Camus, Simone de Beauvoir und Paul Sartre. Für uns beide war das ein berührender Moment. Ich kann nicht sagen, dass ich Hesse verehrt habe, weil mir das Verehren von Personen allgemein schwer fällt; aber er war eine der wenigen Personen in meinen sechs Lebensjahrzehnten, die mich beeinflusst und geprägt haben. Und so bekam ich die Chance, leise Danke zu sagen.
Und genauso unerwartet, wie die von Zypressen flankierte Kirche auftauchte, tat sich das Ortschild von Montagnola auf. Aller Unmut über die Beschwerlichkeit der Wanderung war vergessen. Montagnola, so hießen Cafés und sicherlich auch Yoga-Studios. Der Name assoziiert eine gewisse Leichtigkeit oder ein Unverdorbensein und so verband auch ich mit diesem Städtchen stets einen Ort, in dem das Verflachen der menschlichen Seelen und das sinnentleerte Getue noch keinen Einzug gehalten haben. Aber auch das sind Perspektiven, die ich unüberprüft aus Hesses Beschreibungen übernommen hatte; vielleicht war es zu seiner Zeit tatsächlich der Fall, doch hatte bei näherem Eindringen in das Dorf auch hier der Kommerz, verschandelndes Immobilientum und dadurch eine Zersiedelung Einzug gehalten. Erst im eigentlichen Dorfkern fanden wir die Idylle, die wir gesucht hatten: den verträumten Palazzo der Familie Camuzzi, in der Hesse anfangs unter sehr einfachen Bedingungen gewohnt hatte und etwas außerhalb die leider zugewachsene „Casa Rossa“ (beide nicht zu besichtigen). Dafür erhalten wir in dem Museo Hesse unter fachkundiger Auskunft interessante Informationen zu dem großen Dichter. Im Keller des Museums schauen wir einen weiteren Film, in dem es vor allem um die Inspirationen Hesses geht, die er u.a. durch sein abgeschiedenes Leben und seine unerschütterliche Liebe zur Natur gewann. Untermalt waren die Bilder mit Texten des Autors, die allesamt von betörender Wirkung waren, leider auch einen schalen Beigeschmack hinterließen: War man mit der Zeit nicht selbst einer Entnaturalisierung auf den Leim gegangen?
In dem Cafe Boccadoro, gleich um die Ecke, saßen wir bei Cafe und später Wein und tauschten unsere Eindrücke aus. Es schien uns durchaus nachvollziehbar, dass Hesse von diesem Dorf dermaßen fasziniert war, dass er dort bis zu seinem Lebensende wohnen blieb. Der Blick hinab zum Lago Di Lugano und in die Ferne zu den Bergmassiven, die bei unserem Besuch zudem schneebedeckt waren, die engen Gassen des Ortes und die verschlungenen Waldpfade; all das musste ihn in den Bann gezogen und seinen Wortfluss inspiriert haben. Und auch wir erlebten, erfüllt von all den Wahrnehmungen und Eindrücken eine Art kontemplatives Dort-Sein. Schauen, nachsinnen, ganz bei sich sein und schreiben: Welch´ ein Füllhorn für Gedanken und Worte. Hesse schrieb einmal: „In einer modernen Stadt, inmitten von kahler Nutz-Architektur, inmitten von Papierwänden, inmitten von imitiertem Holz, inmitten von lauter Ersatz und Täuschung zu leben, wäre mir vollkommen unmöglich, ich würde da bald eingehen.“ Doch auch ihm fiel schon damals auf, dass die moderne Stadt allmählich auch in seinem Paradies Einzug hielt. Die hässlichen Wohnblöcke allerorts sind ihm zum Glück zeitlebens erspart geblieben.
Auf dem Rückweg finden wir dann doch, wenn auch abgesperrt, den Waldweg, den Hesse so oft gegangen ist. Wir gehen ihn trotzdem. Und wieder versuchen wir, mit seinen Augen zu sehen. Und dann hörte der Wald auf. Perspektivwechsel.
Das Glasperlenspiel
Über das Buch
(Marion) „Das Glasperlenspiel“ ist der letzte große und hochgeistige Roman Hermann Hesses und hier in Montagnola entstanden. Es ist die Lebensbeschreibung des Glasperlenspielmeisters Josef Knecht. Hesse versetzt die Handlung des Buches in eine zeitenthobene Zukunft. In jeglichen Details, die für den Leser sicherlich wichtig gewesen wären um den Inhalt leichter nachvollziehbar zu machen, bleibt er in seinen Zeitangaben unscharf. Jedoch kann man erahnen, dass sich die Handlungen in sehr weiter Zukunft zur damaligen Zeit zutragen. Hermann Hesse schrieb diesen Roman von 1931 – 1942, in einer Zeit, in der das Chaos, die Gewalt und destruktive Mächte herrschten und es für ihn existenziell wichtig war, seine Ängste durch das Schreiben dieses Buches zu kompensieren. Erschienen ist das Buch 1943 in Zürich und erst 1946 in Deutschland.
Der Inhalt
(Marion) Im Alter von ca. zwölf Jahren erhält der musikbegabte Schüler Josef Knecht in seiner Heimatschule in Berolfingen Besuch des Musikmeisters der Erziehungsbehörde Kastalien. Dieser ist so angetan von Josef, dass er die Aufnahme an einer Schule in Kastalien empfiehlt. Der Junge, anscheinend verwaist und sein Schulbesuch nur durch ein Stipendium ermöglicht, erhält tatsächlich nach Abschluss seiner Heimatschule die Berufung als Eliteschüler nach Eschholz.
