Erotik und Sex als Sprache der Liebe
Schnitzlers Skandal in Wien vor 101 Jahren und seine heutige Aktualität

Eros – ein anderes Wort für die begehrende Liebe aus der altgriechischen Mythologie. Erotik ist also beides: Begehren (Sex) und Erotik (austeilende Fülle des Selbst). Wir müssen uns frei machen von alten moralischen blutleeren Rastern. Schnitzlers Bühnenstück aus dem beginnenden 20sten Jahrhundert hilft uns dabei.

Mein Grund für dieses Thema: Kürzlich las ich in der Süddeutschen Zeitung (13,/14.08.2022) einen Artikel über Schnitzler mit der Überschrift: „Kein Sex ist auch keine Lösung.“ Stimmt. Das stimmt umso mehr, wenn wir in der Überschrift die Negative wegstreichen, dann hieße der Satz: „Sex ist auch eine Lösung.“ Lösung von welchen Problemen? Wir sehen das bei Schnitzler. Die Szenerie ist alt. Aber das Problem immer noch aktuell.

Um ehrlich zu sein – ich habe die Lektüre von Schnitzlers Bühnenstück abgebrochen, weil ich es für langweilig hielt. Es ging immer um das Gleiche: Erotik und Sex scheitern an Gier, Genuss und Gewalt. Muss das sein? Später erfuhr ich den skandalösen Hintergrund, und Skandale interessieren mich. Dann las ich doch noch weiter. Gott sei Dank steckte das Lesezeichen noch.

  1. Erotik-Skandale im deutschsprachigen Raum um die Jahrhundertwende
Gustav Klimt: Der Kuss, Foto Pixabay
Gustav Klimt: Der Kuss, Foto Pixabay

Erotik bzw. Sex waren schon sehr lange Anlass für Skandale. Ich beschränke mich auf Ereignisse im deutschsprachigen Raum, die im Zusammenhang mit Schnitzlers »Reigen« stehen. Hier also die paar Beispiele:

Der Jugendstil: Um die Jahrhundertwende wurden v.a. in Wien Skandale ausgelöst durch die freizügige Darstellung in erotisch aufgeladenen Bildern wie etwa dem berühmten Beethovenfries von Gustav Klimt. Kooperation und Freundschaft mit Egon Schiele prägten die Wiener Sezession, deren Gründer er war.

Femme fatale. Foto Pixabay
Femme fatale. Foto Pixabay

Das fin de siécle und die femme fatale. Im Jugendstil waren Frauen verführerisch. Eine Gegenbewegung zeichnete sich ab: die mehr oder weniger (m.E. damals weniger) emanzipierte Frau. Man nannte sie um die Jahrhundertwende »femme fatale«. Natürlich verführerisch, aber männerverschlingend. Das fin de siécle war eine Epoche von Dekadenz und Leichtlebigkeit. Ein Zitat aus einem der Chansons von Edith Piaf: „Für mich bedeutet Liebe Kampf, große Lügen und ein paar Ohrfeigen“ – fast so wie in ein paar Szenen von Schnitzler.

Sigmund Freud (1856-1939) entwickelte zu Beginn des 20. Jhdt.s die Sexualtheorie als Teil seiner Triebtheorie. Lust ist in der Psyche ein Ort des Unbewussten, in der die Triebe, Bedürfnisse und Affekte verwurzelt sind. Einerseits ist wichtig, diesen Teil des Unbewussten aufzudecken. Andererseits ist eine zügellose Befriedigung der Triebansprüche gefährlich, weil sie eine starke Ichstruktur untergräbt und unvereinbar ist mit einer zivilisierten Gesellschaft. In der freudianischen Psychoanalyse sollen sich der/die Patient*in und sein/e Partner*in dieser Konflikte bewusst werden und entscheiden, was sie warum tun.

Dass auch bei Kindern dieser Sexualtrieb – sicher nicht in koitaler Form, aber als Beziehungsbedürfnis grundgelegt ist – löste in der Neurologen- und Psychologenszene heftige Proteste aus. Das Komische war, dass alle Welt Sexualität verschwieg, aber nicht verstand, dass Sex etwas mit Liebe zu tun hat.

Übrigens, Freud schrieb 1922 an Schnitzler, dass der intuitiv das verstanden hat, wozu er, Freud, viele intensive Studien gebraucht hat.

Warum sind Skandale so wichtig, sie sind doch längst vorbei? Sicher, aber sie sind – wie wir später sehen – ungelöst. Vorher jedoch zurück zu Schnitzler

  1. Schnitzlers »Reigen«

Auf dem Hintergrund dieser Skandale verstehe ich Arthur Schnitzlers Bühnenstück. Weil er davon ausging, dass es einen Sturm von Protesten auslösen würde, wollte er nur 200 Exemplare drucken lassen. Fischer, bei dem er alle seine Werke verlegen ließ, lehnte ab wegen des Veröffentlichungsverbotes in Deutschland. Der Ersatzverlag (Wiener Verlag) übernahm den Druck. Die Entrüstung kochte hoch.

