Die Bücherdiebin
… Buch, Film und die Bedeutung für die heutige Zeit

Buch und Film „Die Bücherdiebin“ von Markus Zusak enthält eine tiefgründige Handlung, die zwar im deutschen Nationalsozialismus spielt, aber deutlich an das heutige gesellschafts-politische Klima erinnert.

Die Bücherdiebin (Foto von DVD)
Die Bücherdiebin (Foto von DVD)

Erst mit etlichen Jahren Verspätung stießen wir auf die 2013 veröffentlichte DVD „Die Bücherdiebin“, eine Literaturverfilmung des gleichnamigen Buchs von Markus Zusak (2006).  Beim Anschauen des Films, der in unserem Fall mangels Fernseher per Beamer auf eine alte Dialeinwand projiziert wird, fiel uns auf, dass wir beide damals auch das Buch gelesen haben, was aber offenbar in Vergessenheit geraten war. Bei Viellesern wie uns kann das schon mal passieren. Es soll hier aber nicht um einen Buch-Film-Vergleich gehen, sondern um die erschreckende Erfahrung, wieviel Jetztzeitphänomene in dem Film stecken, der in den Jahren1938/1939 angesiedelt ist. Zum besseren Verständnis:

1939 ist das Jahr, in dem Deutschland mit einer nie dagewesenen Diskriminierungs- und Unterdrückungspolitik überzogen wird. In einer Rede im Reichstag kündigt Adolf Hitler im Falle eines neuen Weltkrieges die „Vernichtung der jüdischen Rasse“ an. Im Deutschen Reich wird die Demütigung und Diffamierung von Juden mit der Schaffung der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland fortgesetzt. Juden werden aus ihren Häusern vertrieben, geschlagen, ermordet, ihr Eigentum gestohlen und in sogenannte Konzentrationslager deportiert, zudem gibt es sexualisierte Gewalt gegen jüdische Frauen. Verfolgt und eingesperrt wurden ebenfalls andersdenkende Menschen oder solche, die Juden unterstützen. Menschen mit Behinderung werden getötet (Euthanasie). Zudem wird die Kultur gleichgeschaltet, bestimmte Aufführungen z.B. im Theater verboten und unliebsame Bücher verbrannt. Am 1. September 1939 beginnt mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Er kostet in sechs Jahren knapp 60 Millionen Menschen das Leben.

All das sind ein paar Eckdaten. Der AfD-Politiker Alexander Gauland bezeichnete diese entsetzliche Zeit vor ein paar Jahren als „Fliegenschiss“. Aber auch die oft sachlich-analytisch dargestellte Aufarbeitung dieser grausamen Epoche in historischen Übersichten verbirgt häufig das, was es eigentlich war: ein bestialischer Staatsterror der menschenunwürdigsten Sorte. Die Philosophin Hannah Arendt kommentierte u.a. den sinnlosen Massenmord des NS-Regimes:

„Die frühere Grausamkeit der SA-Einheiten, die sich austoben und nach Belieben töten konnten, wurde nun ersetzt durch eine regulierte Todesrate und eine präzise organisierte Folter, bei der es nicht so sehr darauf ankam, den Tod sofort herbeizuführen, als das Opfer in einem permanenten Zustand des Sterbens zu versetzen.“ (1)

Doch zurück zu dem Film, der für mich Aufhänger für die daraus folgenden Überlegungen war. Ich zitiere aus dem Klappentext der DVD, der den Inhalt allerdings nur verkürzt wiedergibt:

„Liesel Meminger ist ein außergewöhnliches und mutiges Mädchen, das während des Zweiten Weltkriegs das Leben der Menschen um sich herum verändert. Als sich ihre Mutter nicht mehr um sie kümmern kann, wird Liesel von dem deutschen Paar Hans und Rosa Hubermann adoptiert. Ermutigt von ihrer neuen Familie lernt Liesel lesen. Als die Hubermanns den jüdischen Flüchtlingsjungen Max aufnehmen und bei sich verstecken, findet Liesel einen Freund. Für die beiden werden die Magie der Wörter und ihre Fantasie zur einzigen Möglichkeit, den turbulenten Ereignissen um sie herum zu entfliehen.“

Zusatz: Als Off-Stimme erzählt der Tod zu Beginn und am Ende und zeigt damit die schrecklichen Ereignisse aus seiner Sichtweise, denn für den Tod ist Krieg immer äußerst lukrativ.