Hier findet er sich leicht ein und Josef Knecht kann seine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Er bleibt unter wohlmeinender Beobachtung des Musikmeisters und nach einigen erfolgreichen Jahren endet seine Zeit in Eschholz – nicht ohne innere Kämpfe.
Wie es auch sein geheimer Wunsch ist, wird er durch die Leitung Kastaliens der weiterführenden Schule in Waldzell zugeteilt, in der die Universalität der Künste und Wissenschaft, sowie die Kunst des Glasperlenspiels gepflegt wird. In Waldzell freundet er sich mit Carlo Ferromonte und Fritz Tegularius an. Auch verspürt er eine gewisse Anziehungskraft zu Plinio Designori, ein Hospitant, der sich ein Leben in Kastalien nicht vorstellen kann und die Zustände in der pädagogischen Provinz stets angreift. Josef Knecht empfindet Verunsicherung über das Gehörte, sucht Rat bei der Schulleitung und als Übung für seine weiteren Tätigkeiten erhält er die Aufgabe, sich den Diskussionen mit Designori zu stellen. Gleichwohl empfinden beide Schüler Respekt füreinander und als die Zeit für Designori in Waldzell vorbei ist, verspüren beide junge Männer eine tiefe Traurigkeit.
Auch die Waldzeller Zeit absolviert Josef erfolgreich. Die Studienjahre stellen eine Zeit des Sich-Findens dar, verbunden mit der Überlegung, wo sein Platz in der pädagogischen Provinz sein könnte. Im Zuge seiner Studien hat Josef Knecht ein Interesse für die chinesische Sprache und der Klassiker entwickelt und sich in Hirsland (Sitz der Ordensleitung) mit dort arbeitenden Chinesen angefreundet. Auf der Suche nach einem Lehrer hört er immer wieder den Namen „Älterer Bruder“, der aber mehr oder weniger hinter vorgehaltener Hand, aber nichtsdestotrotz mit einer gewissen Achtung genannt wird. Knecht wird neugierig und macht sich nach Ende seiner aktuellen Studien auf die Suche nach der Eremitage „Bambusgehölz“, wo er hofft, eine gewisse Zeit verbringen zu können. Er verbringt tatsächlich mit Einverständnis des „Älteren Bruders“ mehrere Monate im Bambusgehölz und später bezeichnet Josef diese für ihn nachhaltige Zeit als die „Zeit des Erwachens“. Ob es sich hier um Selbsterkenntnis oder um seine kommende Position handelt, kann man nur ahnen. Der Zeitabschnitt danach war beherrscht von der Suche nach seinem Werdegang und seinen widersprüchlichen Gefühlen: Was ist der richtige Weg für ihn und wo führte er ihn hin?
Obwohl er sich seiner Gefühle nicht sicher ist, tritt er Monate (auch hier bleibt Hesse unklar) später in den Orden ein und erhält auch alsbald vom Magister Ludi die Aufgabe, sich eine gewisse Zeit in die Benediktinerabtei Mariafels, die der pädagogischen Provinz zugetan ist, zu begeben. Dort bittet man um einen Lehrer, um die dort interessierten Spieler des Glasperlenspiels zu unterrichten. Tatsächlich bleibt Josef Knecht zwei Jahre in Mariafels. In dieser Zeit macht er für ihn eine sehr wichtige Bekanntschaft. Pater Jakobus, schon ein älterer Mann in den Sechzigern, gilt als DER Geschichtsschreiber des Ordens und wird von Josef Knecht mindestens genauso verehrt wie der Alt-Musikmeister, der bis zu seinem Tod die wichtigste Person für Knecht war. In den zwei Jahren, die Josef Knecht in Mariafels verbringt, entsteht eine tiefe Verbundenheit zwischen den beiden so unterschiedlichen klugen Köpfen. Nachdem der Kastalier von seiner Behörde zurückgerufen wird, erhält er kurze Zeit später eine Vorladung beim Magister Ludi. Josef Knecht soll seine Beziehung zu Pater Jakobus in der Art festigen, dass der Pater eine wohlwollende Meinung Kastalien gegenüber entwickelt und eine womöglich positive Verbindung der pädagogischen Provinz zum Vatikan befürwortet. Zurück in Mariafels kommen Knecht bezüglich seiner Mission Bedenken, da er den von ihm geschätzten Pater gewissermaßen zu hintergehen scheint. Pater Jakobus sagt ihm nach kurzer Zeit auf den Kopf zu, dass er ahnte, welche neue Berufung ihn zurück nach Mariafels führte. Dennoch treibt diese Feststellung keinen Keil zwischen die Freundschaft der beiden Männer und Pater Jakobus will sich diese Entscheidung gut überlegen.
So ganz kann sich Josef Knecht Waldzell nicht entziehen und nimmt an dem alljährlichen Wettstreit der Waldzeller Elite teil. In dem Wettbewerb gilt es, aus drei oder vier vorgegebenen bestimmten Themen ein Glasperlenspiel zu konstruieren. Die Zeit in Mariafels nutzt er, um dieses Spiel vorzubereiten und in Reinschrift zu übertragen. Er erhofft sich, zumindest einen dritten oder zweiten Rang zu erreichen.
Einige Zeit später verfasst Pater Jakobus tatsächlich ein Schreiben an die kastalische Ordensleitung, in dem er seine Befürwortung für eine diplomatische Verbundenheit mit dem Vatikan darlegt. Josef Knecht ist darüber hocherfreut, zumal er ein belobigendes Schreiben der Ordensleitung erhält, in dem man ihm den Entschluss mitteilt, ihn in Waldzell alsbald wieder begrüßen zu dürfen.