Die Theater-Aufführungen in Berlin (1920) und Wien (1921) brachten Entrüstung, die das Verbot weiterer Aufführungen auslöste. Dieses Stück galt als obszön und Verherrlichung des Ehebruchs. Durch die Freigabe des »Reigen« auf Theaterbühnen erreichte die Schnitzler-Rezeption Anfang der 1980er Jahre – erst nach 70 Jahren? – einen Höhepunkt.

Zu Schnitzlers Drama. In 10 Szenen treten die jeweiligen Sexualpartner auf, ihr Auftritt wird als Dialog der beiden Personen gestaltet.

Warum nennt er sein Stück „Reigen“? Reigen ist eine Tanzform. Die Tanzpartner sind im Kreis aufgestellt und bewegen sich zu dem nebenstehenden Paar mit den üblichen Tanzbewegungen. Letzteres ist natürlich akzeptiert. Nur wenn das Paar sich nicht mehr auf Kommunikation verlässt, sondern sich anderer Formationen bediente, würde das Problem beginnen.

Schnitzler benutzt dieses Bild des Reigens. Warum macht er das? Er benutzt Übliches, um Unübliches geschehen zu lassen. Wenn es jedoch zum Beischlaf kommt, setzt er Pünktchen oder Striche ein. Nicht der Beischlaf ist wichtig, sondern das Ende der Kommunikation.

Wer das Buch lesen möchte, sollte erst bei meinem nächsten Punkt weiterlesen. Hier beginnt eine Kurzbeschreibung des Bühnenstücks. Hier die Beschreibung der 10 Auftritte.

  • Die Dirne und der Soldat

Die Dirne spricht auf der Straße einen Soldaten an, der sich auf dem Heimweg in die Kaserne befindet. Sie überredet sie ihn, bei ihr zu bleiben, und lockt ihn mit den Worten „Geh, bleib jetzt bei mir. Wer weiß, ob wir morgen noch ’s Leben haben.“ Der Soldat spottet über den Namen der Dirne (Leokardia) und macht sich davon, die Dirne flucht dem brutalen Soldaten hinterher.

  • Der Soldat und das Stubenmädchen

Der Soldat (vorheriger Aufzug).und das Stubenmädchen, das Ausgang hat, spazieren spätabends von einem Tanzetablissement im beliebten Wiener Vergnügungspark Prater in die nahegelegenen Auen. Das Mädchen bekommt Angst wegen der vielen Liebespaare und will zurück. Der Soldat macht keine langen Umschweife und verführt sie. Nach dem Koitus möchte der Soldat gleich zurück ins Tanzlokal zu seinen Freunden.

  • Das Stubenmädchen und der junge Herr

Alfred, Sohn aus gutem Hause, ist Samstagnachmittag allein zu Haus, die Eltern sind aufs Land gefahren, nur das Stubenmädchen Marie ist da. Sie sitzt in der Küche und schreibt einen Liebesbrief an den Soldaten (vorheriger Aufzug). Immer wieder lockt der junge Mann Marie mit vorgetäuschten Wünschen aus der Küche zu sich ins Zimmer. Zuletzt gesteht er ihr, dass er sie heimlich beim Entkleiden beobachtet hat, und beginnt sie auszuziehen. Sie wehrt sich pro forma, gibt aber nach.

  • Der junge Herr und die junge Frau

Alfred (vorheriger Aufzug), der junge Herr, hat ein Rendezvous mit Emma, einer verheirateten Frau. Sie ist verschleiert und sehr nervös, bei ihrem Ehebruch entdeckt zu werden. Die beiden hatten schon zuvor im Freien ein Rendezvous, doch diesmal wird es mit Hilfe der Schwester, die als Alibi dient, ernst. Alfred umschwärmt sie mit Liebesschwüren und trägt zuletzt seine Angebetete ins Schlafzimmer. –

  • Die junge Frau und der Gatte

Am selben Tag abends (dies steht nicht eindeutig im Text, kann aber angenommen werden) trifft die junge Frau (vorheriger Aufzug) ihren Ehemann nach einem arbeitsreichen Tag. Er schwadroniert über die Unmoral von Ehebrecherinnen und ihren „oberflächlichen Rausch“. Aber im Bewusstsein seiner moralischen Hoheit, liebt er seine Frau und es kommt zum Beischlaf, weil die Frau Angst hat, ertappt zu werden.