Es sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass das Buch von Zusak als Jugendroman angelegt ist und soviel ich weiß, auch als Medium im schulischen Kontext genutzt wird. Ich finde es müßig, hier in eine Filmkritik einzusteigen. Die Frankfurter Rundschau kritisiert die „seltsam fad wirkenden Straßenszenen und Schulsituationen“, Die Frankfurter Allgemeine Zeitung meint, man nehme „der Stadt den Dreck und den Schutt nicht ab und die Kulissen würden daher künstlich wirken“ (Der Film entstand in den Babelsberger Studios) und auch der SPIEGEL rügt eine zu „gepflegte Inszenierung“. Sei es drum, mich hat der Film emotional sehr berührt. Es überwog bei mir allerdings die Wut, wie wenig wir Menschen aus dem negativen Vorbild einer Zeit des Grauens gelernt haben.

Folgende Aspekte waren mir dabei wichtig:

Die Freuden der Macht

Altes Buch (Foto Arnold Illhardt)
Altes Buch (Foto Arnold Illhardt)

Deutlich wurde in dem Film, dass es anfangs immer ein paar wenige Gestalten sind, die ihren Rotz als Ideologie verpacken und Macht vor Moral stellen: ein sehr erfolgreiches Geschäftsmodell und ein Vorgang, der sich auch in der aktuellen politischen Situation wiederfindet. Natürlich ist die momentan zu ertragene CDU/SPD-Regierung nicht faschistisch, aber deutlich werden Tendenzen, sich den lautesten Brüllern anzubiedern. Es zählen nicht mehr die Stimmen, die ihre Argumente auf wissenschaftlichen und sonst wie evaluierten Erkenntnissen aufbauen, sondern die Denke der Nachplapperer und Dummschwätzer. Fakten werden verdreht oder durch geschickt bzw. (siehe Trump) besonders plump formulierte Lügen ersetzt. Das Volk jubelt trotzdem. Kann man Lügen gut finden?

Durch die komplette AfD-Politik, soweit man den Unsinn als Politik umschreiben kann, zieht sich ein bemerkenswertes Paradoxon: Die Menschen wollen die Wahrheit und akzeptieren Lügen und Falschdarstellungen; die Menschen mokieren, nicht mehr sagen zu können was sie wollen und unterstützen autoritäre Regimes wie Russland oder Ungarn, wo Menschen mit anderen Meinungen unterdrückt oder eingesperrt werden; die Menschen skandieren, dass nichts für den „kleinen Mann“ gemacht werde, wollen aber nicht sehen, dass die AfD soziale Absicherungen abschaffen will usw.

„Dieses Paradox scheint mit einer falschen Selbsteinschätzung vieler AfD-Wähler*innen und mit einer Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Realität zusammenzuhängen.“ (2)