Es stellt einen Wendepunkt ihn Josef Knechts Leben dar, zu seiner Überraschung den ersten Preis für seine Konstruktion eines Glasperlenspiels zu gewinnen. Er entschließt sich, noch einige Monate in Mariefels zu bleiben und zum Frühjahr nach Waldzell zurückzureisen. In der darauf folgenden Woche soll das große öffentliche Glasperlenspiel stattfinden, jedoch nicht unter der Leitung des Magister Ludis, der schwer erkrankt ist, sondern durch den Stellvertreter Bertram, der „Schatten“ des Magister Ludi. Die Festlichkeit wird durch die Besorgnis über die Erkrankung des Magisters beeinträchtig, aber auch durch die wenig erfolgreiche Inszenierung durch den Stellvertreter. Sicherlich werden die Bemühungen Bertrams auch angesichts der wenigen Unterstützung bis hin zur Geringschätzung der Waldzeller Elite enorm beeinflusst. Am vorletzten Tage der Festlichkeit verstirbt der Magister Ludi, Thomas van der Trave. Man bricht das Spiel nicht ab, sondern erlebt die letzten Züge des Spieles als eine Art Trauerfeier. Bertram, der „Schatten“, der am Ende seiner Kräfte ist, bittet um Urlaub und ward nicht mehr gesehen. Im Spielerdorf herrscht sowohl Trauerstimmung, als auch eine gewisse Aufregung unter der Elite, muss doch bald ein Nachfolger bestimmt werden.
Es mag den Leser nicht verwundern, dass die Wahl der Ordensleitung auf Josef Knecht fällt; er selbst hat tief in seinem Inneren eine gewisse Ahnung gefühlt. Und als er nach ein paar Tagen von der Ordensleitung zum Gespräch gebeten wird und man ihm mitteilt, dass die Wahl auf ihn gefallen ist, nimmt er diese Entscheidung an.
Nach aufzehrenden Wochen und Monaten breitet sich im neuen Magister Ludi eine Zufriedenheit aus und er lebt sich rasch in seiner neuen Position ein. Am Anfang seiner Tätigkeit befolgt er noch den Weg, den all die Magister vor ihm gegangen sind: Eine Verrichtung seiner Berufung im Zusammenspiel mit der Elite, mit Studenten und Repetenten. Doch je länger er im Amte weilt, desto mehr überlässt er gewisse Tätigkeiten seinen Vertrauten und widmet sich mehr und mehr den jüngeren Schülern.
„Er diente einer geistigen Gemeinschaft, deren Kraft und Sinn er bewunderte, deren Gefahr aber er in ihrer Neigung sah, sich als reinen Selbstzweck zu betrachten, ihrer Aufgabe und Mitarbeit am Ganzen des Landes und der Welt zu vergessen und schließlich in einer glänzenden, aber mehr und mehr zur Unfruchtbarkeit verurteilten Abspaltung vom Ganzen des Lebens zu verkommen.“ (aus Das Glasperlenspiel).
Dass er als Glasperlenspielmeister sein Wissen um viele Dinge nur mit seinesgleichen in Kastalien teilen kann, bedeutet für ihn eine Last und er sehnt sich mehr und mehr nach jungen Schülern, die er unterrichten und formen kann.
Zu dieser Zeit begibt es sich, dass sein ehemaliger „Widerstreiter“ Plinio Designori in amtlicher Position in Hirsland weilt. Jahre später, nachdem Plinio Kastalien verlassen hat, nimmt er an einem „Glasperlenspiel-Seminar“ teil, währenddessen es auch zu Kontakt mit Josef Knecht kommt. Doch damals war eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen zu spüren und der Kontakt brach komplett ab.
Bei seinem jetzigen Besuch nimmt Josef Knecht eine unmerkliche Traurigkeit an der Gestalt Designoris wahr und er bemüht sich mit seiner eigenen heiteren Hartnäckigkeit um seinen damaligen Freund. Nach einigen Monaten beständigen Werbens, nimmt Designori eine Einladung zu einem längeren Gespräch an und Josef Knecht stelle fest, dass tief verborgen sehr viel Gesprächsbedarf in Plinio schlummert und dass er, Josef, auf behutsame und die ihm eigene einfühlsame Art dessen Sorgen hervorlocken muss. Mehr und mehr stellt sich in den kommenden Monaten eine tiefe Harmonie zwischen den beiden ein und so kommt es, dass Josef Knecht im achten Jahr seines Amtes bei der Ordensleitung ersucht, seinen Freund in der Hauptstadt besuchen zu dürfen. Es wird eine anstrengende und kühle Angelegenheit, aber Josef Knecht lernt so die Gattin und auch den Sohn Plinios kennen. Es bleibt nicht bei diesem einen Besuch und Josef Knecht erwirbt mehr und mehr das Vertrauen Plinios Frau und dessen Sohn Tito, einem vorlauten und unerzogenen Knaben.
