Das Zitat des Romantitels erschreckt. Frau Sinha erschreckt mit Absicht. Ihre Praxiserfahrung erklärt die Asylbehörden für „Lügenfabriken“. Besser man erschlüge die armen Leute als sie zu verspotten.
Erschlagt die Flüchtlinge in Moria! Wenn ich den Eiertanz der EU nach dem Brand auf Lesbos bedenke, wäre doch das Problem der EU gelöst. Und wir bräuchten das Blabla der Parteien nicht mehr zu hören. Auch die Weihnachtsansprachen von der Humanität fielen weg. Was machen wir dann, wenn wir versagt haben? Trauern?
Shumona Sinha, die Autorin dieses kurzen Romans mit dem zynisch klingenden Titel „Erschlagt die Armen“, kommt aus Bengalen
(Nordosten des indischen Subkontinents) und hat in Frankreich auf der Sorbonne studiert. Sie war Dolmetscherin in der französischen Einwanderungsbehörde OFPRA („Office français de protection des réfugiés et apatrides“ = französisches Amt zum Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen) in Paris. Hervorragend ist auch die Übersetzung des Romans von Lena Müller. Die nachdenklich machenden, reflektierten, oft wütenden Sätze klingen gut und keineswegs übersetzt. Die deutschen Literaturpreise gelten Autorin und Übersetzerin. Die Kritik am französischen, eben auch am europäischen Asylsystem wurde mit der Entlassung aus dem Amt quittiert. Sie habe das Amt mit seinen Juristen, Beamten und Dolmetschern beleidigt, hieß die Begründung. Andererseits erhielt ihr Roman mehrere französische Preise. Warum die Widersprüche?
Frau Sinha wählte den Titel aus einem kritischen Gedichtband von Michel Baudelaires. Überschrift eines Prosagedichtes (Gedicht ohne Formelemente wie Verse oder Reime) heißt: „Assommons les pauvre“ (= Erschlagt die Armen). Symmetrie der Ereignisse: Nach Veröffentlichung des Gedichtbandes 1865 bekam Baudelaire ein Publikationsverbot mit der Begründung des Ministeriums: Er untergrabe die öffentliche Moral.
Der Titel, den Frau Sinha gewählt hat, ist befremdend, das bedeutet: Der aufregende Titel geht vom Gegenteil aus: vom Elend der sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge und von der Lügenfabrik namens Asylbehörde. Aber auch von der Unterwürfigkeit der Antragsteller. Beides trifft auch das deutsche Asylsystem. Sie karikiert das „Volkstheater“ der Asylsuchenden (Geschichten erfinden) sowie die Einschüchterungsversuche von Anwälten, die die Dolmetscherin auffordern, nur „glatte Sätze“ zu formulieren, Sätze also, die mit dem Plädoyer übereinstimmen.
Da ist zum einen Sinhas schon erwähnte große zeitdiagnostische Sensibilität, die weit über einen Kommentar zum aktuellen Geschehen hinausgeht. Ihr Roman beruht auf Ihren persönlichen Erfahrungen als Dolmetscherin in der französischen Einwanderungsbehörde OFPRA. Der zentrale Begriff der OFPRA „Protektion“ allerdings war im Alltag Ihrer Tätigkeit bedeutungslos. Sie war angestellt als Mittlerin in einem seltsamen Verfahren, in denen Flüchtlinge aus Bangladesch, Pakistan und dem westbengalischen Indien ihren Bleibeantrag stellten. Sie trafen mit all ihren biographischen Brüchen auf Beamte einer Asylbehörde, deren Aufgabe es war, aus Menschen Aktennummern zu machen und der staatlichen Bürokratie willfährig zu sein.