Begibt man sich in die ideologischen Tiefen von Rechtspatrioten bzw. völkisch-nationalen Parteien (z.B. AfD), so wird zunehmend die Demokratie infrage gestellt. Selten liest oder hört man allerdings, wie sich die Antidemokraten eine Alternative vorstellen: Diktatur oder Monarchie? Tatsächlich wird eine autoritäre Führung von vielen deutschen Bundesbürgern gutgeheißen, da man eine starke Hand wünscht. Dass diese „starke Hand“ aber immer gieriger nach Macht verlangt und zu einer totalen Reglementierung und Hörigkeit der Menschen führt, wird ausgeklammert. Die Leute, die sich beschweren, man dürfe in diesem Land nicht mehr seine Meinung sagen (was sie ja in diesem Moment tun!), würden in einer Diktatur ihr blaues Wunder erleben. Die AfD, als treibende Kraft des deutschen Rechtsextremismus arbeitet genau mit solchen Narrativen. Nach außen wird damit gepunktet, dass die Unterdrückung gegen Andersdenkende gerichtet ist, was von vielen beklatscht wird. Doch dass diese Unterdrückung irgendwann auch die AfD-Wähler selbst erlangt, sie unfrei macht und in ihrem Denken einschränkt, wird natürlich unterschlagen. Nirgendwo wird konkret aufgeführt, was „Andersdenken“ bedeutet. So baut sich ein faschistisches Machtsystem langsam auf und endet in dem braun-grauen Sumpf, der auch in der Stimmung des Films ton- bzw. farbangebend ist. Faschismus ist nun mal farblos, nicht bunt. Diese Unfreiheit der Menschen, aber auch die Paradoxie der politischen Entscheidungen kann man in dem Film nachvollziehen. Es könnte ein Vorgeschmack darauf sein, wie Demokratiezersetzung unter einer möglichen AfD-Führung aussehen könnte. Willkommen und viel Spaß im 3. Reich!

Mitläufertum und Hurra-Patrioten

Autoritäre Systeme können nur funktionieren, wenn es genug Menschen gibt, die durch ihr Mitläufertum die Mächtigen unterstützen, und sei es nur dadurch, dass sie diese stillschweigend tolerieren. In einem totalitären Apparat bleibt einem möglicherweise auch nichts anderes übrig. Der Film „Die Bücherdiebin“ zeigt solche Szenen, in denen „unbescholtene“ Bürger im Chor der Konformisten mitsingen bzw. schreien. In einer Szene wird gezeigt, wie Kinder durch die Straßen laufen und sich freuen, dass Deutschland bald Krieg führt und später sieht man, wie sich Männer verabschieden, weil sie eingezogen wurden, um an die Front zu gehen. Es ist erschütternd anzuschauen, wie erwachsene Menschen – auch heute noch – Kriege gutheißen. Sie sind entweder schlichtweg dumm oder wissen genau, dass sie nicht zu den Kriegstüchtigen zählen. Ist es wirklich so attraktiv, sich für sein Land niedermetzeln zu lassen, nur weil idiotische Führer machtbesessen sind? In meiner aktiven Zeit als Kinder- und Jugendpsychologe ging es in Einzel- oder Gruppengesprächen immer wieder mal um den Krieg. Oft stellt man bei den jungen Menschen eine höhere Moralität fest als bei Erwachsenen. So ein 12jähriges Mädchen:

„Krieg ist dumm! Warum spielen die Herrscher nicht gegeneinander Schach, dann müssten keine Männer, Frauen und Kinder sterben?“

Die Antwort, „liebe Untergebenen“, ist ganz einfach: Weil den Herrschern der Mensch scheißegal ist!

Gleichschaltung

In totalitären Regimen ist es nicht erwünscht, Bücher zu lesen, Theaterinszenierungen zu sehen oder Musik zu hören, die mit den jeweils nationalistischen Vorgaben nicht übereinstimmen. Herrscher haben Angst, dass das Volk zu viel denkt. Also Schluss mit schwedischen Krimis, finnischem Metal, französischer Erotik und britischem Humor: Es ist nur noch deutsche Machart erlaubt, was zu einer unglaublichen Ödnis führt bzw. führen würde. Ehemalige Bürger der DDR müssten sich noch an das fade Kulturprogramm erinnern. Meine Bekannten, die dort aufgewachsen sind, erzählen oft von dem „Stumpf-ist-Trumpf-Niveau“ der gleichgeschalteten Ostkultur. In dem besagten Film wird gezeigt, wie ein großer Scheiterhaufen mit Büchern brennt und es ist ein Zeichen von Führertreue, wenn jeder etwas für die öffentliche Zerstörung von Kulturgut beisteuert. Die Frau des stramm nationalistischen Bürgermeisters verfügt über einen ganzen Raum voller kostbarer Bücher, was ebenfalls einen Klassiker des Faschismus darstellt: Die Führer halten sich selbst am allerwenigsten an die Gesetze, die sie unter Androhung von Bestrafung oder gar Todesstrafe dem „dummen“ Volk vorgeben.