Je mehr Josef Knecht im Hause Designori weilt, je mehr er vom Leben außerhalb Kastaliens erfährt, umso mehr formt sich ein unvorstellbarer Gedanke in ihm, der schon länger ihn ihm reifte, aber bisher nicht zu greifen ist. Es kommt die Zeit der Erkenntnis, dass es für ihn an der Zeit ist, neue Wege und Räume zu beschreiten: Er sehnt sich nach einem Leben außerhalb der Provinz. In Gesprächen mit Plinio bleibt es dem nicht verborgen, was in Josef Knechts Überlegungen Gestalt annimmt. Nachdem er Josef darum bittet, Erzieher seines Sohnes Tito zu werden, begibt sich Josef Knecht in die Vorbereitungen seines Ausbruches aus Kastalien. Er entzieht sich mehr und mehr seinen Aufgaben und versucht so, für das Vicus Lusorum entbehrlich zu sein. Als er sieht, dass er sein Ziel erreichen wird, bittet er die Ordensleitung darum, ihn von seinem Amt als Magister Ludi zu entheben. Dieses Gesuch wird von der Behörde abgelehnt. Nachdem Josef Knecht das Schreiben mit der Ablehnung gelesen hat, weiß er, dass nun die Zeit für ihn gekommen ist, den letzten Schritt zu gehen. Er übergibt seinem Stellvertreter letzte Anweisungen und besucht spät abends noch seinen alten Freund, Fritz Tegularius, der ihm in den letzten Jahren ein treuer Begleiter in der Provinz war. Zwar benutzt er nicht die gängigen Verabschiedungsformeln, doch es ist ihm ein Gutes den Freund noch einmal zu sehen.
Früh morgens begibt sich der Magister zur Ordensleitung und bittet um eine Unterhaltung, die ihm auch gewährt wird. Jedoch wird es kein leicht zu führendes Gespräch und nach Ablauf eines Tages verlässt Josef Knecht Hirsland, ohne dass er beim Ordensvorstand auf Einverständnis gestoßen ist.
Er macht sich zu Fuß auf den Weg zu Designori, befreit und glücklich! Dort wird er bereits sehnlichst erwartet. Jedoch, Tito, der junge Knabe, der nun alsbald Knechts Schützling werden soll, ist nicht zugegen. Erst später am Tag findet Josef Knecht in Titos Zimmer eine kleine Notiz, in der er seinen Eltern mitteilt, dass er den letzten Tag in Freiheit, noch einmal ganz für sich allein nutzen möchte und allein in das Ferienhaus „Belpunt“, was für die nächsten Monate das Zuhause für Tito und Josef Knecht darstellen soll, gereist sei. Josef Knecht nimmt es gelassen und auch die Eltern Designori sind erleichtert. In der ihm nun verbliebenen Zeit berichtet Josef seinem Freunde Plinio die Vorkommnisse der letzten Zeit und die Unterredung mit der Ordensleitung. Am nächsten Morgen bringt ihn ein Wagen nach „Belpunt“, das Ferienhaus, das an einem See im Gebirge liegt, zu seinem Zögling Tito Designori, der ihn freundlich empfängt.
Nach der Aufregung der letzten Tage fühlt sich Knecht sehr ermattet und erschöpft und als der Abend nach sehr anregenden und freundlichen Gesprächen zu Ende geht, fühlt er zudem ein gewisses Unwohlsein und ein Schwindelgefühl. Nach einer unruhigen Nacht erhebt er sich früh, tritt vor die Tür, um im richtigen Moment den Aufgang der Sonne hinter den Bergspitzen gemeinsam mit Tito zu beobachten. Gebannt verfolgten die beiden dieses grandiose Schauspiel, Tito begrüßt den kommenden Tag in einer Art ekstatischen Tanz, von seinem Lehrer hingerissen beobachtet. Tito, aus seinem berauschenden Tanz erwachend, bittet Knecht, wohl aus einer Beschämung heraus, um ein Wettschwimmen über den See. Dieser traut sich nicht, die Bitte abzuschlagen, springt in den eiskalten See, ohne auf seinen warnenden Instinkt zu hören und kämpft dort beim Auftauchen bereits mit dem Tod!
Das Spiel
(Arnold) Das ein Spiel ausgerechnet mich in den Bann zieht, ist schon verwunderlich. Auch wenn ich vor gut 20 Jahren ein sogar prämiertes Spiel entwickelt habe, haben mich Unterhaltungsspiele zum Zeitvertreib nie interessiert. Das liegt vermutlich daran, dass ich meine Zeit nicht vertreiben muss, sondern sie entweder sinnvoll nutze oder kontemplativ verstreichen lasse. „Die Spielwissenschaft unterscheidet … zwischen Spielen, die einem spontanen Impuls nach spielerischer Betätigung folgen, die aus sich selbst heraus Sinn ergeben und Spielen, die einer bestimmten Zwecksetzung von außerhalb des Spiels dienen“ (Wikipedia) Legt man diese Einteilung zugrunde, so sehe ich mich durchaus als homo ludens, der das Spiel nutzt, um die Zwänge der äußeren Welt zu erfahren, aber auch zu überschreiten bzw. meine eigene Form von Welt zu schaffen.
Bei der Beschäftigung mit dem Roman Das Glasperlenspiel stellte ich mir immer wieder die Frage: Was genau ist eigentlich ein Glasperlenspiel? Gibt es dazu eine Anleitung wie bei „Mensch-Ärgere-Dich-nicht“ oder einem komplexen Spiel wie Schach? Trotz intensiver Recherchen finde ich keine halbwegs nachvollziehbare Anweisung, um dieses Spiel einer unwissenden Person zu erklären. Auch in dem Roman selbst finden sich keine konkreten Beschreibungen. So bleibt es auch bei mir eher bei „Erahnungen“, nebulösen Vorstellungen, die aber Überlegungen, Fantasien und nahezu kontemplative Denkübungen anstoßen, mit denen man sich möglicherweise bereits mitten im Spiel befindet. Vielleicht irritiert der Begriff „Spiel“ auch zuweilen und es handelt sich vielmehr um einen spielerischen Prozess, vermeintlich Zusammenhangsloses mit den Ideen der Musik, Mathematik und/oder Kunst in Zusammenhang zu bringen.