Ein kriminalistisch durchtriebener Beamter wollte den Vorfall aufklären. Sinha schreibt:
„Es handelte sich nicht mehr um eine ungerichtete Aggression im öffentlichen Raum. Er machte sich daran, ein verwinkeltes Gedankenlabyrinth offenzulegen, eine Schlammgrube voll Hass, eine plötzlich hervorbrechende Wut, die erklären konnten, warum eine dunkelhäutige Frau einen dunkelhäutigen Mann angegriffen hatte und ihm den Schädel einschlagen wollte.“
Es bleiben Ungereimtheiten. Klar! Der Beamte verstand nicht, konnte auch nicht verstehen, dass eine Lügenfabrik keinen Zusammenhalt und keine Wertschätzung hervorbringen kann.
Ich verstand den Roman als ein Problem, das ein wirklich gutes Gefühl niemals zurücklässt. Die Antragsteller bleiben Bittsteller, die Asylgeber die Großherzigen oder im Verweigerungsfall die Unbarmherzigen. Das war mein Fazit: Wir bleiben vom Strickmuster der Egomanie gefangen. Kann dieses Ungleichgewicht funktionieren?
Dieser Roman hat etwas Überraschendes. Stellungnahmen zum Problem der Wirtschaftsmigration in den Nachrichten, Dokus im TV, Artikel in den Zeitungen usw. sind zahlreich, aber sie haben nicht das, was Sinha bietet: Die Perspektive der Mitarbeiterin im Asylbüro. Deren Nachdenklichkeit beschäftigt uns.
Details des Romans.
127 Seiten – DTV-Taschenbuch – 10,90 € – 22 Kapitel mit Berichten und Reflexionen über die Dolmetscherarbeit, die Sinha Jahre vor der Kündigung machen musste und betroffen machte. Einerseits logen die Antragsteller, andererseits hatte sie Mitleid mit den „Lügnern“. Verschlimmernd wirkte die herablassende Bewertung durch ihre Kollegen. Ihre Sprache ist gespickt mit Bildern und Metaphern sowie mit spitzen und nachdenklichen Dialogen – alles andere als unser Tatort-Blödsinn. Anfangs klang diese Nachdenklichkeit wie Philosophie, die ich nicht wollte, dann aber wie gedankenvolle Praxis. Die imponiert.
Was sagt uns dieser Roman? Zum besseren Verständnis ein paar Sätze:
- Der Schlag mit der Flasche war „nichts als ein misslungener Dialog“
schreibt Frau Sinha fährt fort: ihre Aggression war „ein Wortwechsel zwischen Taubstummen“. Vielleicht ist der misslungene Dialog die Lösung der Kriminalstory als Rahmenhandlung. Es gibt keine Entschuldigung, das Asylsystem ist misslungen.
Auch hinter dem Titel des Romans, der von Baudelaire stammt, steckt eine Antwort. Nämlich die, dass ein System, das auf den misslungenen Dialog setzt, die Armen gleich erschlagen sollte. Bei Baudelaire gibt es gleichsam ein happy end, nicht bei Sinhas Roman, bei ihr bleibt der Sarkasmus der der Dolmetscherin.
Sinha schreibt:
„Die graue, weinerliche Zone breitete sich wie ein schlechtes Vorzeichen aus, feindlich und schäbig. Arm. […] Dieses Elend ärgerte mich. Seine Hässlichkeit ekelte mich an.“
Kann Elend ärgern? Ja. Es zerstört die Identität des Antragstellers, den Sprung zum Kontakt.
„Das Elend überträgt sich wie eine ansteckende Krankheit. […] Dieses Elend ärgert mich. Seine Hässlichkeit ekelte mich an.“
- Sprechen ist Freiheit
Das würden die psychologisch trainierten Asylbeamten sagen. Gilt das auch, wenn Sprechen eine Art Zwangslüge ist? Antragsteller lügen – besser: müssen lügen -, weil sie einen positiven Bescheid bekommen wollen. Das zerstört die Basis der Dolmetscherin, sie baut auf Freiheit und Sprechen, das befreit. Schlimm, wenn genau das unterlaufen wird, und wenn die Behörde und ihre Bürokratie daraus eine Art „Lügenfabrik“ machen.