Faschismus wird immer durch verschiedene Merkmale charakterisiert. In dem Film lassen sich eine ganze Reihe davon deutlich erkennen:

  • Ausgeprägter und alleingültiger Nationalismus
  • Missachtung der Menschenrechte
  • Schaffung eines gemeinsamen Feindbilds
  • Sexismus und sexualisierte Gewalt
  • Die Rolle der Frau wird abgewertet; deutlich Vormachtstellung des Mannes
  • Kontrollierte Massenmedien; Verbot von unliebsamer Presse und Inhaftierung von kritischen Journalisten*Innen
  • Unterdrückung der Arbeitskräfte, Verbot von Gewerkschaften
  • Missachtung von Forschung und Wissenschaft; Verbot bestimmter Forschungszweige
  • Abschaffung der herkömmlichen Justiz und Einsatz von Willkürbestrafung ohne Gerichtbarkeit
  • Korruption und Vetternwirtschaft
  • Manipulierte Wahlen

Es ist wohl kein Zufall, dass man sich bei diesen Merkmalen an das aktuelle gesellschaftspolitische Klima erinnert fühlt. Es stellt sich allerdings die Frage: Warum unterstützen Menschen ein solches System, wenn sie aus der Vergangenheit wissen, wozu solche Tendenzen führen? In großen Betrieben gibt es Fehleranalysen, um diese künftig zu reduzieren. So gibt es auch Unmengen an soziologischer, psychologischer und politologischer Fachliteratur, die sich mit den Ursachen und Hintergründen von Faschismusentstehung beschäftigen. Es war in der Vergangenheit meist zu spät, erst dann aktiv zu werden, wenn sich oben genannte Merkmale etabliert haben. Daher ist es umso wichtiger, frühzeitig mit massiven Gegenmaßnahmen zu beginnen.

Fazit

Auch wenn SPIEGEL- oder FR-Journalisten im Meckermodus den Film begutachteten (vielleicht stehen sie eher auf spritzendes Blut und dahinsiechende Soldaten in trostlosen Schützengräben), so bleibt schlussendlich festzuhalten: „Die Bücherdiebin“ ist eine ausgezeichnete Grundlage, um in der Schule das Thema Faschismus zu diskutieren. Aber – wie man aktuell in der antidemokratischen Debatte in den sozialen Netzwerken gut beobachten kann – würde es auch so manchem Erwachsenen guttun, zu reflektieren, was Faschismus tatsächlich bedeutet. Vor allem: Wie sich Faschismus auf einen selbst auswirken würde.

„Die Bücherdiebin“ ist natürlich zuvorderst ein recht düsterer Film, der das Grauen und die Brutalität der Nazizeit aufzeigt. Dennoch schafft es der Film, einige sehr positive Aspekte zu transportieren. Er zeigt die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Geistes, die verändernde Kraft der gesagten und geschriebenen Worte, die Bedeutung von Freundschaft und den Glauben an eine positive Macht, die über den dunklen Machenschaften der Menschen steht. Man sollte nach dem Anschauen des Films nicht zur Tagesordnung übergehen, sondern sich fragen, welche Kräfte in einem selbst schlummern, um der durchrohten Gesellschaft positive Gegenentwürfe zu bieten. Das kann, wie in dem Film ebenfalls zu sehen ist, durchaus auch Humor sein. Bei meinen Recherchen und Analysen braun-blauen Gedankenguts fällt mir eine Sache ganz besonders auf: Die Rechtspatrioten sind vor allem eins – komplett humorlos.

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