In vielen Bereichen stellt es ein faszinierendes Unterfangen dar, eine Frage und sei es eine noch so komplexe, spielerisch durch das Zusammenfügen von unterschiedlichsten und das heißt auch gegensätzlichsten Lösungswegen zu beantworten. Denn der Königsweg, sich einer Lösung und damit der Auflösung eines Spiels zu nähern, ist nicht eindimensionales, sondern vielfältiges Denken. Genau diese Erfahrung mache ich tagtäglich in meiner Tätigkeit als Psychotherapeut: Nichts ist eine Einheit, sondern immer ein „Viel“ und das Problem vieler Menschen liegt darin begründet, dass sie dieses „Viel“ nicht erkennen oder nie erkannt haben. Auch dazu hat Hesse einen schönen Satz kreiert: „ In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternenhimmel, ein Chaos von Formen, Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten.“
Bringt einen das bei der Erläuterung der Spielanleitung weiter? Kaum! Die Annäherung erweist sich als eine Art Detektivspiel: Details sammeln und zum Schluss zu einem Ganzen zusammenfügen. Hier einige Facetten: (z.T. Anleihen bei 5)
- Die Ursprünge des Spiels liegen offenbar in China, schwappten irgendwann auch nach Europa über und fanden vor allem in studentischen und „elitären“ Kreisen zunehmend Beliebtheit.
- Die Glasperlen haben eher einen symbolischen Charakter, da sie aneinandergereiht oder als zusammengelegte Objekte ein Ganzes ergeben.
- Gegensätze, wie im Yin und Yang bekannt, werden dabei in Harmonie gebracht, ohne sie auflösen zu wollen.
- Der „Spieler“ kombiniert nach Ordnungsprinzipien oder künstlerischen Prinzipien, wie sie in der Musik, der Kunst oder Mathematik bekannt sind, Themen, Zeichen oder Abläufe nach eigenem Willen.
- Es geht nicht darum, Neues zu entwickeln, sondern Bestehendes neu zu ordnen.
- Eine wesentliche Einflussgröße ist die Musik und Musik spiegelt den Geisteszustand einer Gesellschaft wieder.
- Die persönliche Fantasie und Erfinderkraft spielt eine entscheidende Rolle.
- Das Spiel funktioniert als Fortlauf von Assoziationen und Analogien, die dazu führen, dass ein Zeichen sich in ein anderes Zeichen wandelt und neue Verknüpfungen und Ableitungen möglich macht.
- Auch wenn es in religiösen oder philosophischen Kreisen häufig Anwendung fand, ist es kein Instrument der Religion oder Philosophie.
- Es existieren Anlehnungen an das I-Ging (Buch der Wandlungen), in dem die Welt als ein nach bestimmten Gesetzen ablaufendes Ganzes, dessen Formen aus der permanenten Wandlung der beiden polaren Urkräfte entstehen, beschrieben wird.
- Das Spiel hat in der Jetztzeit an Bedeutung verloren.
- Ziel ist es, mit dem Spiel eine Universalsprache zu finden, auf die sich alle Wissenschaftler einigen können.
Eine Zusammenfassung findet sich im Internet auf dem „Kastaliablog“:
„Das Glasperlenspiel ist eine universelle Kunstform, deren Einübung und Vermittlung einem elitären Zirkel vorbehalten ist (daher auch die übertragene Bezeichnung ‚ein Glasperlenspiel für Eingeweihte‘ für etwas, das sich dem allgemeinen Verständnis entzieht). Es setzt Elemente aus diversen Kunst- und Wissensbereichen symbolisch zueinander in Beziehung und erzeugt im besten Fall ein Erlebnis vollkommener Harmonie.“ (https://kastaliablog.wordpress.com/2017/07/09/was-ist-das-glasperlenspiel/)
Bei allen Recherchen und daraus resultierenden Überlegungen, bleibt dennoch der fade Beigeschmack zurück, von einer Spielanleitung weit entfernt zu sein. Hermann Hesse selbst (6) schreibt in seinen Ausführungen, die man erst auf den zweiten Blick als Fiktion erkennt, ein sehr schönes Beispiel für den Verlauf eines übrigens durchaus wochenlang verlaufenden Glasperlenspiels:
„Es konnte ein Spiel etwa ausgehen von einer gegebenen astronomischen Konfiguration, oder vom Thema einer Bach-Fuge, oder von einem Satz des Leibnitz oder des Thomas von Aquin, und es konnte von diesem Thema aus, je nach Begabung und Absicht des Spielers, die dadurch wachgerufene Leit-Idee entweder weiterführen und ausbauen oder auch durch Anklänge an verwandte Vorstellungen ihre Stimmung vertiefen. War der Anfänger etwa fähig, durch die Spielzeichen Parallelen zwischen einer klassischen Musik und einem Naturgesetzt herzustellen, so führte beim Könner und Meister das Spiel vom Anfangsthema frei bis in unbegrenzte Kombinationen.“
Da ich niemand bin, der sich an Reglementierungen und Vorschriften, außer sie machen tieferen Sinn, festhält, lade ich dazu ein, sich sein eigenes Glasperlenspiel für den Hausgebrauch zu basteln:
Man nehme ein x-beliebiges Thema, z.B. die Planung des nächsten Urlaubs. Beabsichtigt man die Reise mit einer anderen Person: Umso besser. Nun nimmt man Melodien der momentan wichtigen Musikrichtung, wählt ein Bild von einem künstlerischen Werk, das einen nachhaltig beschäftigt hat, sowie die Geschichte eines beeindruckenden Romans. Vielleicht sucht man nun seinen Lieblingsdraußenort auf, setzt sich dort eine Weile in die Natur und meditiert oder lässt seine bisher gemachten Gedanken streifen. Nach und nach fügt man andere Elemente hinzu, z.B. ein besonderes Erlebnis der letzten Zeit, eine kürzlich gemachte Liebeserfahrung oder eine beeindruckende Fotografie, auf die man in einer Zeitung gestoßen ist. Bei der nächsten kontemplativen (besinnlichen) „Sitzung“ legt man eine Welt- oder Europakarte vor sich hin und lässt die Gesamtstimmung auf sich wirken. Kristallisiert sich ein Ziel heraus, so nimmt man dies als Grundlage seiner dritten Meditation. Auf diese Weise ist unsere Idee gewachsen, nach Skandinavien zu reisen. Sollten gestandene Glasperlenspieler ein Problem mit meiner Idee haben, so sei es drum oder frei nach Schiller: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.