Was die Dolmetscherin – und auch uns – irritiert, ist das
„Betongerüst der Ideen. […] Man versuchte, mich in die passende Form zu pressen, mir die Einheitskutte überzuwerfen, mir eine Träne im Augenwinkel zu befestigen.“
- Eine neue Heimat?
Was ist eigentlich Heimat? Sie ist dort, wenn niemand mehr fragt, wo du herkommst schrieb Juli Zeh in einem ihrer Romane. Unerreichbar? Mich hat noch keiner gefragt.
Die Antragsteller sind in der neuen Welt nicht mehr die, die sie einmal waren. Ein Hauch von Fremdheit bleibt. Sie werden zu Abschaum, zu etwas, das niemand will, und „schlagen Wurzeln“ (oder sollen es zumindest) „in einem Land, das sie nicht lieben, aber begehren“.
Im Hintergrund der Befragungen im Asylsystem steht das Ideal des assimilierten Fremden. Aber die Wirklichkeit ist oft anders:
„Sie trugen ihre Heimat, ihr Vaterland, ihre Religion bei sich.“
Akzeptieren wir das? Erschlagen? Immerhin, tausende von Armen sterben im Mittelmeer oder anderswo. Das akzeptieren viele. Assimilation ist ein langer Prozess. Die Rückseite der ‚alten‘ Heimat bleibt
- Verstehen führt zu Liebe, Unverständnis zu Hass
Was wäre die Welt mit den Migranten doch so schnuckelig! Dabei ist das Zusammenleben so schwer. Prof. Metz aus Münster nannte das – in einem lateinamerikanischen Ausdruck – „convivalidat“, d.h. Zusammenleben trotz Distanzen. Frau Sinha erfährt diese Schwierigkeit:
“Wenn lieben verstehen heißt, wird Unverständnis schnell zu Hass. Der Hass, den ich in ihren Augen erahne, ist mein eigener. Meine trotzige Ablehnung ihrer Wahrheit.“
Das bedeutet: Be- oder gar verhindertes Verstehen kann eventuell zugeschütteten Hass auslösen. Warum wird Politik der Migration so wenig von Information und Verstehen begleitet?
- „Man hat weniger Angst vor seinem Spiegelbild“
Angenommen, wir würden eine Umfrage machen, ob man tolerant ist, würden sehr viele mit >ja< antworten. Weniger, aber noch immer viele würden mit >ja< auf die Frage antworten, ob man Fremde akzeptiert. Frau Sinha sieht das eigene Spiegelbild differenzierter:
„Es ist eine Wohltat, Arme und Elende zu stillen [stillen = Bild der Brusternährung eines Babys, FJI]. Nächstenliebe erleichtert das schlechte Gewissen, verringert die Schuldenlast, die man den anderen gegenüber hat. […] Man hat weniger Angst vor dem eigenen Spiegelbild.“
Gutsein reduziert die Angst. Darf ich dann das akzeptieren, was in mir schlecht ist?
Mein Spiegelbild
Was spiegelte sich in mir, als ich diesen Roman las?
Wirtschaftsmigration sieht die EU-Kommission als „heißes Eisen“ der Strategieplanung, ist also noch „under construction“, wie Google sagen würde. Es packt einen die Wut, weil eine erste EU-Stellungnahme (Amtsblatt der europäischen Gemeinschaften vom 17.9.2001) vor beinahe 20 Jahren die Problemlösung in Gang setzen wollte.
Was uns so wütend macht?
- Die Asylentscheidung ist nicht von der Perspektive der Antragsteller geprägt.
- Wirtschaftsmigration hängt von der Lügenfabrik der Behörden ab.
- Ohne Dolmetscher geht es nicht. Sie helfen die Wahrheit der Not der Antragsteller ans Licht zu bringen.
- Die Not der Antragsteller beelendet die Dolmetscher und Entscheider.
- Keinem von uns bleibt ein gutes Gewissen