Die Zettel lagern in Karteikästen, fliegen rum oder fristen als digitale Notizen ein Schattendasein. Man nennt das auch freie Zettelwirtschaft.
Die überregionale Tageszeitung ist schnell durchgeblättert; heute nur der alltägliche Schmu, eine Mixtur aus Politzirkus und Gesellschaftstragödie. Übrigens war es die Zeitung von vorgestern, was aber weiter nicht tragisch ist, da es kaum ins Gewicht fällt, in welcher Reihenfolge man Nachrichten liest. Ich habe das Gefühl, manche Meldungen wiederholen sich und so mancher kritische Text hätte auch schon 1984 so oder ähnlich in der Presse stehen können. Möglicherweise ist alles ein einziger Circulus vitiosus. Vielleicht auch wellenförmig oder schlussendlich immer dagewesen? Einen Trump, Putin oder sonstigen Antimenschen gab es immer, nur vielleicht mit anderem Haarschnitt oder Gebet- bzw. Parteibuch.
Kurz vor Schluss auf Seite 15 eine Bemerkung meiner Frau: Dringend lesen und aufbewahren; ein paar Sätze unterstrichen oder mit Rufzeichen versehen. Neben mir liegen noch einige Restposten der Wochenzeitung, sowie einige aus dem Netz gefischte Ausdrucke. Ich bin da etwas oldschool; manche digitale Daten lese ich lieber ausgedruckt in Papierform. Meist klein gedruckt, um Papier zu sparen. Ich überfliege die Leseempfehlung. Es geht um aktuelle Hintergründe zur Whistleblower-Affäre im Zusammenhang mit Snowden. Interessant, ja, aber ich entscheide mich, den Artikel nach dem Lesen zu entsorgen. Es gilt, Schwerpunkte zu setzen. Die Welt und das ihr innewohnende Siechtum ist zu komplex, um alles zu archivieren. In einigen Aktenordner schlummern bereits zahlreiche Texte, fein säuberlich abgeheftet: Alternative Lebensprojekte, Degrowth-Bewegung, Anarchie, Monsanto, Nahrungsmittelspekulation, Neoliberalismus oder Digitalisierung der Demokratie sind die Überschriften und die Zuordnung der Zettel, Notizen und Zeitungsblätter. Sie folgen nicht immer klaren Kriterien. In der Mittwochsausgabe finde ich etwas Brauchbares: Ein Aufsatz über die Leitkultur, von der keiner weiß, was sie leitet und beinhaltet. Ich notiere das Datum, reiße die Seite raus und lege sie neben mich. Auf den Stapel.
Es gab zahlreiche andere Sammelformen, um die verschriftlichten Widerlichkeiten der Jetztzeit zu archivieren, um ihnen an anderen Stellen kritisch begegnen zu können. Im PC schlummert eine umfangreiche digitale Zettelbox mit Ausschnitten, Zitaten, Ausrissen. Nichts verkommen lassen, wer weiß wofür es gut sein kann. Die Computerversion hat sich nicht durchgesetzt. Zu meinen Füßen unter dem Tischchen mit den in Klarsichtfolien abgepackten Zeitungstexten ruht ein alter Karteikasten aus Holz. Darin fein säuberlich gefaltet und themenzentriert abgelegte Artikel zur rechtsradikalen Entwicklung, zur Flüchtlingssituation, Perversion von Grenzen und – hinter die grünen Karteikarten mit handschriftlichen Einträgen gerutscht – Seelenlosigkeit des Gesundheitssystems. Der Artikel ist von 2012 und doch brandaktuell.
Irgendwann las ich einen Roman, in dem es zu Beginn um die Auflösung der Wohnung eines Sonderlings ging, der zeitlebens investigativen Journalismus betrieb. Sein Nachlass bestand vor allem aus unzähligen Stapeln mit Zeitungen, Flugblättern und Schriften. Dazwischen selbst verfasste Brandsätze, Pamphlete gegen das Abtöten des Seins. Zettelwirtschaft. Ein Leben als literarischer Kampf gegen den neuzeitlichen Kannibalismus. Heute werden Menschen anders gefressen. Ich erinnere mich noch, dass mir die Vorstellung in einem Archiv zu leben, beziehungsweise ein solches zu betreiben nicht abstrus, sondern wünschenswert erschien.
Und dann all diese umdenktriebigen, initialentzündlichen Hinweise, scheinbar aus dem Nichts auftauchend, auf wenig sorgfältig herausgetrennten Zeitungsschipseln. Individualanarchismus, Konvivialismus, welch´ entzückenden Begrifflichkeiten einer anderen Welt, als der, die soeben aus den Fugen zu gehen scheint. Obschon: Hatten die Fugen nicht immer schon einen gewaltigen Sprung? Unterstrichen auf einigen Zetteltexten Literaturverweise – Verweise auf Altbekanntes, dass in bevorzugter Regallage zwischen all den Büchern lagert: Fromm, Mitscherlich, Richter oder Jungk, dessen Zukunft schon längst begonnen hat und daher nie aus der Mode kommen wird.
Vielleicht werden unsere Kinder all die Zettel, archiviert oder hinter die Regale gerutscht, eines Tages finden und sich fragen, was damit – um Himmels Willen – geschehen sollte. Vielleicht würden sie aber auch wissen, wozu all das Archivieren bestimmt war. All die verzettelten Texte würden im Papiercontainer landen und bestenfalls geschreddert werden, womit sie wenigstens als Buchstabengehäcksel Fortbestand hätten. Zumindest eine kleine Weile. Neulich haben wir uns selbst noch von Zeitungstexten mit und ohne Unterstreichungen getrennt, da ihr Sinn für die Archivierung nicht mehr nachvollziehbar war. Irgendwas hatten sie bestimmt bedeutet.
Dann und wann entsteht aus dem ein oder anderen Text oder aber aus vielen ein neuer – hier auf Querzeit oder in dem bisher unvollendeten Buch. Und immer wieder stelle ich mir die Frage, warum das alles? Wozu die Arbeit des Sammelns und Schreibens? Wie bestellt flatterte mir ein Artikel über den französischen Soziologen Didier Eribon über den Weg. Darin schreibt er: „Also müssen wir soziale Bewegungen unterstützen und Teil davon sein. Aber auch Bücher schreiben. Teil sein von einer politischen und kulturellen Bewegung. Bewegungen können verändern, was selbstverständlich erscheint in einer Gesellschaft. Man muss das durch Romane, Filme, Theaterstücke zeigen, dass es andere Geschichten und Realitäten gibt.“ Und dann wusste ich wieder, wofür sie gut sind, all die Zettel.