Ableitungen aus dem Glasperlenspiel – Gedanken auf der Fahrt von Montagnola nach Maulbronn
(Arnold) „Die Sonne geht auf, wenn Josef Knecht untergeht. Der Autor Hermann wirft seine wichtigste Spielfigur wie unabsichtlich um. Und damit rettet er das Spiel, denn er hat seine wahre Fortsetzung eingeleitet: diejenige im Bewusstsein der Leserin, des Lesers.“ (7) Dieser Gedanke der Fortsetzung in unserem Bewusstsein als Leser führte uns nicht nur nach Montagnola, sondern auch zu bereits erwähnten Ableitungen, die ich bereits oben als Ebenen bezeichnete. Die Lektüre des Romans inspirierte uns, das Element des spielerischen Umgangs mit menschlichen und gesellschaftlichen Prozessen weiterzudenken. „Im Glasperlenspiel vereinigen sich die Schönheit der Kunst und die Exaktheit vieler wissenschaftlicher Disziplinen. Es handelt sich weder um eine Philosophie noch eine Religion. Im Charakter ähnelt das Glasperlenspiel am ehesten der Kunst. Theoretisch ließe sich mit diesem Instrument der ganze geistige Weltinhalt reproduzieren.“ (8)
Das Glasperlenspiel und die Individuation des Menschen
Unter Individuation versteht man den Werdegang eines Menschen zu einem Individuum. Der Ausdruck Individuum beschreibt wiederum einen Menschen als Einzelwesen in seiner jeweiligen Besonderheit. Die Entwicklungspsychologie hat dafür einen ganzen Katalog von Entwicklungsaufgaben ersonnen, die ein Heranwachsender bis zur Reife als Erwachsener durchlaufen haben sollte, um ein Individuum zu werden. Doch diese Aufgaben haben einen wesentlichen Haken: Die Jugendlichen selbst, die sich in der Individuation befinden, kennen diese Aufgaben in der Regel nicht und so werden sie zumeist eher willkürlich an die ein oder andere Aufgabe herangeführt. Während manche Söhne und Töchter aus gutbetuchtem Hause Schulen besuchen, in denen sehr viel Wert auf eine Heranführung an eine selbstdenkende Persönlichkeit gelegt werden, spielt dieser Gedanke anderenorts keine Rolle, weil dem Schulsystem ein verstaubter Mantel übergestülpt würde, der diese Gedanken in keinster Weise berücksichtigt und in dem sich Lehrer eher als Prüfungsvorbereitungstrainer verstehen. Die meisten Jugendlichen, die ich in meiner Funktion als Psychotherapeut erlebe, schlingern orientierungs- und richtungslos in ihr Leben hinein. Mal abgesehen von einer vagen beruflichen Idee, können die wenigsten sagen, was ihre Vision von sich selbst ist. Denn: Individuation bedeutet, nicht nur die eigenen, mitgegebenen Talente zu erkennen lernen, sondern auch der oder die zu werden, die man ist. Ein Schelm, der behauptet, die Orientierungslosigkeit ist gewollt! Orientierungslose lassen sich besser lenken!
So wär die erste Ableitung aus dem Buch, die „kastalische“ Idee von einem Glasperlenspiel auch auf die schulische, aber auch individuelle Reifung der jungen Menschen zu übertragen und damit die Jugendlichen mit einem würdigen Spiel des Lebens an ihre Aufgaben, sie selbst zu werden, heranzuführen. Es geht dabei nicht darum, dem üblichen Lernstoff noch mehr Inhalte hinzuzufügen, sondern klassische Bereiche mit ethischen, philosophischen oder psychologischen Inhalten auf spielerische und unter Nutzung der kreativen/musischen Methoden zu kombinieren, Lehr- und Lernmethoden zu überarbeiten und vor allem Selbsterfahrungselemente, sowie Elemente aus der Meditation, politischen Achtsamkeit, Selbstfürsorge und des Gesundheitstraining zu berücksichtigen. Kinder und Jugendliche erfahren ihre Individuation nicht über ihre wenig selbstreflektierten Eltern, sondern durch gute Pädagogen, Lust auf kreatives Ausprobieren und Anleitung zur Selbstkompetenz. Wir brauchen – auch ohne das Glasperlenspiel – eine Schule des Lebens und keine Lernfabrik.