  • Der Gatte und das süße Mädel

Der Ehemann (vorheriger Aufzug) hat ein „süßes Wiener Mädel“ auf der Straße angesprochen und überredet, mit ihm ins Extrazimmer eines Gasthauses zu gehen, wo er ihr ein Abendessen spendiert. Sie genießt den ungewohnten Luxus. Beide belügen einander, er über seinen Wohnort und seine Ehe, sie über ihre Unschuld. Der Gatte berauscht sich an der Jugend des Mädchen und verführt sie. ––– Am Morgen danach wirft der Ehemann ihr vor, ihn zur Untreue verführt zu haben.

  • Das süße Mädel und der Dichter

Der erfolgreiche Dichter hat das süße Mädel (vorheriger Aufzug) nach einem Spaziergang mit zu sich nach Hause genommen. Seine Welt ist die Poesie, ihre der profane Alltag. Inspiriert von ihrer Gegenwart beginnt er zu dichten. Das süße Mädel erzählt über sich, verwendet aber dieselben Geschichten und Ausreden, die sie zuvor beim Ehemann gebraucht hat. Nach einem Klavierspiel verführt er sie. –

  • Der Dichter und die Schauspielerin

Der Dichter (vorheriger Aufzug) und eine Schauspielerin haben fürs Wochenende ein Zimmer in einem Landgasthof reserviert und eine überfällige Affäre begonnen. Nach Ausreizung aller Raffinessen lässt sie ihn schließlich zu sich. – Nach dem Koitus setzt sie ihre Sticheleien fort, im Gegenzug verletzt der Dichter ihre Eitelkeit.

  • Die Schauspielerin und der Graf

Die Schauspielerin (vorheriger Aufzug) liegt im Bett, ist „unpässlich“. Der Graf macht ihr seine Aufwartung. Die Schauspielerin lebt in großen Gesten. In ihrer Misanthropie, die bei ihr dramatische Pose und beim Grafen philosophische Attitüde ist, finden die beiden zu einer Seelenverwandtschaft. Sie verführt ihn auf der Stelle. – Ein erneuts Treffen nach dem Theater lehnt sie zunächst ab beordert ihn nach dem Theater in ihre Wohnung zu neuerlichem Beischlaf.

  • Der Graf und die Dirne

Der Graf (vorheriger Aufzug) erwacht frühmorgens im Zimmer der Dirne und versucht sich an die vergangene, durchzechte Nacht zu erinnern. Er nimmt an, dass er mit dem Mädchen nicht geschlafen hat. Als Leocadia, die Dirne, erwacht, erfährt er, dass sie zwanzig ist und seit einem Jahr in einem Geschäft arbeitet. Ihm hätte ein Kuss gereicht.

Dies ist die einzige Szene, in der das Paar nicht miteinander schläft und in der es folglich kein Nachher gibt.

  1. Meine Deutung: Leitlinien der Erotik

Erotik ist  ein Teil der Sexualität, aber Sexualität ist nicht unbedingt Teil der Erotik. Die gehört zum Leben, Sexualität kann, aber muss nicht dazugehören. Schnitzlers Theaterstück zeigt, wie empfindlich Sexualität ist, wenn sie aus der Erotik ausgegliedert wird.

Dass die Männer meist schlecht wegkommen, verwundert mich als alten Menschen nicht. Zur Ehrenrettung meiner Geschlechtsgenossen kann/will ich nichts beitragen, außer dem Hinweis, dass die Männer meist von einer Frau erzogen und vom kleinen zum großen Macho erzogen werden. Aber das wird von Soziologen und Psychologen sicher besser diskutiert. Nur das überschreitet meine Perspektive.

Was mich das Bühnenstück gelehrt hat, fasse ich hier zusammen:

  • Gewalt verdirbt Erotik und Sex

Michel Foucault sieht Erotik und Sexualität „als Maske der Macht“. Warum? Das Interview, aus dem das Zitat stammt, heißt: »Nein zu König Sex«. Sex regiert die Welt und macht Erotik kaputt. Mir fällt dazu ein:

In dem Interview mit Foucault wird in der Gewaltanwendung ein „Sexraster“ gesehen. Erotik mit oder ohne Sex gerät damit unter dieses Raster.

Verschärfung der Strafen bei sexualisierter Gewalt wäre letztenendes nur eine Art Herumschrauben am Raster, aber keine Lösung, d.h. Befreiung aus dem Raster. Die einzige Lösungsmöglichkeit wäre, uns Menschen die Form der Erotik zuzugestehen, die uns gut erscheint.