Das Glasperlenspiel und die Liebe
Vor einiger Zeit wurden wir gefragt, ob wir zu einer Veranstaltung zum Thema Liebe eine szenische Lesung beitragen könnten. Ich schrieb daraufhin einen Text, in dem u.a. die Liebe in einer Talkshow auftrat. Darin antwortet „der Gast“ der Moderatorin auf die Frage, ob es eine bestimmte Vision bezüglich der Liebe gäbe: „… Mein Wunsch nun wäre, auch mich als solch ein Glasperlenspiel zu sehen. Eine liebevolle Verbindung von alltäglichen Abläufen mit Spaß, Erotik, Lust, Essen, Trinken, Stimmungen, Ritualen, Meditation und auch ungewöhnlichen Elementen. Und die Beteiligten sind in gleicher Weise magister ludi: Spielmeister. Ach, das wäre ein Liebesleben!“ Im weiteren Verlauf spricht die Liebe noch über Aspekte wie Akzeptanz, Achtsamkeit, Vertrauen, Humor, Geborgenheit, Veränderung, Treue, Leidenschaft, Achtung und Kritikfähigkeit.
In seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ schreibt der Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm: „Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Sie ist etwas, das man in sich entwickelt, nicht etwas, dem man verfällt.“ Er beschreibt vier Dimensionen: Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Respekt und Kenntnis. Liebe, so Fromm, basiert häufig nur noch auf der Notwendigkeit, den sexuellen Akt zu vollziehen. Viele verwechseln die Selbstliebe mit Egoismus und Egoismus in der Liebe bedeutet: Ich möchte an erste Stelle stehen und durch die Liebe von außen bestätigt bekommen, wie toll ich bin. Aber das funktioniert nicht und ist letztendlich ein Prozess, der zur Enttäuschung und zum „Entlieben“ führt. (9)
Liebe in kapitalistischen Zeiten mit pompös durchgestylten Hochzeiten wurde auf einen plumpen Funktionalismus reduziert, der nur noch nach betriebswirtschaftlichen Regeln abzulaufen scheint: Gibst du mir, gebe ich dir. Wie notwendig erscheint es mir, die Liebe als Glasperlenspiel zu betreiben, das sich jeden Tag neuer Regeln, Aufgaben, Überlegungen und Verbindungen unterzieht.
Das Glasperlenspiel und die „gute Gesellschaft“
Ich nutze absichtlich diesen antiquiert klingenden Ausdruck der guten Gesellschaft, weil er mir gefällt, aber sicherlich reichlich Diskussionsstoff bietet wie: Was ist gut, was ist schlecht? Hat nicht jeder einen Entwurf für etwas, was er gut nennt? Unter einer guten Gesellschaft verstehe ich ein Zusammenleben, in dem Zweckrationalität und Nutzenmaximierung – die bestimmenden Faktoren der Jetztzeit – überwunden werden. Einen solchen Ansatz findet man z.B. in der neuen Utopie des Konvivialismus (10), in dem ein Maximum an Pluralismus und Gleichheit bei gleichzeitiger Reduktion von Maßlosigkeit angestrebt wird. Gute Gesellschaft heißt auch: Friede als einzige Option, Akzeptanz der Unterschiede, Gleichheitsrecht der Kulturen, bunte Gesellschaft, Lernen aus Gegensätzen, Stärkung des Individuellen und des Gemeinschaftlichen gleichermaßen usw.
Längst ist es Zeit für eine Überarbeitung eines Gesellschaftssystems, das uns sukzessive von Ökonomen und Politikern genommen wurde und in dem der Mensch zum Humankapital degradiert wurde. Wie wäre ein gewaltiger think tank, an dem alle Menschen, ob einzeln oder in ihrer Gruppe, teilnehmen und das neue System in Form eines Glasperlenspiels neu formieren. Wie kann man Wirtschaft ohne Ethik, Architektur ohne Soziologie oder Kultur ohne Medizin denken? Und warum werden diese vielen Herangehensweisen nicht spielerisch vermischt, um daraus etwas entstehen zu lassen, was Gesellschaft heißt und sich wieder auf die Grundbedeutungen der Geselligkeit bezieht?
Die drei Ableitungen sind Beispiele für eine neue Variante des Glasperlenspiels. Und Beispiel bedeutet: Sie ließen sich auf geradezu alle Bereiche des Lebens anwenden. Bleibt die Frage: Ist das Glasperlenspiel im Grunde nichts Anderes als das Leben selbst?
Abschließende Gedanken in Maulbronn
(Arnold) Meine Frau hat die reizende Angewohnheit, Städte in Sommer- und Winterorte einzuteilen. Ich kann mich nicht entsinnen, dass es in diesem Zuordnungssystem auch Regenorte gab. Jedenfalls erreichen wir die Stadt im Nordschwarzwald bei fiesem Regenwetter; zudem ist es unangenehm kalt. Keine gute Voraussetzung, um einer Stadt mit Sympathie zu begegnen. Allerdings werde ich den Verdacht nicht los, dass die Stadt auch sonnenbeschienen nicht überzeugend wirkt. Aber wir sind natürlich aus einem besonderen Grund nach Maulbronn gefahren. Gibt man die Stadt als Suchbegriff in die Suchmaschine seines Vertrauens ein, so bekommt man fast ausschließlich das berühmte, 1147 gegründete Kloster präsentiert. Und spätestens beim Anblick des wunderschönen Brunnenhauses, wird sich bei vielen Betrachtern ein gewisser Wiedererkennungswert einstellen. Irgendwann hat man dieses wunderschöne Wasserspiel schon einmal gesehen.
Am nächsten Morgen, bevor die Busse mit internationalen Reisegruppen, das Gebäude fluten, machen wir uns auf zur Besichtigung. Es ist mehr als beeindruckend, durch die Kreuzgänge zu laufen, staunend in den großen Hallen zu stehen, verblasste Malereien zu entdecken, in die Klosterkirche einzutauchen oder einfach auch nur das imposante Gesamtbauwerk zu bewundern. Und würde man sich die auf dem Gelände parkenden Autos wegdenken und die mit den obligatorischen Baseballmützen herumlaufenden Internatsschüler ausblenden (irgendwer brüllt aus dem Fenster des Internats „Viva Colonia“ über den Platz), dann wäre die Zeitreise perfekt. Für einen Moment versuche ich mir vorzustellen, selbst als Schüler in den feisten Klostermauern zu leben. Was wäre das für ein Gefühl? Ein bisschen hat es auch etwas Beängstigendes, Einschüchterndes! So wie es religiöse Bauwerke nur zu oft vermitteln – vermutlich mit Absicht!
Unsere literarische Reise folgt keiner Chronologie, denn dieser Ort am Ende unserer Reise steht schließlich eher am Anfang des späteren Schriftstellers Hesse. Am 15.9.1891 wurde Hermann Hesse Seminarist im Kloster Maulbronn. Obschon sich der junge Hesse dort sehr wohlfühlte, läuft er ohne ersichtlichen Grund am 3. März 1892 davon, wird nach einer kalten Nacht auf freiem Feld von Gendarmen zurückgebracht, um danach mehr und mehr in eine depressive Stimmung zu verfallen. Setzt man sich in den Klostergemäuern für kurze Zeit in eine stille Ecke, lässt den Ort auf sich wirken und den Roman Das Glasperlenspiel vor seinem inneren Auge vorbeziehen, so wird recht schnell klar, dass Maulbronn die Vorlage für spätere Romane wie Narziß und Goldmund bzw. Das Glasperlenspiel darstellt. Die Gemäuer prägen sich ein und formen damit neue Bilder. Beim Lesen des letzten Romans habe ich mir oft in meiner Fantasie den Orden der Glasperlenspieler „Waldzell“ in dem utopischen Land Kastalien ausgemalt. Hier in Maulbronn stelle ich fest, dass meine Fantasie und die hier vor Ort wahrgenommene Realität nah beieinanderliegen.
Beim Antreten der Rückfahrt entdecken wir am Busbahnhof einen in der Kälte liegenden Mann, um den wir uns kümmern. Zahlreiche Passanten – wie wir beobachten – laufen an ihm vorbei, ohne ihre Hilfe anzubieten. Voila – wir sind zurück in der Wirklichkeit. Eine Woche sind wir eingetaucht in die Magie und Faszination eines der bedeutendsten Autoren und seines umfangreichen Alterswerks „Das Glasperlenspiel“. Wir haben versucht mit seinen Augen zu schauen und mit seinem Denken das Sein neu zu verorten. Wir haben an seinem Grab gesessen und sind seine Wege gegangen. Wir haben versucht, seine Gefühle zu verstehen und seine Sätze ins Hier und Heute zu transportieren. Und wir haben uns von diesem großen Spiel inspirieren lassen, um festzustellen, dass wir uns als Spielmeister mittendrin befinden. Unser gelebtes Liebesleben hat einen neuen Namen: Glasperlenspiel.
„Wenn in diesem Jahr der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Hermann Hesse verliehen wird, so bedarf das keiner Rechtfertigung und Erklärung, sondern ist das Selbstverständlichste, was geschehen konnte. Denn jeder, der das Lebenswerk dieses Dichters etwas eindringlicher kennt, der weiß von der Tatsache, daß seine Worte einmal ein Stück Weltgeschichte gebildet haben und daß er einmal für die Friedenssendung des Geistes sein Ansehen, seine literarische Geltung, sein persönliches Dasein aufs Spiel gesetzt hat.“ (Zitat von Professor Reinhard Buchwald anlässlich der Verleihung des Friedenspreises an Hermann Hesse 1955)
Quellenverzeichnis
Hermann Hesse. Das Glasperlenspiel. Suhrkamp 2015
(1) Das Glasperlenspiel aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(2) https://hhesse.de/werk/das-glasperlenspiel/
(3) Johannes Heiner: „Das Glasperlenspiel erklärt“ in https://www.hermann-hesse.de/
(4) Michael Kleeberg in der FAZ: 70 Jahre „Das Glasperlenspiel“ „Warum nicht alles auserzählen?“ 21.06.2013
(5) Dr. Jürgen Weber: Chinesisches in Hermann Hesses Glasperlenspiel (http://www.drjürgenweber.de/Chinesisches%20im%20Glasperlenspiel.pdf)
(6) Volker Michels: Materialien zu Hermann Hesses „Das Glasperlenspiel“, Suhrkamp 73
(7)Adolph Muschg: Glasperlenspiel und Lebenskunst. Fünf Reden über Hermann Hesse
(8) Dieter Wunderlich in: www.dieterwunderlich.de/Hesse_glasperlenspiel.htm
(9) https://gedankenwelt.de/7-zitate-von-erich-fromm-ueber-die-liebe/
(10) http://www.diekonvivialisten.de/manifest.htm
Außerdem für Recherchen genutzt:
- Ivor Joseph Dvorecky: Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ in https://signaturen-magazin.de/
- Ralph Freeman: Hermann Hesse – Autor der Krisis. Suhrkamp
- Mathias Iven: Hermann Hesse in Montagnola (Menschen und Orte)
- Herbert Schnierle-Lutz: Auf den Spuren von Hermann Hesse