  • Geschlechterrollen

Perplex war ich, als mein Schwager mir von dem sog. Lehrerinnen-Zölibat erzählte. Mir fielen die vielen unverheirateten Lehrerinnen auf der Schule ein. Diesem Lehrerinnen-Zölibat liegen (laut Google) folgende Begründungen zugrunde:

Erst 1951 wurde dieser Paragraph im Beamtenrecht gestrichen. Schnee von gestern? Was bleibt ist die Diskriminierung einer Geschlechterrolle. Unterdrücker waren die Männer, aber auch alle, die aus moralischen und weltanschaulichen Gründen Geschlechtern – und nicht ihrem Zusammenleben! – Vorrechte einräumten.

Und genau das, Zusammenleben der Geschlechter, ist unser Problem, das wir nicht lösen können oder wollen. Gehälter der Frauen fallen viel niedriger aus als die der Männer – es ist schwieriger für Frauen, in leitende Positionen zu kommen, v.a. in Dax-notierten Unternehmen – minimalere Renten der Frauen als der Männer, was dann aber zur Existenzkrise führen kann usw.

Fazit: All das hat sicher wenig mit Erotik und Sex zu tun. Wohl aber mit der Rolleneinschätzung. Wenn die EU vorschreibt, dass im Geburtsregister nicht einfach »männlich«, »weiblich« oder »ohne Angabe« (was heißt das?) eingetragen wird, sondern auch »divers« mag ja recht sein, aber das Recht zu Erotik und Sex hat damit nichts zu tun. Zurzeit kämpfen die Betroffenen noch darum. Hat man das Recht, sich für das zu entscheiden, was einem wichtig ist?

  • Erotik und Sex als Generator von Freude und Kommunikation

Im moraltheologischen Doktorandenseminar lernte ich den seltsamen Begriff der „Kringelmoral“ (Modell »Ringelpullover«) kennen: Erotik bis zum Hals bei Verliebten war erlaubt, Oberkörper nur für Verlobte und nach der Ehe auch der Unterkörper. Natürlich war bei Männern der Oberkörper nicht interessant. Wie auch immer: Erotik und Sexualität sah man ja eh nur aus der Perspektive der Männer.

Die Situation – sagen wir nach Foucault wieder „Sexraster“ – hat sich grundlegend geändert. Erotik und Sexualität wurden in der traditionellen Moraltheorie begründet a) mit der Zeugung von Nachwuchs und b) mit dem sozialen Schema eines Eheverbundes. Wir müssen umdenken, beides ist sozial problematisch.

Es fehlten bisher Begründungen durch die Bedeutung für das eigene Leben und das des anderen. Reden wir über solche »privaten« Dinge, die in erotischen Zusammenhängen wichtig sind? Früher (in meiner Generation) gab es das eher überhaupt nicht. Heute ist das sicher besser, aber bestimmt nicht perfekt. Sonst gäbe es all das nicht, was ich im ersten Punkt (Gewalt verdirbt Erotik) aufgezählt habe.

Die beiden Momente von Erotik und Sex sind Freude und Kommunikation. Sie beinhalten folgende Strukturen:

Wenn nötig, dann sind dialogische Begründungen angesagt. Ein paar habe ich gerade vorgeschlagen.

  • Mitgefühl und Respekt in Erotik und Sex

In dem Roman des Sinologen Stephan Thome (»Gott der Barbaren« – die Barbaren sind die Engländer (gemeint: wir Europäer) im Krieg gegen die Chinesen) erwähnte der Autor den Philosophen Wang Fuzhi (1619-82) mit dem großartigen Satz: „Wer kein mitfühlendes Herz hat – ist kein Mensch“. Erotik ist gut, aber wenn wie in Schnitzlers »Reigen« das mitfühlende Herz fehlt, sind einige der Sexpartner wohl eher keine Menschen. Das ist (zu?) hart, gewiss, aber ein Grund für Nachdenklichkeit. Mitfühlen macht Erotik und Sex menschlich, schön und bedeutend.

Übersetzen wir das „mitfühlende Herz“ des alten Chinesen, dann bedeutet das wohl: die Interessen des anderen respektieren. Lange Zeit und v.a. im christlichen Raum war Erotik unerlaubt, weil sie oft zum Sex führt. Und Sex dient nur der Fortpflanzung. Falsch sind das „unerlaubt“ und das „nur“. Erotik und Sex sind Begegnung, Wahrnehmen des anderen, Selbstfindung, sich selbst und den anderen glücklich machen usw.

Zusammengefasst in zwei Sätzen: Erotik und Sex sprechen die Sprache der Liebe. Und das macht sie so wichtig und moralisch so wertvoll.

Literatur: Arthur Schnitzler: Reigen. Zehn Dialoge, Fischer Taschenbuch 2010

Ergänzungen und Kritik unter joillhardt@web.de